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Grillparzer, Franz: Sappho. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Wien, 1819.

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Sappho.
Sprichst nicht Wahrheit
Melitta.
Immer! hohe Frau!
Sappho.
Du zählst kaum fünfzehn.
Melitta.
Leicht mag es so seyn.
Sappho.
So jung an Jahren, und sie sollte schon
So reif seyn im Betrug? Es kann nicht seyn,
So sehr nicht widerspricht sich die Natur!
Unmöglich! Nein, ich glaub' es nicht! -- Melitta,
Erinnerst du dich noch des Tages, da
Vor dreyzehn Jahren man dich zu mir brachte?
Es hatten wilde Männer dich geraubt,
Du weintest, jammertest in lauten Klagen.
Mich dauerte der heimathlosen Kleinen,
Ihr Flehen rührte mich, ich both den Preis,
Und schloß dich, selber noch ein kindlich Wesen,
Mit heißer Liebe an die junge Brust.
Man will dich trennen, doch du wichest nicht,
Umfaßtest mit den Händen meinen Nacken,
Bis sie der Schlaf, der tröstungsreiche, löste.
Erinnerst du dich jenes Tages noch?
Melitta.
O könnt' ich jemahls, jemahls ihn vergessen?

Sappho.
Sprichſt nicht Wahrheit
Melitta.
Immer! hohe Frau!
Sappho.
Du zählſt kaum fünfzehn.
Melitta.
Leicht mag es ſo ſeyn.
Sappho.
So jung an Jahren, und ſie ſollte ſchon
So reif ſeyn im Betrug? Es kann nicht ſeyn,
So ſehr nicht widerſpricht ſich die Natur!
Unmöglich! Nein, ich glaub' es nicht! — Melitta,
Erinnerſt du dich noch des Tages, da
Vor dreyzehn Jahren man dich zu mir brachte?
Es hatten wilde Männer dich geraubt,
Du weinteſt, jammerteſt in lauten Klagen.
Mich dauerte der heimathloſen Kleinen,
Ihr Flehen rührte mich, ich both den Preis,
Und ſchloß dich, ſelber noch ein kindlich Weſen,
Mit heißer Liebe an die junge Bruſt.
Man will dich trennen, doch du wicheſt nicht,
Umfaßteſt mit den Händen meinen Nacken,
Bis ſie der Schlaf, der tröſtungsreiche, löſte.
Erinnerſt du dich jenes Tages noch?
Melitta.
O könnt' ich jemahls, jemahls ihn vergeſſen?

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[63/0073] Sappho. Sprichſt nicht Wahrheit Melitta. Immer! hohe Frau! Sappho. Du zählſt kaum fünfzehn. Melitta. Leicht mag es ſo ſeyn. Sappho. So jung an Jahren, und ſie ſollte ſchon So reif ſeyn im Betrug? Es kann nicht ſeyn, So ſehr nicht widerſpricht ſich die Natur! Unmöglich! Nein, ich glaub' es nicht! — Melitta, Erinnerſt du dich noch des Tages, da Vor dreyzehn Jahren man dich zu mir brachte? Es hatten wilde Männer dich geraubt, Du weinteſt, jammerteſt in lauten Klagen. Mich dauerte der heimathloſen Kleinen, Ihr Flehen rührte mich, ich both den Preis, Und ſchloß dich, ſelber noch ein kindlich Weſen, Mit heißer Liebe an die junge Bruſt. Man will dich trennen, doch du wicheſt nicht, Umfaßteſt mit den Händen meinen Nacken, Bis ſie der Schlaf, der tröſtungsreiche, löſte. Erinnerſt du dich jenes Tages noch? Melitta. O könnt' ich jemahls, jemahls ihn vergeſſen?

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Zitationshilfe: Grillparzer, Franz: Sappho. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Wien, 1819, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grillparzer_sappho_1819/73>, abgerufen am 02.05.2024.