Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
lveltspiegel

und zu jeder großzügigen Aktion unfähig ist, eine Reihe ohnmächtiger, von
schwersten Produktionskrisen bedrohter Neutraler, ein Deutschland, das täglich
und stündlich, statt am Wiederaufbau Europas werktätig mithelfen zu
können, um das nackte Leben ringen muß, die Entwicklung eines der be¬
deutendsten Industriezentren, Oberschlesiens, gehemmt durch nationale Kämpfe
und eine völlig ungewisse Zukunft, im Osten eine Neugründung, deren Existenz
aus innerer Schwäche aufs höchste bedroht erscheint, eine Reihe von Kleinstaaten,
deren Bestehen Anlaß zu unerschöpflichen Intrigen und Reibungen bietet, ein
aus der Weltproduktion ausscheidendes, der Anarchie verfallendes, aber nach außen
hin noch immer angriffslustiges Nußland, ein im höchsten Maße beunruhigter,
naher Orient. Überall Konfliktsmöglichkeiten, kaum irgendwo erfreuliche Ausblicke.

Was kann aus solcher Lage sich entwickeln? Das Wort vom Ende mit
Schrecken, das dem Schrecken ohne Ende vorzuziehen sei, ist ganz gewiß ein
frivoles Wort, aber psychologisch ist es nur allzu verständlich. Der Idealismus
jeglicher Art hat so viele Niederlagen erlebt, daß ihm die Kraft, dem Wieder¬
aufbau Europas neue Opfer zu bringen -- und mit Opfern müßte jede Wieder¬
aufbauarbeit beginnen -- kaum mehr zugemutet werden kann. Und so ist es sehr
wohl möglich, daß Frankreich zur nimm", i-alio greift, um neuen Opfern zu entgehen.
Zwar fehlt es auch in Frankreich, selbst in maßgebenden Blättern, wie "Journal 6e"
döbat"", nicht an Stimmen, die gegen das Säbelrasseln zu Felde ziehen, zwar mag
vieles an dem kriegerischen Auftreten anderer Blätter als Bluff gedacht sein, um die
Deutschen in London einzuschüchtern, aber bei allzu energischem Bluffen besteht immer
die Gefahr, daß man sich selbst in eine Haltung hineinsetzt, die das innere Gleich¬
gewicht aufhebt und zu realen Konsequenzen drängt. Selbst die zur Mäßigung
geneigten Kreise Frankreichs sind infolge der Entwicklung während der letzten
Wochen so verwirrt, daß man ohne Übertreibung sagen kann: Frankreich gehört
dem entschlossen Handelnden. Lassen sich die Ergebnisse der Londoner Konferenz
nicht als greifbare Erfolge Frankreichs arrangieren -- wozu wenig Aussicht vor
Handen ist --, so macht das Kabinett Briand einem Kabinett Poincarö Platz und
Frankreich spielt seine letzte Karte aus: die militärische Aktion gegen Deutschland.
Es gibt auch unter den gemäßigte"? Politikern Frankreichs nicht wenige, die eine baldige
Entwicklung in diesem Sinne wünschen, weil sie, bevor nicht die Poincarö-Nichtung,
wie zu erwarten ist, nach kurzem äußerlichen Erfolge Schiffbruch gelitten hat,
keine Möglichkeit sehen, mit ihren Ansichten durchzudringen. Dann erst wird, nach
schweren Opfern und neuen Erschütterungen Gesamteuropas, ein Kabinett Biviani
möglich sein, das sich bemühen wird, chauvinistische und national-egoistische Gesichts
punkte hinter sachliche, europäisch-wirtschaftliche zurücktreten zu lassen.

Ansätze zu dieser Richtung sind da und verdienen bereits jetzt schon gewürdigt
zu werden. Sie sprechen sich am deutlichsten aus in der Verteidigungsschrift, dle
Caillaux seiner Verurteilung hat folgen lassen. Die Einstimmigkeit, mit der die
gesamte Presse Frankreichs" dies Buch ("Nos prisons". I>gri!j, Nclition" nig in
Liröno, 1920) lotschweigt, deutet daraufhin, daß man seine <^ cdankengnnge fürchtet,
daß unter Umständen also Möglichkeiten vorhanden sind, daß diese Gedankengänge
verwirklicht werden.

