XXXVIII. Vieljährige Verrücktheit. Grillenhaft erscheinende, aber mit dem Hauptwahne innerlich verbundene Gewohnheiten. Die B. war zu der Zeit, als ich sie beobachtete, etwa 65 Jahre alt und, so viel man wusste, seit ihrem 16ten Lebensjahre in Irrenanstalten. In ihren Gesten zeigte diese Kranke noch immer Spuren einer besseren Erziehung. Ob sie noch lebende Angehörige hatte, blieb mir unbekannt, da sie Niemand besuchte und mir son- stige Nachrichten fehlten. Ihr früher dunkelblondes, noch immer reiches Haar, war meistens ergraut; ihre Stirn, etwas vorgewölbt, hatte viele Querfalten; ihr Auge, tief liegend, umschattet, von lichtblauer Farbe, war sehr beweglich, im Affect lebhaft glänzend; ihr Gang war gewöhnlich langsam und ohne bestimmte Richtung, da sie immer, so als suche sie etwas, sich in bald grösseren, bald kleineren Halbkreisen bewegte. Sie begrüsste Niemanden erwiederte keinen Gruss, und es geschah nur sehr selten, dass sie, von einer ihr noch nicht bekannten Person begrüsst, aufblickte, den Grüssenden genau betrachtete, dann den Blick schnell wegwandte und zuweilen einige unverständliche Worte murmelte. Sonst erwiederte sie jede an sie gerichtete Anrede mit einigen gewichtigen Schimpf- worten, die sie gewöhnlich, sich allen weiteren Mittheilungen entziehend, mit dem Todesurtheil: "Er soll verbrannt werden," beschloss. Sollte sie gehorchen, so gab es jedesmal heftigere Scenen, die nur die Umgebung störten. Man überliess daher die alte unheilbare Kranke sich selbst, ohne auf ihr, sonst unschädliches Treiben zu achten, da sie ungestört Niemand beleidigte, jede Annäherung sorgsam mied, nur mit sehr dringenden Angelegenheiten beschäftigt schien und sich aus verjährter Gewohnheit in die lange bestehende Hausordnung fügte. Sie schrieb öfter Briefe, die nur aus Anfangsbuchstaben bestanden, immer auf grossem Bo- genformat, und versah sie mit der Aufschrift an die mächtigsten Monarchen der Welt und zugleich an deren Frauen. Einige Bogen recht grosses Papierformat und ein Paar Schreibfedern nahm sie immer mit der Geberde gütiger Herablassung an, obgleich sie niemals dafür dankte und den Geber gewöhnlich sogleich verliess. Aus einem ziemlich starken Convolut ihrer Briefe entnahm ich, nicht ohne Mühe, über ihre Vorstellungen Folgendes: Die alte B. hielt sich für eine Königin, Tochter der Sonne und nahe Verwandte und Freundin aller Monarchen. Sie hoffte, in einer goldenen Kutsche, mit sechs Pferden bespannt, abgeholt zu werden. An den Beherrscher der hohen Pforte und seine Gemahlin waren die meisten Briefe gerichtet. Die Briefe an die Monarchen, die sie fast regelmässig drei bis viermal jährlich schrieb (denn ausserdem schrieb sie auch an Strafbehörden der Erde und an die allgemeine Scharfrichterei der Welt), erhielten gewöhnlich Gesuche und bestimmte Befehle, diejenigen verbrennen zu lassen, die sie in ihren Beschäf- tigungen mehrmals, und vielleicht mit Absicht, gestört hatten. War ihr der Name und Stand eines also Verurtheilten unbekannt, so gab sie eine so genaue Beschreibung der erwähnten Person, nach ihrer Kleidung und ihren Gewohnheiten, dass der Bezeichnete wohl zu erkennen war, damit die hohen Monarchen nur keinen Fehlgriff begehen sollten. War Jemand in einem solchen Schreiben von ihr zum Verbrennen verurtheilt, so wiederholte sie diesem jedesmal ihr Urtheil, wenn er sie ansah oder anredete. Begnadigung war von ihr nicht mehr zu erlangen. Diese Kranke war, wie schon erwähnt, eine Sammlerin von unge- wöhnlicher Ausdauer. Nur an strengen Winter- und Regentagen unterliess sie dieses Sammeln, wenn aber die Sonne schien, war sie während der Erholungs- stunden im Irrengarten am thätigsten. In ihr Geschäft ganz vertieft, sammelte
Beispiele von
