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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr.

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Anthroposophie, Biologie und Christentum

Nun, den Blinden, dem ich von dieser Ecke des Zimmers aus zurufe, daß er jetzt
an jener anstoßen wird, den kann ich doch Wohl von der Existenz, wenn auch
nicht von der Art meines Fernerkennungövermögens überzeugen. Wenn der Ver¬
gleich zutreffend sein sollte, dann müßte, ebenso wie von meinem Sehen zu dem
Fühlen des Blinden eine Brücke führt, von der Erkenntnis des Hellsichtigen zu
der meinen, leiblich-sinnlichen eine solche führen. DaS aber heißt nichts anderes
als: es müßte eine Sprache der Theosophie geben, nicht eine, die immerwährend
über ihre UnVollkommenheit, Unzureichendheit klagt, sondern eine unmittelbar ver¬
ständliche Sprache.

Lassen Sie uns bei diesem kritischen Einwand ein wenig verweilen, er
scheint mir von meist zu wenig gewürdigter Bedeutung.

Ist denn, wie Steiner behauptet, unsere Sprache wirklich nur für die Be¬
dürfnisse des leiblichen Daseins geschaffen? Steiner empfiehlt seinen Jüngern die
Lektüre des Johannesevangeliums, er hätte wie Faust bei dem ersten Satz etwas
verweilen sollen: Im Anfang war das Wort. -- Wenn ich weiter kein Argument
gegen die Theosophie hätte als dieses, daß sie keine Sprache hat, so würde mir
das zur Ablehnung genügen.

Steiner und die Seinen berufen sich so gern auf Goethe, ein Vers wie der
aus dem Eingang des Faust II: "Tönend wird für Geistesohren schon der neue
Tag geboren" wird benutzt, um Goethe zu einem Anhänger der Lehre von den
Geistorganen zu machen.

Was ist der fundamentale Unterschied? -- Der Dichter, der Scher, der
Prophet -- sie alle schauen im Reden. "Es" offenbart sich ihnen, indem
es Wort wird. Sie machen es nicht wie der Theosoph, der erst seine Schauungen
hat und sich dann hinsetzt und überlegt, wie er sie ausdrücken kann. --

Das ist ja das -- wie Goethe wohl sagen würde -- "öffentliche Geheimnis"
der Sprache. Und das gilt von der Sprache des Dichters ebenso wie von der
der Wissenschaft.

Wenn eine physikalische Erscheinung mathematisch formulierbar ist, so daß
jeder Variablen der Gleichung wiederum eine erschöpfende mathematische Formu¬
lierung entspricht, dann ist die Erscheinung erkannt. Was ist da anderes geschehen,
als daß sie ihre Sprache gefunden hat? Erkennen und aussprechen war eins. --
Der Unterschied des Wissenschaftlicher von den: Erkennen des Dichters, des Weisen,
ist der, daß dort die Sprache gesucht werden, ausprobiert, allmählich zusammen¬
gebracht werden kann auf einem zum Teil wenigstens typischen Wege. Alle meta¬
physische, alle religiöse Erkenntnis -- und ich bestreite den Erkenntnischarakter
dieser beiden keineswegs -- ist ein Empfangen der Sprache. "Mir gab ein
Gott, zu sagen, was ich leide." Der Prophet bricht schier zusammen unter der
Last des ihm auferlegten Gottesworts. Die Kreatur zittert und bangt, der Mund
redet, weil er muß, da werden nicht Organe zur übersinnlichen Erkenntnis
ausgebildet.

Und wie ist diese Sprache dann? Oft stammelnd, manchmal dunkel, aber
nie von einer Dunkelheit, durch die man sich durchtasten muß und kann wie durch
Gestrüpp, sondern von der Dunkelheit der Nacht, die ein Blitz auf einmal in Qber-
helle verwandelt.


Anthroposophie, Biologie und Christentum

Nun, den Blinden, dem ich von dieser Ecke des Zimmers aus zurufe, daß er jetzt
an jener anstoßen wird, den kann ich doch Wohl von der Existenz, wenn auch
nicht von der Art meines Fernerkennungövermögens überzeugen. Wenn der Ver¬
gleich zutreffend sein sollte, dann müßte, ebenso wie von meinem Sehen zu dem
Fühlen des Blinden eine Brücke führt, von der Erkenntnis des Hellsichtigen zu
der meinen, leiblich-sinnlichen eine solche führen. DaS aber heißt nichts anderes
als: es müßte eine Sprache der Theosophie geben, nicht eine, die immerwährend
über ihre UnVollkommenheit, Unzureichendheit klagt, sondern eine unmittelbar ver¬
ständliche Sprache.

Lassen Sie uns bei diesem kritischen Einwand ein wenig verweilen, er
scheint mir von meist zu wenig gewürdigter Bedeutung.

Ist denn, wie Steiner behauptet, unsere Sprache wirklich nur für die Be¬
dürfnisse des leiblichen Daseins geschaffen? Steiner empfiehlt seinen Jüngern die
Lektüre des Johannesevangeliums, er hätte wie Faust bei dem ersten Satz etwas
verweilen sollen: Im Anfang war das Wort. — Wenn ich weiter kein Argument
gegen die Theosophie hätte als dieses, daß sie keine Sprache hat, so würde mir
das zur Ablehnung genügen.

Steiner und die Seinen berufen sich so gern auf Goethe, ein Vers wie der
aus dem Eingang des Faust II: „Tönend wird für Geistesohren schon der neue
Tag geboren" wird benutzt, um Goethe zu einem Anhänger der Lehre von den
Geistorganen zu machen.

Was ist der fundamentale Unterschied? — Der Dichter, der Scher, der
Prophet — sie alle schauen im Reden. „Es" offenbart sich ihnen, indem
es Wort wird. Sie machen es nicht wie der Theosoph, der erst seine Schauungen
hat und sich dann hinsetzt und überlegt, wie er sie ausdrücken kann. —

Das ist ja das — wie Goethe wohl sagen würde — „öffentliche Geheimnis"
der Sprache. Und das gilt von der Sprache des Dichters ebenso wie von der
der Wissenschaft.

Wenn eine physikalische Erscheinung mathematisch formulierbar ist, so daß
jeder Variablen der Gleichung wiederum eine erschöpfende mathematische Formu¬
lierung entspricht, dann ist die Erscheinung erkannt. Was ist da anderes geschehen,
als daß sie ihre Sprache gefunden hat? Erkennen und aussprechen war eins. —
Der Unterschied des Wissenschaftlicher von den: Erkennen des Dichters, des Weisen,
ist der, daß dort die Sprache gesucht werden, ausprobiert, allmählich zusammen¬
gebracht werden kann auf einem zum Teil wenigstens typischen Wege. Alle meta¬
physische, alle religiöse Erkenntnis — und ich bestreite den Erkenntnischarakter
dieser beiden keineswegs — ist ein Empfangen der Sprache. „Mir gab ein
Gott, zu sagen, was ich leide." Der Prophet bricht schier zusammen unter der
Last des ihm auferlegten Gottesworts. Die Kreatur zittert und bangt, der Mund
redet, weil er muß, da werden nicht Organe zur übersinnlichen Erkenntnis
ausgebildet.

Und wie ist diese Sprache dann? Oft stammelnd, manchmal dunkel, aber
nie von einer Dunkelheit, durch die man sich durchtasten muß und kann wie durch
Gestrüpp, sondern von der Dunkelheit der Nacht, die ein Blitz auf einmal in Qber-
helle verwandelt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/280>, abgerufen am 28.06.2024.