Auf den Anlaß des Buches: den Verlauf des Caillaux-Prozesses selbst und
die ihm zugrunde liegenden politischen Vorgänge kann hier nicht eingegangen
werden, obgleich der Bericht des früheren Ministerpräsidenten einen der lehrreichsten
Beiträge zur Geschichte der politischen Unsitten Frankreichs bildet. Wichtiger für
uns sind die außenpolitischen (^edankcngänge, die Einleitung und Schluß bilden,
in denen Caillaux die Kriegspolitik Clemenceaus einer scharfen .Kritik unterzieht.
Caillaux, der sich einen der 'Hauptvorkämpfer der Lntento loi-äialo nennt und sich
energisch gegen die Verdächtigung wehrt, ein Feind Englands zu sein, steht auf
dem Standpunkt, daß man aus keinen Fall die Interessen Frankreichs denen
Englands hätte aufopfern dürfen. England, so führt er aus, hat eS meisterhaft


lveltspiegel

und zu jeder großzügigen Aktion unfähig ist, eine Reihe ohnmächtiger, von
schwersten Produktionskrisen bedrohter Neutraler, ein Deutschland, das täglich
und stündlich, statt am Wiederaufbau Europas werktätig mithelfen zu
können, um das nackte Leben ringen muß, die Entwicklung eines der be¬
deutendsten Industriezentren, Oberschlesiens, gehemmt durch nationale Kämpfe
und eine völlig ungewisse Zukunft, im Osten eine Neugründung, deren Existenz
aus innerer Schwäche aufs höchste bedroht erscheint, eine Reihe von Kleinstaaten,
deren Bestehen Anlaß zu unerschöpflichen Intrigen und Reibungen bietet, ein
aus der Weltproduktion ausscheidendes, der Anarchie verfallendes, aber nach außen
hin noch immer angriffslustiges Nußland, ein im höchsten Maße beunruhigter,
naher Orient. Überall Konfliktsmöglichkeiten, kaum irgendwo erfreuliche Ausblicke.

Was kann aus solcher Lage sich entwickeln? Das Wort vom Ende mit
Schrecken, das dem Schrecken ohne Ende vorzuziehen sei, ist ganz gewiß ein
frivoles Wort, aber psychologisch ist es nur allzu verständlich. Der Idealismus
jeglicher Art hat so viele Niederlagen erlebt, daß ihm die Kraft, dem Wieder¬
aufbau Europas neue Opfer zu bringen — und mit Opfern müßte jede Wieder¬
aufbauarbeit beginnen — kaum mehr zugemutet werden kann. Und so ist es sehr
wohl möglich, daß Frankreich zur nimm», i-alio greift, um neuen Opfern zu entgehen.
Zwar fehlt es auch in Frankreich, selbst in maßgebenden Blättern, wie „Journal 6e»
döbat«", nicht an Stimmen, die gegen das Säbelrasseln zu Felde ziehen, zwar mag
vieles an dem kriegerischen Auftreten anderer Blätter als Bluff gedacht sein, um die
Deutschen in London einzuschüchtern, aber bei allzu energischem Bluffen besteht immer
die Gefahr, daß man sich selbst in eine Haltung hineinsetzt, die das innere Gleich¬
gewicht aufhebt und zu realen Konsequenzen drängt. Selbst die zur Mäßigung
geneigten Kreise Frankreichs sind infolge der Entwicklung während der letzten
Wochen so verwirrt, daß man ohne Übertreibung sagen kann: Frankreich gehört
dem entschlossen Handelnden. Lassen sich die Ergebnisse der Londoner Konferenz
nicht als greifbare Erfolge Frankreichs arrangieren — wozu wenig Aussicht vor
Handen ist —, so macht das Kabinett Briand einem Kabinett Poincarö Platz und
Frankreich spielt seine letzte Karte aus: die militärische Aktion gegen Deutschland.
Es gibt auch unter den gemäßigte«? Politikern Frankreichs nicht wenige, die eine baldige
Entwicklung in diesem Sinne wünschen, weil sie, bevor nicht die Poincarö-Nichtung,
wie zu erwarten ist, nach kurzem äußerlichen Erfolge Schiffbruch gelitten hat,
keine Möglichkeit sehen, mit ihren Ansichten durchzudringen. Dann erst wird, nach
schweren Opfern und neuen Erschütterungen Gesamteuropas, ein Kabinett Biviani
möglich sein, das sich bemühen wird, chauvinistische und national-egoistische Gesichts
punkte hinter sachliche, europäisch-wirtschaftliche zurücktreten zu lassen.

