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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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Hundert Jahre Berliner Schauspielhaus

Das Schicksal dieses Entwurfs, mit dem die Idee des deutschen National¬
theaters zur höchsten Entfaltung kam und die man mit Recht das ergänzende
Gegenstück zu Fichtes großem Erziehungsprogramm genannt hat, ist bald genug
zum Schicksal des deutschen Theaters geworden, nicht zum mindesten aber der
Bühne, die wie keine zweite dazu berufen gewesen wäre, das aufsteigende Leben
der Nation in ihren Leistungen wiederzuspiegeln. Mit so mancher anderen
Reform scheiterte auch die beabsichtigte Reorganisation des Theaters an der allzu
früh einsetzenden Gegenbewegung 'und am Widerstande Ifflands, der das junge
Berliner "Nationaltheater" zwar soeben erst konsolidiert und zu rascher Blüte
gebracht hatte, dessen Verständnis jedoch angesichts einer Aufgabe von so grund¬
sätzlicher Bedeutung versagte. Schon zwei Jahre später fiel das Gesetz, indem
die veränderte Bestimmung der Verfassung das Theater unter die öffentlichen An¬
stalten "zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen" einordnete und es als Gewerbe
unter Polizeiaufsicht stellte. Eine nicht wiederkehrende Gelegenheit war versäumt
und ein Prinzip anerkannt, das unser Thcaterleben bis zur Stunde unheilvoll
beherrscht hat. Über diese Thatfache konnte auch die äußerlich glänzende Entwick¬
lung nicht hinwegtäuschen, die das derzeit vornehmste Institut, das einstige
Berliner "Nationaltheater" und nunmehrige Königliche Schauspielhaus einschlug,
zumal als es nach dem Brande von 1817 vier Jahre später von Schinkels Hand
in klassischer Schönheit neu erstand. Verheißungsvoll genug ließ es sich ja an,
als es am 26. Mai 1821 mit Goethes Iphigenie und begleitet mit dem besonderen
Segen des Altmeisters seine Pforten wieder öffnete. Der herrliche Bau am
Gendarmenmarkt, der Zeuge eines das Bewußtsein der Zeit mächtig erhebenden
Stilwillens, schien ausersehen, dem wieder erwachten, unendlich bereicherten natio¬
nalen Ethos würdigen Ausdruck zu verleihen.

Aber bald zeigte sich, wie wenig man die Forderungen der Zeit verstand.
Unter der Leitung kunstfremder Bürokraten zehrte man zuerst vom alten Ruhme,
um dann, in dem Maße, als der so mühsam erstarkte Kulturwille der Nation sich
wieder in seine disparaten Elemente auflöste, dem herrschenden Tagesgeschmack zu
dienen. Ja. man war hier nicht einmal fähig, was man doch dank seiner be¬
vorzugten Stellung ohne große Mühe hätte erreichen können, dem immer ausge¬
dehnteren Wettbewerb der Geschäftstheater mit allen seinen Auswüchsen durch
eine konservative Theaterpolittk die Wage zu halten und an einem stehenden,
klassischen Repertoire einen festen traditionellen Kunftstil zu entwickeln, ein Ruhm,
den man unbedenklich an das unter glücklicheren Auspizien aufstrebende Vurg-
theater abtrat. Ohne den mahnenden Stimmen einer großen Vergangenheit
Gehör zu schenken und ohne den gebieterisch heischenden Bedürfnissen einer vor¬
wärts drängenden Entwicklung zu genügen, verfiel die verantwortungsreichste
Bühne des Reiches zunehmender Erstarrung. Die Idee des Nationaltheaters,
einst mit so großen Hoffnungen begrüßt, schien begraben und vergessen.

