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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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Die Mythe vom Deutschen

Die Mythe vom Deutschen
v Richard Müller on

s ist eine bekannte biologische Erscheinung, daß die Erinnerung
der Völker an längstvergangene Zeiten sich Mythen schafft, Mythen
aber sind Vorstellungen, die keinerlei exakten Wahrheitswert haben,
die nur aus einer vielfältigen, irrationalen Wirklichkeit einige
markante Züge herausheben, sie ausschmücken, vergrößern und zu
einem Bilde runden, das in Ermangelung wirklicher Erkenntnismöglichkeiten
dennoch als eine Art Erkenntnis gewertet wird. Die Weltgeschichte, auch dort,
wo sie sich dessen nicht bewußt wird, ist sehr stark mit solchen Mythen durchsetzt.
Nicht nur die Zeit des trojanischen Krieges oder der Völkerwanderung lebt als
Mythe weiter, auch Barbarossa, auch Napoleon, auch Bismarck sind zu solchen
mythischen Gestalten geworden. Diese Mythen sind keineswegs ohne weiteres
als "falsch" abzutun, wenn sie auch weit davon entfernt sind, porträthast "richtig"
zu sein: sie sind Vereinfachungen und Vergröberungen von oft richtig, oft aber
auch unrichtig erschauten Zügen und haben besonders für den Ungebildeten, aber
auch für den gebildeten Laien in der Historie den Ruf der Bequemlichkeit und
einer derben, gefühlsmäßigen Überzeugungskraft, so daß derartige Bilder vom
NichtHistoriker gern statt der Wahrheit hingenommen werden. Denn die "Wahrheit"
ist meist ungeheuer kompliziert, irrational und nicht auf so bequeme, schlag¬
kräftige Formeln zu bringen, wie man sie von der Geschichte für den praktischen
Gebrauch fordert.

Aber nicht nur von fernen Zeiten bilden sich Mythen, auch fremde Länder
und Völker verwandeln sich mythenhaft. Es gibt auch eine Mythe von Indien,
von Amerika, ja auch von Deutschland, bei anderen Völkern, selbst bei den
Nachbarn. Sind doch auch die Völker der Gegenwart, nicht nur die ferner Ver¬
gangenheiten, äußerst komplizierte, irrationale und nicht auf eine erschöpfende
Formel zu bringende Größen, und besteht doch auch ihnen gegenüber das Be¬
dürfnis, ein bequemes, schlagkräftiges Bild von ihnen zu schaffen. So entstehen
auch in der Beurteilung der Völker untereinander solche Vereinfachungen und
Vergröberungen, die als geistige Scheidemünze gern in Kurs genommen werden,
ohne jedesmal auf ihre Echtheit nachgeprüft worden zu sein. Wenn es schon dem
einzelnen Menschen gegenüber schwer ist, eine erschöpfende Formel für sein Wesen
zu finden, wie unendlich viel schwerer ist das ganzen Völkern gegenüber. Welche
Widersprüche vereinigt jedes Volk in sich an Gegensätzen des Charakters und des
Temperaments, der religiösen, wirtschaftlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen
Bildung I Von all dem abstrahiert die Mythe und schafft sich jene bequemen
Vorstellungen vom geldgierigen Arete Sam, vom verschlagenen, selbstischen John
Bull, von der koketten, hysterischen Marianne. Man täusche sich nicht: keineswegs
bloß der Bildungspöbel rechnet mit diesen mythischen Größen, bis hoch in die
Höhen politischer Kreise hinein hat man mit diesen Trugbildern gearbeitet: teils
unbewußt, teils bewußt! Ja, genau betrachtet, ist der Weltkrieg gar nicht gegen
den wirklichen Deutschen, sondern jene Mythe vom Deutschen geführt worden.
Was wußten im Grunde der wenig reisende Franzose, der viel reisende, aber


Die Mythe vom Deutschen

Die Mythe vom Deutschen
v Richard Müller on

s ist eine bekannte biologische Erscheinung, daß die Erinnerung
der Völker an längstvergangene Zeiten sich Mythen schafft, Mythen
aber sind Vorstellungen, die keinerlei exakten Wahrheitswert haben,
die nur aus einer vielfältigen, irrationalen Wirklichkeit einige
markante Züge herausheben, sie ausschmücken, vergrößern und zu
einem Bilde runden, das in Ermangelung wirklicher Erkenntnismöglichkeiten
dennoch als eine Art Erkenntnis gewertet wird. Die Weltgeschichte, auch dort,
wo sie sich dessen nicht bewußt wird, ist sehr stark mit solchen Mythen durchsetzt.
Nicht nur die Zeit des trojanischen Krieges oder der Völkerwanderung lebt als
Mythe weiter, auch Barbarossa, auch Napoleon, auch Bismarck sind zu solchen
mythischen Gestalten geworden. Diese Mythen sind keineswegs ohne weiteres
als „falsch" abzutun, wenn sie auch weit davon entfernt sind, porträthast „richtig"
zu sein: sie sind Vereinfachungen und Vergröberungen von oft richtig, oft aber
auch unrichtig erschauten Zügen und haben besonders für den Ungebildeten, aber
auch für den gebildeten Laien in der Historie den Ruf der Bequemlichkeit und
einer derben, gefühlsmäßigen Überzeugungskraft, so daß derartige Bilder vom
NichtHistoriker gern statt der Wahrheit hingenommen werden. Denn die „Wahrheit"
ist meist ungeheuer kompliziert, irrational und nicht auf so bequeme, schlag¬
kräftige Formeln zu bringen, wie man sie von der Geschichte für den praktischen
Gebrauch fordert.

