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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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Hundert Jahre Berliner Schauspielhaus

war. Das geschah 1848, als fast gleichzeitig Eduard Devrient und Richard
Wagner mit Reformvorschlägen hervortraten, die in ihren Grundzügen den
Humboldtschen Staatstheatergedanken wiederholten. Durchzusetzen vermochten sich
weder sie noch ihre zahlreichen Nachfolger, deren gutgemeinter Optimismus leider
zumeist der höheren Einsicht eines Richard Wagner entbehrte. Erst der jüngsten
Umwälzung war es vorbehalten, neben mancher anderen Errungenschaft auch dem
Staatstheater zum Leben zu verhelfen und damit die kühnsten Erwartungen aller
Leichtgläubigen zu übertreffen. Aber man braucht kein Schwarzseher zu sein, um
heute schon zu sagen, daß der Geist, der in unsere ehemaligen Hoftheater einge¬
zogen ist, wohl etwas Anderes, aber nichts Besseres an deren Stelle hat setzen
können. Das Berliner Staatstheater ist auch heute noch nicht ein Theater, das
der Nation gehört. So sind wir trotz allem dem Nationaltheater ferner als je,
und Lessings resignierte Erkenntnis: "Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen
ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sindt" ge¬
winnt jetzt seine vollste und schwerste Bedeutung. Ja, man könnte versucht sein,
damit endgültig die Akten über das deutsche Theater zu schließen, wenn nicht sein
guter Genius auch jetzt wieder schirmend über ihm gestanden hätte. Indem
Richard Wagner mit dem Radikalismus des Genies den Eichendorffschen Satz:
"Ein nationales Schauspiel zu haben, hindert uns die Trennung zwischen Volk
und Gebildeten", in derselben Weise umkehrte wie es einst mit Lessings Resig¬
nation durch Schiller geschah, schenkte er dem Jahrhundert den reifsten dramatur¬
gischen Gedanken. Er war es, der zuerst wieder in der Form des Festspiels den
unverfälschten Charakter aller nationalen dramatisch-theatralischen Kunst aus an¬
tikem Geiste erneuerte, ihr die ihr von Haus aus zukommende soziale Funktion
als Trägerin großer ethischer Ideen mit Bestimmtheit vorrückte und damit den
als unüberbrückbar geltenden Gegensatz zwischen Volk und Gebildeten durch ein
höheres Drittes, das mehr ist als nur Unterhaltung und Bildung, überwand.
So krönt der Festspielgedanke die Idee des deutschen Nationaltheaters. Und
wenn das Werk von Bayreuth auch die Erwartungen nicht alle erfüllt hat, die
sein Schöpfer daran knüpfte, der große Gedanke lebt doch und bricht sich Bahn,
vor allem, seitdem die Heimatkunstbewegung ihn als wichtigen Faktor in ihr
Programm aufnahm, Über die Form aller dieser mit dem entscheidenden Moment
der festlichen Stimmungsbereitschaft arbeitenden Ausnahmeveranstaltungen herrscht
noch vielfache Unklarheit, aber sie alle, vom wiedererstandenen Passions-- und
Volksschauspiel bis zu den tastenden Versuchen der Freilichtbühnen, helfen mit am
Werke nationaler Selbstbesinnung. Meidet sich der Dichter, der aus ven Tiefen
unserer aufgewühlten Zeit den Glauben an unsere Einheit neu emporzuheben
vermag, gelingt es ihm, von geweihter Stelle die Gesamtheit der Nation zu er¬
greifen, dann beweisen wir, daß wir ein deutsches Nationaltheater haben.




Hundert Jahre Berliner Schauspielhaus

war. Das geschah 1848, als fast gleichzeitig Eduard Devrient und Richard
Wagner mit Reformvorschlägen hervortraten, die in ihren Grundzügen den
Humboldtschen Staatstheatergedanken wiederholten. Durchzusetzen vermochten sich
weder sie noch ihre zahlreichen Nachfolger, deren gutgemeinter Optimismus leider
zumeist der höheren Einsicht eines Richard Wagner entbehrte. Erst der jüngsten
Umwälzung war es vorbehalten, neben mancher anderen Errungenschaft auch dem
Staatstheater zum Leben zu verhelfen und damit die kühnsten Erwartungen aller
Leichtgläubigen zu übertreffen. Aber man braucht kein Schwarzseher zu sein, um
heute schon zu sagen, daß der Geist, der in unsere ehemaligen Hoftheater einge¬
zogen ist, wohl etwas Anderes, aber nichts Besseres an deren Stelle hat setzen
können. Das Berliner Staatstheater ist auch heute noch nicht ein Theater, das
der Nation gehört. So sind wir trotz allem dem Nationaltheater ferner als je,
und Lessings resignierte Erkenntnis: „Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen
ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sindt" ge¬
winnt jetzt seine vollste und schwerste Bedeutung. Ja, man könnte versucht sein,
damit endgültig die Akten über das deutsche Theater zu schließen, wenn nicht sein
guter Genius auch jetzt wieder schirmend über ihm gestanden hätte. Indem
Richard Wagner mit dem Radikalismus des Genies den Eichendorffschen Satz:
„Ein nationales Schauspiel zu haben, hindert uns die Trennung zwischen Volk
und Gebildeten", in derselben Weise umkehrte wie es einst mit Lessings Resig¬
nation durch Schiller geschah, schenkte er dem Jahrhundert den reifsten dramatur¬
gischen Gedanken. Er war es, der zuerst wieder in der Form des Festspiels den
unverfälschten Charakter aller nationalen dramatisch-theatralischen Kunst aus an¬
tikem Geiste erneuerte, ihr die ihr von Haus aus zukommende soziale Funktion
als Trägerin großer ethischer Ideen mit Bestimmtheit vorrückte und damit den
als unüberbrückbar geltenden Gegensatz zwischen Volk und Gebildeten durch ein
höheres Drittes, das mehr ist als nur Unterhaltung und Bildung, überwand.
So krönt der Festspielgedanke die Idee des deutschen Nationaltheaters. Und
wenn das Werk von Bayreuth auch die Erwartungen nicht alle erfüllt hat, die
sein Schöpfer daran knüpfte, der große Gedanke lebt doch und bricht sich Bahn,
vor allem, seitdem die Heimatkunstbewegung ihn als wichtigen Faktor in ihr
Programm aufnahm, Über die Form aller dieser mit dem entscheidenden Moment
der festlichen Stimmungsbereitschaft arbeitenden Ausnahmeveranstaltungen herrscht
noch vielfache Unklarheit, aber sie alle, vom wiedererstandenen Passions-- und
Volksschauspiel bis zu den tastenden Versuchen der Freilichtbühnen, helfen mit am
Werke nationaler Selbstbesinnung. Meidet sich der Dichter, der aus ven Tiefen
unserer aufgewühlten Zeit den Glauben an unsere Einheit neu emporzuheben
vermag, gelingt es ihm, von geweihter Stelle die Gesamtheit der Nation zu er¬
greifen, dann beweisen wir, daß wir ein deutsches Nationaltheater haben.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/246>, abgerufen am 01.07.2024.