Die Sehnsucht danach freilich lebte unbefriedigt weiter. Sie war da und
wuchs, genährt durch eine unermüdliche Kritik, je weiter die gesellschaftliche Zer¬
setzung um sich griff und je weniger man ihr an maßgebender Stelle und überall
dort, wo man im Fahrwasser Berlins segelte, zu steuern wußte. Wann immer
im Verlaufe des Jahrhunderts der nationale Gedanke sich lebhafter regte, versuchte
man dort wieder anzuknüpfen, wo die organische Entwicklung so jäh abgebrochen


Hundert Jahre Berliner Schauspielhaus

Das Schicksal dieses Entwurfs, mit dem die Idee des deutschen National¬
theaters zur höchsten Entfaltung kam und die man mit Recht das ergänzende
Gegenstück zu Fichtes großem Erziehungsprogramm genannt hat, ist bald genug
zum Schicksal des deutschen Theaters geworden, nicht zum mindesten aber der
Bühne, die wie keine zweite dazu berufen gewesen wäre, das aufsteigende Leben
der Nation in ihren Leistungen wiederzuspiegeln. Mit so mancher anderen
Reform scheiterte auch die beabsichtigte Reorganisation des Theaters an der allzu
früh einsetzenden Gegenbewegung 'und am Widerstande Ifflands, der das junge
Berliner „Nationaltheater" zwar soeben erst konsolidiert und zu rascher Blüte
gebracht hatte, dessen Verständnis jedoch angesichts einer Aufgabe von so grund¬
sätzlicher Bedeutung versagte. Schon zwei Jahre später fiel das Gesetz, indem
die veränderte Bestimmung der Verfassung das Theater unter die öffentlichen An¬
stalten „zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen" einordnete und es als Gewerbe
unter Polizeiaufsicht stellte. Eine nicht wiederkehrende Gelegenheit war versäumt
und ein Prinzip anerkannt, das unser Thcaterleben bis zur Stunde unheilvoll
beherrscht hat. Über diese Thatfache konnte auch die äußerlich glänzende Entwick¬
lung nicht hinwegtäuschen, die das derzeit vornehmste Institut, das einstige
Berliner „Nationaltheater" und nunmehrige Königliche Schauspielhaus einschlug,
zumal als es nach dem Brande von 1817 vier Jahre später von Schinkels Hand
in klassischer Schönheit neu erstand. Verheißungsvoll genug ließ es sich ja an,
als es am 26. Mai 1821 mit Goethes Iphigenie und begleitet mit dem besonderen
Segen des Altmeisters seine Pforten wieder öffnete. Der herrliche Bau am
Gendarmenmarkt, der Zeuge eines das Bewußtsein der Zeit mächtig erhebenden
Stilwillens, schien ausersehen, dem wieder erwachten, unendlich bereicherten natio¬
nalen Ethos würdigen Ausdruck zu verleihen.

Aber bald zeigte sich, wie wenig man die Forderungen der Zeit verstand.
Unter der Leitung kunstfremder Bürokraten zehrte man zuerst vom alten Ruhme,
um dann, in dem Maße, als der so mühsam erstarkte Kulturwille der Nation sich
wieder in seine disparaten Elemente auflöste, dem herrschenden Tagesgeschmack zu
dienen. Ja. man war hier nicht einmal fähig, was man doch dank seiner be¬
vorzugten Stellung ohne große Mühe hätte erreichen können, dem immer ausge¬
dehnteren Wettbewerb der Geschäftstheater mit allen seinen Auswüchsen durch
eine konservative Theaterpolittk die Wage zu halten und an einem stehenden,
klassischen Repertoire einen festen traditionellen Kunftstil zu entwickeln, ein Ruhm,
den man unbedenklich an das unter glücklicheren Auspizien aufstrebende Vurg-
theater abtrat. Ohne den mahnenden Stimmen einer großen Vergangenheit
Gehör zu schenken und ohne den gebieterisch heischenden Bedürfnissen einer vor¬
wärts drängenden Entwicklung zu genügen, verfiel die verantwortungsreichste
Bühne des Reiches zunehmender Erstarrung. Die Idee des Nationaltheaters,
einst mit so großen Hoffnungen begrüßt, schien begraben und vergessen.

