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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Mängel der nationalen Kindererziehung

rotten sprachen, die als Vertriebene häufig Hauslehrer oder auch Schul¬
lehrer wurden. Noch heute ist man in Arles in der "Provangße", und hört-
dort die Leute sprechen: "mängtenang" (rinn'nteimni). Findet also hierin die
"Unfähigkeit" des Berliners, "richtig" Französisch zu sprechen, eine sehr natür¬
liche Erklärung, so ist überdies zu sagen, daß es auch hier wiederum nicht nur,
die "dummen" Berliner oder "Preußen" sind, welche diese Angewohnheit haben,
sondern in ganz demselben Maße auch die Thüringer und die Sachsen.

Aus diesen Beispielen, deren Erörterung wegen des allgemeineren Inter¬
esses, welches sie haben, vielleicht erlaubt war, sehen wir, daß Wortgebräuche und
mundartliche Eigenarten meistens geschichtlich oder physiologisch zu erklären sind.
Was aber eine innere Begründung hat, ist nicht ohne weiteres falsch. Nament¬
lich aber soll niemand mit Steinen werfen, der im Glashause sitzt.

Deshalb ist es widersinnig, einer gesunden und lebhaften Schwäbin, oder
einer behäbigen Badenserin, die im breitesten Dialekt über die -s^f Preußen und
Norddeutschen herzieht, Recht geben.zu sollen, wenn sie deren "falsches" oder
"lächerliches" Deutsch anfeindet, indem sie das Ihrige anwendet und für richtig
hält. Es ist für mehr als fünfzig Millionen Deutsche höchst sonderbar, und für
die Aussprache unserer Theater- und Schulsprache keineswegs maßgebend oder vor¬
bildlich! Man könnte den Spieß schmerzlich umdrehen!

Aber gerade diese Dinge benutzt man im Süden als bequeme Hand¬
habe, Berlin, Preußen, den Norden überhaupt lächerlich zu machen und seinen
selbstgefälligen Geringschätzung damit Ausdruck zu verleihen. --

Selbsterkenntnis und richtige Selbsteinschätzung bei den Erwachsenen -- was
freilich Bildung voraussetzt, -- ehrliche Selbstbefragung, ob sie das, worüber sie
aburteilen, eigentlich selbst in seinem Wesen begreifen, wären die Grundlagen,
die hier -- anstatt der schlechten -- zur vesseren Gewohnheit führen müßten.

I n d i e s e in G e i se e aber müßte dieKind er erzieh ung zur natio¬
nalen Pflicht gemacht werden.

Die den Kindern sozusagen eingeimpfte Feindschaft gegen alle anderen,,
namentlich aber gegen den -- nicht aus Gründen mangelnder Intelligenz! --
so lange führenden und weitaus größten Teil der Nation ist eine große Un¬
tugend, und folgenschwer dazu. Sie entstammt wirklicher Unbildung.
Sie ist aber mehr: alberne Oberflächlichkeit und eine politische Dummheit.

Denn ovum soll es führen, und welchen Zweck hat es eigentlich, sich
immerfort zu brüsten, indem man die anderen mit Gift, Galle, Spott und Hohn
befeindet und heruntersetzt, und bei Gelegenheit dann doch mit Schiller ruft:
Seid einig?

Hier zeigt sich so recht unser kleinstaatlichcs Elend und unsere deutsche Ge¬
dankenlosigkeit, sowie der Mangel an nationalem Selbstbewußtsein gegenüber dem
wirklich Fremden. Zusammengehörigkeit kann aus diesem Treiben
in den Familien, an den Stammtischen und leider auch öfters in den Schulen,
wo verbissene Lehrer ihrem unvergessenen 1866er Preußenhaß freien Lauf lassen,
nie entstehen. Nur das Gegenteil. Und deshalb ist es Pfli'ehe eines jeden
Erwachsenen, der ein guter Deutscher zu sein bestrebt ist, und jeder
M u't t e r, die 'beim Wiederaufbau und an der Gesundung'Deutschlands mit¬
helfen will, im Sinne gut deutscher Kindererziehung das Beste zu leisten, und der