Ansätze zu dieser Richtung sind da und verdienen bereits jetzt schon gewürdigt
zu werden. Sie sprechen sich am deutlichsten aus in der Verteidigungsschrift, dle
Caillaux seiner Verurteilung hat folgen lassen. Die Einstimmigkeit, mit der die
gesamte Presse Frankreichs" dies Buch („Nos prisons«. I>gri!j, Nclition« nig in
Liröno, 1920) lotschweigt, deutet daraufhin, daß man seine <^ cdankengnnge fürchtet,
daß unter Umständen also Möglichkeiten vorhanden sind, daß diese Gedankengänge
verwirklicht werden.

Auf den Anlaß des Buches: den Verlauf des Caillaux-Prozesses selbst und
die ihm zugrunde liegenden politischen Vorgänge kann hier nicht eingegangen
werden, obgleich der Bericht des früheren Ministerpräsidenten einen der lehrreichsten
Beiträge zur Geschichte der politischen Unsitten Frankreichs bildet. Wichtiger für
uns sind die außenpolitischen (^edankcngänge, die Einleitung und Schluß bilden,
in denen Caillaux die Kriegspolitik Clemenceaus einer scharfen .Kritik unterzieht.
Caillaux, der sich einen der 'Hauptvorkämpfer der Lntento loi-äialo nennt und sich
energisch gegen die Verdächtigung wehrt, ein Feind Englands zu sein, steht auf
dem Standpunkt, daß man aus keinen Fall die Interessen Frankreichs denen
Englands hätte aufopfern dürfen. England, so führt er aus, hat eS meisterhaft