Aber nicht nur von fernen Zeiten bilden sich Mythen, auch fremde Länder
und Völker verwandeln sich mythenhaft. Es gibt auch eine Mythe von Indien,
von Amerika, ja auch von Deutschland, bei anderen Völkern, selbst bei den
Nachbarn. Sind doch auch die Völker der Gegenwart, nicht nur die ferner Ver¬
gangenheiten, äußerst komplizierte, irrationale und nicht auf eine erschöpfende
Formel zu bringende Größen, und besteht doch auch ihnen gegenüber das Be¬
dürfnis, ein bequemes, schlagkräftiges Bild von ihnen zu schaffen. So entstehen
auch in der Beurteilung der Völker untereinander solche Vereinfachungen und
Vergröberungen, die als geistige Scheidemünze gern in Kurs genommen werden,
ohne jedesmal auf ihre Echtheit nachgeprüft worden zu sein. Wenn es schon dem
einzelnen Menschen gegenüber schwer ist, eine erschöpfende Formel für sein Wesen
zu finden, wie unendlich viel schwerer ist das ganzen Völkern gegenüber. Welche
Widersprüche vereinigt jedes Volk in sich an Gegensätzen des Charakters und des
Temperaments, der religiösen, wirtschaftlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen
Bildung I Von all dem abstrahiert die Mythe und schafft sich jene bequemen
Vorstellungen vom geldgierigen Arete Sam, vom verschlagenen, selbstischen John
Bull, von der koketten, hysterischen Marianne. Man täusche sich nicht: keineswegs
bloß der Bildungspöbel rechnet mit diesen mythischen Größen, bis hoch in die
Höhen politischer Kreise hinein hat man mit diesen Trugbildern gearbeitet: teils
unbewußt, teils bewußt! Ja, genau betrachtet, ist der Weltkrieg gar nicht gegen
den wirklichen Deutschen, sondern jene Mythe vom Deutschen geführt worden.
Was wußten im Grunde der wenig reisende Franzose, der viel reisende, aber


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[0236] Die Mythe vom Deutschen Die Mythe vom Deutschen v Richard Müller on s ist eine bekannte biologische Erscheinung, daß die Erinnerung der Völker an längstvergangene Zeiten sich Mythen schafft, Mythen aber sind Vorstellungen, die keinerlei exakten Wahrheitswert haben, die nur aus einer vielfältigen, irrationalen Wirklichkeit einige markante Züge herausheben, sie ausschmücken, vergrößern und zu einem Bilde runden, das in Ermangelung wirklicher Erkenntnismöglichkeiten dennoch als eine Art Erkenntnis gewertet wird. Die Weltgeschichte, auch dort, wo sie sich dessen nicht bewußt wird, ist sehr stark mit solchen Mythen durchsetzt. Nicht nur die Zeit des trojanischen Krieges oder der Völkerwanderung lebt als Mythe weiter, auch Barbarossa, auch Napoleon, auch Bismarck sind zu solchen mythischen Gestalten geworden. Diese Mythen sind keineswegs ohne weiteres als „falsch" abzutun, wenn sie auch weit davon entfernt sind, porträthast „richtig" zu sein: sie sind Vereinfachungen und Vergröberungen von oft richtig, oft aber auch unrichtig erschauten Zügen und haben besonders für den Ungebildeten, aber auch für den gebildeten Laien in der Historie den Ruf der Bequemlichkeit und einer derben, gefühlsmäßigen Überzeugungskraft, so daß derartige Bilder vom NichtHistoriker gern statt der Wahrheit hingenommen werden. Denn die „Wahrheit" ist meist ungeheuer kompliziert, irrational und nicht auf so bequeme, schlag¬ kräftige Formeln zu bringen, wie man sie von der Geschichte für den praktischen Gebrauch fordert. Aber nicht nur von fernen Zeiten bilden sich Mythen, auch fremde Länder und Völker verwandeln sich mythenhaft. Es gibt auch eine Mythe von Indien, von Amerika, ja auch von Deutschland, bei anderen Völkern, selbst bei den Nachbarn. Sind doch auch die Völker der Gegenwart, nicht nur die ferner Ver¬ gangenheiten, äußerst komplizierte, irrationale und nicht auf eine erschöpfende Formel zu bringende Größen, und besteht doch auch ihnen gegenüber das Be¬ dürfnis, ein bequemes, schlagkräftiges Bild von ihnen zu schaffen. So entstehen auch in der Beurteilung der Völker untereinander solche Vereinfachungen und Vergröberungen, die als geistige Scheidemünze gern in Kurs genommen werden, ohne jedesmal auf ihre Echtheit nachgeprüft worden zu sein. Wenn es schon dem einzelnen Menschen gegenüber schwer ist, eine erschöpfende Formel für sein Wesen zu finden, wie unendlich viel schwerer ist das ganzen Völkern gegenüber. Welche Widersprüche vereinigt jedes Volk in sich an Gegensätzen des Charakters und des Temperaments, der religiösen, wirtschaftlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen Bildung I Von all dem abstrahiert die Mythe und schafft sich jene bequemen Vorstellungen vom geldgierigen Arete Sam, vom verschlagenen, selbstischen John Bull, von der koketten, hysterischen Marianne. Man täusche sich nicht: keineswegs bloß der Bildungspöbel rechnet mit diesen mythischen Größen, bis hoch in die Höhen politischer Kreise hinein hat man mit diesen Trugbildern gearbeitet: teils unbewußt, teils bewußt! Ja, genau betrachtet, ist der Weltkrieg gar nicht gegen den wirklichen Deutschen, sondern jene Mythe vom Deutschen geführt worden. Was wußten im Grunde der wenig reisende Franzose, der viel reisende, aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/236>, abgerufen am 23.11.2024.