Mängel der nationalen Kindererziehung

rotten sprachen, die als Vertriebene häufig Hauslehrer oder auch Schul¬
lehrer wurden. Noch heute ist man in Arles in der „Provangße", und hört-
dort die Leute sprechen: „mängtenang" (rinn'nteimni). Findet also hierin die
„Unfähigkeit" des Berliners, „richtig" Französisch zu sprechen, eine sehr natür¬
liche Erklärung, so ist überdies zu sagen, daß es auch hier wiederum nicht nur,
die „dummen" Berliner oder „Preußen" sind, welche diese Angewohnheit haben,
sondern in ganz demselben Maße auch die Thüringer und die Sachsen.

Aus diesen Beispielen, deren Erörterung wegen des allgemeineren Inter¬
esses, welches sie haben, vielleicht erlaubt war, sehen wir, daß Wortgebräuche und
mundartliche Eigenarten meistens geschichtlich oder physiologisch zu erklären sind.
Was aber eine innere Begründung hat, ist nicht ohne weiteres falsch. Nament¬
lich aber soll niemand mit Steinen werfen, der im Glashause sitzt.

Deshalb ist es widersinnig, einer gesunden und lebhaften Schwäbin, oder
einer behäbigen Badenserin, die im breitesten Dialekt über die -s^f Preußen und
Norddeutschen herzieht, Recht geben.zu sollen, wenn sie deren „falsches" oder
„lächerliches" Deutsch anfeindet, indem sie das Ihrige anwendet und für richtig
hält. Es ist für mehr als fünfzig Millionen Deutsche höchst sonderbar, und für
die Aussprache unserer Theater- und Schulsprache keineswegs maßgebend oder vor¬
bildlich! Man könnte den Spieß schmerzlich umdrehen!

Aber gerade diese Dinge benutzt man im Süden als bequeme Hand¬
habe, Berlin, Preußen, den Norden überhaupt lächerlich zu machen und seinen
selbstgefälligen Geringschätzung damit Ausdruck zu verleihen. —

Selbsterkenntnis und richtige Selbsteinschätzung bei den Erwachsenen — was
freilich Bildung voraussetzt, — ehrliche Selbstbefragung, ob sie das, worüber sie
aburteilen, eigentlich selbst in seinem Wesen begreifen, wären die Grundlagen,
die hier — anstatt der schlechten — zur vesseren Gewohnheit führen müßten.

I n d i e s e in G e i se e aber müßte dieKind er erzieh ung zur natio¬
nalen Pflicht gemacht werden.

Die den Kindern sozusagen eingeimpfte Feindschaft gegen alle anderen,,
namentlich aber gegen den — nicht aus Gründen mangelnder Intelligenz! —
so lange führenden und weitaus größten Teil der Nation ist eine große Un¬
tugend, und folgenschwer dazu. Sie entstammt wirklicher Unbildung.
Sie ist aber mehr: alberne Oberflächlichkeit und eine politische Dummheit.

Denn ovum soll es führen, und welchen Zweck hat es eigentlich, sich
immerfort zu brüsten, indem man die anderen mit Gift, Galle, Spott und Hohn
befeindet und heruntersetzt, und bei Gelegenheit dann doch mit Schiller ruft:
Seid einig?

Hier zeigt sich so recht unser kleinstaatlichcs Elend und unsere deutsche Ge¬
dankenlosigkeit, sowie der Mangel an nationalem Selbstbewußtsein gegenüber dem
wirklich Fremden. Zusammengehörigkeit kann aus diesem Treiben
in den Familien, an den Stammtischen und leider auch öfters in den Schulen,
wo verbissene Lehrer ihrem unvergessenen 1866er Preußenhaß freien Lauf lassen,
nie entstehen. Nur das Gegenteil. Und deshalb ist es Pfli'ehe eines jeden
Erwachsenen, der ein guter Deutscher zu sein bestrebt ist, und jeder
M u't t e r, die 'beim Wiederaufbau und an der Gesundung'Deutschlands mit¬
helfen will, im Sinne gut deutscher Kindererziehung das Beste zu leisten, und der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/382>, abgerufen am 22.12.2024.