Die Sehnsucht danach freilich lebte unbefriedigt weiter. Sie war da und
wuchs, genährt durch eine unermüdliche Kritik, je weiter die gesellschaftliche Zer¬
setzung um sich griff und je weniger man ihr an maßgebender Stelle und überall
dort, wo man im Fahrwasser Berlins segelte, zu steuern wußte. Wann immer
im Verlaufe des Jahrhunderts der nationale Gedanke sich lebhafter regte, versuchte
man dort wieder anzuknüpfen, wo die organische Entwicklung so jäh abgebrochen


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[0245] Hundert Jahre Berliner Schauspielhaus Das Schicksal dieses Entwurfs, mit dem die Idee des deutschen National¬ theaters zur höchsten Entfaltung kam und die man mit Recht das ergänzende Gegenstück zu Fichtes großem Erziehungsprogramm genannt hat, ist bald genug zum Schicksal des deutschen Theaters geworden, nicht zum mindesten aber der Bühne, die wie keine zweite dazu berufen gewesen wäre, das aufsteigende Leben der Nation in ihren Leistungen wiederzuspiegeln. Mit so mancher anderen Reform scheiterte auch die beabsichtigte Reorganisation des Theaters an der allzu früh einsetzenden Gegenbewegung 'und am Widerstande Ifflands, der das junge Berliner „Nationaltheater" zwar soeben erst konsolidiert und zu rascher Blüte gebracht hatte, dessen Verständnis jedoch angesichts einer Aufgabe von so grund¬ sätzlicher Bedeutung versagte. Schon zwei Jahre später fiel das Gesetz, indem die veränderte Bestimmung der Verfassung das Theater unter die öffentlichen An¬ stalten „zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen" einordnete und es als Gewerbe unter Polizeiaufsicht stellte. Eine nicht wiederkehrende Gelegenheit war versäumt und ein Prinzip anerkannt, das unser Thcaterleben bis zur Stunde unheilvoll beherrscht hat. Über diese Thatfache konnte auch die äußerlich glänzende Entwick¬ lung nicht hinwegtäuschen, die das derzeit vornehmste Institut, das einstige Berliner „Nationaltheater" und nunmehrige Königliche Schauspielhaus einschlug, zumal als es nach dem Brande von 1817 vier Jahre später von Schinkels Hand in klassischer Schönheit neu erstand. Verheißungsvoll genug ließ es sich ja an, als es am 26. Mai 1821 mit Goethes Iphigenie und begleitet mit dem besonderen Segen des Altmeisters seine Pforten wieder öffnete. Der herrliche Bau am Gendarmenmarkt, der Zeuge eines das Bewußtsein der Zeit mächtig erhebenden Stilwillens, schien ausersehen, dem wieder erwachten, unendlich bereicherten natio¬ nalen Ethos würdigen Ausdruck zu verleihen. Aber bald zeigte sich, wie wenig man die Forderungen der Zeit verstand. Unter der Leitung kunstfremder Bürokraten zehrte man zuerst vom alten Ruhme, um dann, in dem Maße, als der so mühsam erstarkte Kulturwille der Nation sich wieder in seine disparaten Elemente auflöste, dem herrschenden Tagesgeschmack zu dienen. Ja. man war hier nicht einmal fähig, was man doch dank seiner be¬ vorzugten Stellung ohne große Mühe hätte erreichen können, dem immer ausge¬ dehnteren Wettbewerb der Geschäftstheater mit allen seinen Auswüchsen durch eine konservative Theaterpolittk die Wage zu halten und an einem stehenden, klassischen Repertoire einen festen traditionellen Kunftstil zu entwickeln, ein Ruhm, den man unbedenklich an das unter glücklicheren Auspizien aufstrebende Vurg- theater abtrat. Ohne den mahnenden Stimmen einer großen Vergangenheit Gehör zu schenken und ohne den gebieterisch heischenden Bedürfnissen einer vor¬ wärts drängenden Entwicklung zu genügen, verfiel die verantwortungsreichste Bühne des Reiches zunehmender Erstarrung. Die Idee des Nationaltheaters, einst mit so großen Hoffnungen begrüßt, schien begraben und vergessen. Die Sehnsucht danach freilich lebte unbefriedigt weiter. Sie war da und wuchs, genährt durch eine unermüdliche Kritik, je weiter die gesellschaftliche Zer¬ setzung um sich griff und je weniger man ihr an maßgebender Stelle und überall dort, wo man im Fahrwasser Berlins segelte, zu steuern wußte. Wann immer im Verlaufe des Jahrhunderts der nationale Gedanke sich lebhafter regte, versuchte man dort wieder anzuknüpfen, wo die organische Entwicklung so jäh abgebrochen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/245>, abgerufen am 23.11.2024.