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0292" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/338725"/>
          <fw type="header" place="top"> lveltspiegel</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1059" prev="#ID_1058"> und zu jeder großzügigen Aktion unfähig ist, eine Reihe ohnmächtiger, von<lb/>
schwersten Produktionskrisen bedrohter Neutraler, ein Deutschland, das täglich<lb/>
und stündlich, statt am Wiederaufbau Europas werktätig mithelfen zu<lb/>
können, um das nackte Leben ringen muß, die Entwicklung eines der be¬<lb/>
deutendsten Industriezentren, Oberschlesiens, gehemmt durch nationale Kämpfe<lb/>
und eine völlig ungewisse Zukunft, im Osten eine Neugründung, deren Existenz<lb/>
aus innerer Schwäche aufs höchste bedroht erscheint, eine Reihe von Kleinstaaten,<lb/>
deren Bestehen Anlaß zu unerschöpflichen Intrigen und Reibungen bietet, ein<lb/>
aus der Weltproduktion ausscheidendes, der Anarchie verfallendes, aber nach außen<lb/>
hin noch immer angriffslustiges Nußland, ein im höchsten Maße beunruhigter,<lb/>
naher Orient. Überall Konfliktsmöglichkeiten, kaum irgendwo erfreuliche Ausblicke.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1060"> Was kann aus solcher Lage sich entwickeln? Das Wort vom Ende mit<lb/>
Schrecken, das dem Schrecken ohne Ende vorzuziehen sei, ist ganz gewiß ein<lb/>
frivoles Wort, aber psychologisch ist es nur allzu verständlich. Der Idealismus<lb/>
jeglicher Art hat so viele Niederlagen erlebt, daß ihm die Kraft, dem Wieder¬<lb/>
aufbau Europas neue Opfer zu bringen &#x2014; und mit Opfern müßte jede Wieder¬<lb/>
aufbauarbeit beginnen &#x2014; kaum mehr zugemutet werden kann. Und so ist es sehr<lb/>
wohl möglich, daß Frankreich zur nimm», i-alio greift, um neuen Opfern zu entgehen.<lb/>
Zwar fehlt es auch in Frankreich, selbst in maßgebenden Blättern, wie &#x201E;Journal 6e»<lb/>
döbat«", nicht an Stimmen, die gegen das Säbelrasseln zu Felde ziehen, zwar mag<lb/>
vieles an dem kriegerischen Auftreten anderer Blätter als Bluff gedacht sein, um die<lb/>
Deutschen in London einzuschüchtern, aber bei allzu energischem Bluffen besteht immer<lb/>
die Gefahr, daß man sich selbst in eine Haltung hineinsetzt, die das innere Gleich¬<lb/>
gewicht aufhebt und zu realen Konsequenzen drängt. Selbst die zur Mäßigung<lb/>
geneigten Kreise Frankreichs sind infolge der Entwicklung während der letzten<lb/>
Wochen so verwirrt, daß man ohne Übertreibung sagen kann: Frankreich gehört<lb/>
dem entschlossen Handelnden. Lassen sich die Ergebnisse der Londoner Konferenz<lb/>
nicht als greifbare Erfolge Frankreichs arrangieren &#x2014; wozu wenig Aussicht vor<lb/>
Handen ist &#x2014;, so macht das Kabinett Briand einem Kabinett Poincarö Platz und<lb/>
Frankreich spielt seine letzte Karte aus: die militärische Aktion gegen Deutschland.<lb/>
Es gibt auch unter den gemäßigte«? Politikern Frankreichs nicht wenige, die eine baldige<lb/>
Entwicklung in diesem Sinne wünschen, weil sie, bevor nicht die Poincarö-Nichtung,<lb/>
wie zu erwarten ist, nach kurzem äußerlichen Erfolge Schiffbruch gelitten hat,<lb/>
keine Möglichkeit sehen, mit ihren Ansichten durchzudringen. Dann erst wird, nach<lb/>
schweren Opfern und neuen Erschütterungen Gesamteuropas, ein Kabinett Biviani<lb/>
möglich sein, das sich bemühen wird, chauvinistische und national-egoistische Gesichts<lb/>
punkte hinter sachliche, europäisch-wirtschaftliche zurücktreten zu lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1061"> Ansätze zu dieser Richtung sind da und verdienen bereits jetzt schon gewürdigt<lb/>
zu werden. Sie sprechen sich am deutlichsten aus in der Verteidigungsschrift, dle<lb/>
Caillaux seiner Verurteilung hat folgen lassen. Die Einstimmigkeit, mit der die<lb/>
gesamte Presse Frankreichs" dies Buch (&#x201E;Nos prisons«. I&gt;gri!j, Nclition« nig in<lb/>
Liröno, 1920) lotschweigt, deutet daraufhin, daß man seine &lt;^ cdankengnnge fürchtet,<lb/>
daß unter Umständen also Möglichkeiten vorhanden sind, daß diese Gedankengänge<lb/>
verwirklicht werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1062" next="#ID_1063"> Auf den Anlaß des Buches: den Verlauf des Caillaux-Prozesses selbst und<lb/>
die ihm zugrunde liegenden politischen Vorgänge kann hier nicht eingegangen<lb/>
werden, obgleich der Bericht des früheren Ministerpräsidenten einen der lehrreichsten<lb/>
Beiträge zur Geschichte der politischen Unsitten Frankreichs bildet. Wichtiger für<lb/>
uns sind die außenpolitischen (^edankcngänge, die Einleitung und Schluß bilden,<lb/>
in denen Caillaux die Kriegspolitik Clemenceaus einer scharfen .Kritik unterzieht.<lb/>
Caillaux, der sich einen der 'Hauptvorkämpfer der Lntento loi-äialo nennt und sich<lb/>