XXXVIII. Vieljährige Verrücktheit. Grillenhaft erscheinende, aber mit dem Hauptwahne innerlich verbundene Gewohnheiten. Die B. war zu der Zeit, als ich sie beobachtete, etwa 65 Jahre alt und, so viel man wusste, seit ihrem 16ten Lebensjahre in Irrenanstalten. In ihren Gesten zeigte diese Kranke noch immer Spuren einer besseren Erziehung. Ob sie noch lebende Angehörige hatte, blieb mir unbekannt, da sie Niemand besuchte und mir son- stige Nachrichten fehlten. Ihr früher dunkelblondes, noch immer reiches Haar, war meistens ergraut; ihre Stirn, etwas vorgewölbt, hatte viele Querfalten; ihr Auge, tief liegend, umschattet, von lichtblauer Farbe, war sehr beweglich, im Affect lebhaft glänzend; ihr Gang war gewöhnlich langsam und ohne bestimmte Richtung, da sie immer, so als suche sie etwas, sich in bald grösseren, bald kleineren Halbkreisen bewegte. Sie begrüsste Niemanden erwiederte keinen Gruss, und es geschah nur sehr selten, dass sie, von einer ihr noch nicht bekannten Person begrüsst, aufblickte, den Grüssenden genau betrachtete, dann den Blick schnell wegwandte und zuweilen einige unverständliche Worte murmelte. Sonst erwiederte sie jede an sie gerichtete Anrede mit einigen gewichtigen Schimpf- worten, die sie gewöhnlich, sich allen weiteren Mittheilungen entziehend, mit dem Todesurtheil: „Er soll verbrannt werden,“ beschloss. Sollte sie gehorchen, so gab es jedesmal heftigere Scenen, die nur die Umgebung störten. Man überliess daher die alte unheilbare Kranke sich selbst, ohne auf ihr, sonst unschädliches Treiben zu achten, da sie ungestört Niemand beleidigte, jede Annäherung sorgsam mied, nur mit sehr dringenden Angelegenheiten beschäftigt schien und sich aus verjährter Gewohnheit in die lange bestehende Hausordnung fügte. Sie schrieb öfter Briefe, die nur aus Anfangsbuchstaben bestanden, immer auf grossem Bo- genformat, und versah sie mit der Aufschrift an die mächtigsten Monarchen der Welt und zugleich an deren Frauen. Einige Bogen recht grosses Papierformat und ein Paar Schreibfedern nahm sie immer mit der Geberde gütiger Herablassung an, obgleich sie niemals dafür dankte und den Geber gewöhnlich sogleich verliess. Aus einem ziemlich starken Convolut ihrer Briefe entnahm ich, nicht ohne Mühe, über ihre Vorstellungen Folgendes: Die alte B. hielt sich für eine Königin, Tochter der Sonne und nahe Verwandte und Freundin aller Monarchen. Sie hoffte, in einer goldenen Kutsche, mit sechs Pferden bespannt, abgeholt zu werden. An den Beherrscher der hohen Pforte und seine Gemahlin waren die meisten Briefe gerichtet. Die Briefe an die Monarchen, die sie fast regelmässig drei bis viermal jährlich schrieb (denn ausserdem schrieb sie auch an Strafbehörden der Erde und an die allgemeine Scharfrichterei der Welt), erhielten gewöhnlich Gesuche und bestimmte Befehle, diejenigen verbrennen zu lassen, die sie in ihren Beschäf- tigungen mehrmals, und vielleicht mit Absicht, gestört hatten. War ihr der Name und Stand eines also Verurtheilten unbekannt, so gab sie eine so genaue Beschreibung der erwähnten Person, nach ihrer Kleidung und ihren Gewohnheiten, dass der Bezeichnete wohl zu erkennen war, damit die hohen Monarchen nur keinen Fehlgriff begehen sollten. War Jemand in einem solchen Schreiben von ihr zum Verbrennen verurtheilt, so wiederholte sie diesem jedesmal ihr Urtheil, wenn er sie ansah oder anredete. Begnadigung war von ihr nicht mehr zu erlangen. Diese Kranke war, wie schon erwähnt, eine Sammlerin von unge- wöhnlicher Ausdauer. Nur an strengen Winter- und Regentagen unterliess sie dieses Sammeln, wenn aber die Sonne schien, war sie während der Erholungs- stunden im Irrengarten am thätigsten. In ihr Geschäft ganz vertieft, sammelte
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Beispiele von
XXXVIII. Vieljährige Verrücktheit. Grillenhaft erscheinende,