energisch gegen die Verdächtigung wehrt, ein Feind Englands zu sein, steht auf<lb/>
dem Standpunkt, daß man aus keinen Fall die Interessen Frankreichs denen<lb/>
Englands hätte aufopfern dürfen.  England, so führt er aus, hat eS meisterhaft</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0292] lveltspiegel und zu jeder großzügigen Aktion unfähig ist, eine Reihe ohnmächtiger, von schwersten Produktionskrisen bedrohter Neutraler, ein Deutschland, das täglich und stündlich, statt am Wiederaufbau Europas werktätig mithelfen zu können, um das nackte Leben ringen muß, die Entwicklung eines der be¬ deutendsten Industriezentren, Oberschlesiens, gehemmt durch nationale Kämpfe und eine völlig ungewisse Zukunft, im Osten eine Neugründung, deren Existenz aus innerer Schwäche aufs höchste bedroht erscheint, eine Reihe von Kleinstaaten, deren Bestehen Anlaß zu unerschöpflichen Intrigen und Reibungen bietet, ein aus der Weltproduktion ausscheidendes, der Anarchie verfallendes, aber nach außen hin noch immer angriffslustiges Nußland, ein im höchsten Maße beunruhigter, naher Orient. Überall Konfliktsmöglichkeiten, kaum irgendwo erfreuliche Ausblicke. Was kann aus solcher Lage sich entwickeln? Das Wort vom Ende mit Schrecken, das dem Schrecken ohne Ende vorzuziehen sei, ist ganz gewiß ein frivoles Wort, aber psychologisch ist es nur allzu verständlich. Der Idealismus jeglicher Art hat so viele Niederlagen erlebt, daß ihm die Kraft, dem Wieder¬ aufbau Europas neue Opfer zu bringen — und mit Opfern müßte jede Wieder¬ aufbauarbeit beginnen — kaum mehr zugemutet werden kann. Und so ist es sehr wohl möglich, daß Frankreich zur nimm», i-alio greift, um neuen Opfern zu entgehen. Zwar fehlt es auch in Frankreich, selbst in maßgebenden Blättern, wie „Journal 6e» döbat«", nicht an Stimmen, die gegen das Säbelrasseln zu Felde ziehen, zwar mag vieles an dem kriegerischen Auftreten anderer Blätter als Bluff gedacht sein, um die Deutschen in London einzuschüchtern, aber bei allzu energischem Bluffen besteht immer die Gefahr, daß man sich selbst in eine Haltung hineinsetzt, die das innere Gleich¬ gewicht aufhebt und zu realen Konsequenzen drängt. Selbst die zur Mäßigung geneigten Kreise Frankreichs sind infolge der Entwicklung während der letzten Wochen so verwirrt, daß man ohne Übertreibung sagen kann: Frankreich gehört dem entschlossen Handelnden. Lassen sich die Ergebnisse der Londoner Konferenz nicht als greifbare Erfolge Frankreichs arrangieren — wozu wenig Aussicht vor Handen ist —, so macht das Kabinett Briand einem Kabinett Poincarö Platz und Frankreich spielt seine letzte Karte aus: die militärische Aktion gegen Deutschland. Es gibt auch unter den gemäßigte«? Politikern Frankreichs nicht wenige, die eine baldige Entwicklung in diesem Sinne wünschen, weil sie, bevor nicht die Poincarö-Nichtung, wie zu erwarten ist, nach kurzem äußerlichen Erfolge Schiffbruch gelitten hat, keine Möglichkeit sehen, mit ihren Ansichten durchzudringen. Dann erst wird, nach schweren Opfern und neuen Erschütterungen Gesamteuropas, ein Kabinett Biviani möglich sein, das sich bemühen wird, chauvinistische und national-egoistische Gesichts punkte hinter sachliche, europäisch-wirtschaftliche zurücktreten zu lassen. Ansätze zu dieser Richtung sind da und verdienen bereits jetzt schon gewürdigt zu werden. Sie sprechen sich am deutlichsten aus in der Verteidigungsschrift, dle Caillaux seiner Verurteilung hat folgen lassen. Die Einstimmigkeit, mit der die gesamte Presse Frankreichs" dies Buch („Nos prisons«. I>gri!j, Nclition« nig in Liröno, 1920) lotschweigt, deutet daraufhin, daß man seine <^ cdankengnnge fürchtet, daß unter Umständen also Möglichkeiten vorhanden sind, daß diese Gedankengänge verwirklicht werden. Auf den Anlaß des Buches: den Verlauf des Caillaux-Prozesses selbst und die ihm zugrunde liegenden politischen Vorgänge kann hier nicht eingegangen werden, obgleich der Bericht des früheren Ministerpräsidenten einen der lehrreichsten Beiträge zur Geschichte der politischen Unsitten Frankreichs bildet. Wichtiger für uns sind die außenpolitischen (^edankcngänge, die Einleitung und Schluß bilden, in denen Caillaux die Kriegspolitik Clemenceaus einer scharfen .Kritik unterzieht. Caillaux, der sich einen der 'Hauptvorkämpfer der Lntento loi-äialo nennt und sich energisch gegen die Verdächtigung wehrt, ein Feind Englands zu sein, steht auf dem Standpunkt, daß man aus keinen Fall die Interessen Frankreichs denen Englands hätte aufopfern dürfen. England, so führt er aus, hat eS meisterhaft

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/292
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/292>, abgerufen am 01.07.2024.