aber mit dem Hauptwahne innerlich verbundene Gewohnheiten. Die
B. war zu der Zeit, als ich sie beobachtete, etwa 65 Jahre alt und, so viel man
wusste, seit ihrem 16ten Lebensjahre in Irrenanstalten. In ihren Gesten zeigte
diese Kranke noch immer Spuren einer besseren Erziehung. Ob sie noch lebende
Angehörige hatte, blieb mir unbekannt, da sie Niemand besuchte und mir son-
stige Nachrichten fehlten. Ihr früher dunkelblondes, noch immer reiches Haar,
war meistens ergraut; ihre Stirn, etwas vorgewölbt, hatte viele Querfalten; ihr
Auge, tief liegend, umschattet, von lichtblauer Farbe, war sehr beweglich, im
Affect lebhaft glänzend; ihr Gang war gewöhnlich langsam und ohne bestimmte
Richtung, da sie immer, so als suche sie etwas, sich in bald grösseren, bald
kleineren Halbkreisen bewegte. Sie begrüsste Niemanden erwiederte keinen Gruss,
und es geschah nur sehr selten, dass sie, von einer ihr noch nicht bekannten
Person begrüsst, aufblickte, den Grüssenden genau betrachtete, dann den Blick
schnell wegwandte und zuweilen einige unverständliche Worte murmelte. Sonst
erwiederte sie jede an sie gerichtete Anrede mit einigen gewichtigen Schimpf-
worten, die sie gewöhnlich, sich allen weiteren Mittheilungen entziehend, mit
dem Todesurtheil: „Er soll verbrannt werden,“ beschloss. Sollte sie gehorchen,
so gab es jedesmal heftigere Scenen, die nur die Umgebung störten. Man überliess
daher die alte unheilbare Kranke sich selbst, ohne auf ihr, sonst unschädliches
Treiben zu achten, da sie ungestört Niemand beleidigte, jede Annäherung sorgsam
mied, nur mit sehr dringenden Angelegenheiten beschäftigt schien und sich aus
verjährter Gewohnheit in die lange bestehende Hausordnung fügte. Sie schrieb
öfter Briefe, die nur aus Anfangsbuchstaben bestanden, immer auf grossem Bo-
genformat, und versah sie mit der Aufschrift an die mächtigsten Monarchen der
Welt und zugleich an deren Frauen. Einige Bogen recht grosses Papierformat
und ein Paar Schreibfedern nahm sie immer mit der Geberde gütiger Herablassung
an, obgleich sie niemals dafür dankte und den Geber gewöhnlich sogleich verliess.
Aus einem ziemlich starken Convolut ihrer Briefe entnahm ich, nicht ohne Mühe,
über ihre Vorstellungen Folgendes: Die alte B. hielt sich für eine Königin,
Tochter der Sonne und nahe Verwandte und Freundin aller Monarchen. Sie hoffte,
in einer goldenen Kutsche, mit sechs Pferden bespannt, abgeholt zu werden. An
den Beherrscher der hohen Pforte und seine Gemahlin waren die meisten Briefe
gerichtet. Die Briefe an die Monarchen, die sie fast regelmässig drei bis viermal
jährlich schrieb (denn ausserdem schrieb sie auch an Strafbehörden der Erde und
an die allgemeine Scharfrichterei der Welt), erhielten gewöhnlich Gesuche und
bestimmte Befehle, diejenigen verbrennen zu lassen, die sie in ihren Beschäf-
tigungen mehrmals, und vielleicht mit Absicht, gestört hatten. War ihr der
Name und Stand eines also Verurtheilten unbekannt, so gab sie eine so genaue
Beschreibung der erwähnten Person, nach ihrer Kleidung und ihren Gewohnheiten,
dass der Bezeichnete wohl zu erkennen war, damit die hohen Monarchen nur
keinen Fehlgriff begehen sollten. War Jemand in einem solchen Schreiben von
ihr zum Verbrennen verurtheilt, so wiederholte sie diesem jedesmal ihr Urtheil,
wenn er sie ansah oder anredete. Begnadigung war von ihr nicht mehr zu
erlangen. Diese Kranke war, wie schon erwähnt, eine Sammlerin von unge-
wöhnlicher Ausdauer. Nur an strengen Winter- und Regentagen unterliess sie
dieses Sammeln, wenn aber die Sonne schien, war sie während der Erholungs-
stunden im Irrengarten am thätigsten. In ihr Geschäft ganz vertieft, sammelte
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/282>, abgerufen am 29.11.2024.
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