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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

uns nicht mehr zu Gebote steht. Da wir aber diese Macht nicht zu entwickeln
verstehen, nimmt England an uns nur das Interesse, unsere Aktiva, Arbeit,
Erfindungsgabe, alte Anlagen zu schröpfen, den uninteressanter Nest von uns
aber der einzigen Festlandsgroßmacht Frankreich zu überlassen. Gegen diese uns
zu schützen, läge nur dann ein Anlaß vor, wenn Frankreich den Engländern
wieder gefährlich, mindestens unbequem werden könnte. Das dürfte aber niemals
eintreten. So macht man uns den Franzosen zum Geschenk, immer etwas
zögernd, lediglich um von den Franzosen Gegendienste zu erlangen. Was während
dieser Zögerungen das corpus vile Deutschland fühlt und dabei hofft, wähnt,
jubelt -- das gute England, es will uns nicht wirklich übel! --, ist keines Nach¬
denkens wert zwischen den einzigen aktiven Subjekten bei diesem Handel,
Engländern und Franzosen.

Nur eigene Einigkeit und ein passiver Resistenzwille, der den andern
Ungelegenheiten bereiten könnte, würde uns wieder Macht geben. Erst aber muß
augenscheinlich der sozialdemokratisierte deutsche Arbeiter, der dem Feind aus der
Hand frißt, sich ganz ruiniert haben, ehe der Einheitswille dämmern kann.
Schrecklich, aber es ist so.

Nun, mancher sieht doch heute schon klar?

Gewiß, aber seit langem muß in Deutschland immer politische Vernunft
von einzelnen der Menge geradezu aufgezwungen werden. Von selbst wird sie
nie gelebt. Und aufzwingen kann der innen wie außen ohnmächtige Staat heute
den Massen nur -- was die Entente befiehlt, also das Gegenteil von dem, was
er befehlen müßte.

Deutsche Staatsmänner, die eine solche Nation in kritischen Augenblicken
nach außen zu vertreten haben, eine Nation ohne Zuverlässigkeit des Willens,
ohne Einheit, feige, immer den Verräter nah zur Hand, ist aufs tiefste zu
beklagen. Wir wissen manchen Unterhändler, der an sich klar und entschlossen
handeln könnte, aber im entscheidenden Augenblick, wo er sich ganz auf Einigkeit
verlassen mußte, fiel ihm ein Teil der Nation in den Rücken. Ekel vor dem eigenen
Volk erfüllt diese Männer. Was gibt es sür einen Staatsmann Furchtbareres
K. zu erleben, als der Verzicht darauf, die eigne Nation achten können?




Reichsspiegel

uns nicht mehr zu Gebote steht. Da wir aber diese Macht nicht zu entwickeln
verstehen, nimmt England an uns nur das Interesse, unsere Aktiva, Arbeit,
Erfindungsgabe, alte Anlagen zu schröpfen, den uninteressanter Nest von uns
aber der einzigen Festlandsgroßmacht Frankreich zu überlassen. Gegen diese uns
zu schützen, läge nur dann ein Anlaß vor, wenn Frankreich den Engländern
wieder gefährlich, mindestens unbequem werden könnte. Das dürfte aber niemals
eintreten. So macht man uns den Franzosen zum Geschenk, immer etwas
zögernd, lediglich um von den Franzosen Gegendienste zu erlangen. Was während
dieser Zögerungen das corpus vile Deutschland fühlt und dabei hofft, wähnt,
jubelt — das gute England, es will uns nicht wirklich übel! —, ist keines Nach¬
denkens wert zwischen den einzigen aktiven Subjekten bei diesem Handel,
Engländern und Franzosen.

Nur eigene Einigkeit und ein passiver Resistenzwille, der den andern
Ungelegenheiten bereiten könnte, würde uns wieder Macht geben. Erst aber muß
augenscheinlich der sozialdemokratisierte deutsche Arbeiter, der dem Feind aus der
Hand frißt, sich ganz ruiniert haben, ehe der Einheitswille dämmern kann.
Schrecklich, aber es ist so.

Nun, mancher sieht doch heute schon klar?

Gewiß, aber seit langem muß in Deutschland immer politische Vernunft
von einzelnen der Menge geradezu aufgezwungen werden. Von selbst wird sie
nie gelebt. Und aufzwingen kann der innen wie außen ohnmächtige Staat heute
den Massen nur — was die Entente befiehlt, also das Gegenteil von dem, was
er befehlen müßte.

Deutsche Staatsmänner, die eine solche Nation in kritischen Augenblicken
nach außen zu vertreten haben, eine Nation ohne Zuverlässigkeit des Willens,
ohne Einheit, feige, immer den Verräter nah zur Hand, ist aufs tiefste zu
beklagen. Wir wissen manchen Unterhändler, der an sich klar und entschlossen
handeln könnte, aber im entscheidenden Augenblick, wo er sich ganz auf Einigkeit
verlassen mußte, fiel ihm ein Teil der Nation in den Rücken. Ekel vor dem eigenen
Volk erfüllt diese Männer. Was gibt es sür einen Staatsmann Furchtbareres
K. zu erleben, als der Verzicht darauf, die eigne Nation achten können?




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[0078] Reichsspiegel uns nicht mehr zu Gebote steht. Da wir aber diese Macht nicht zu entwickeln verstehen, nimmt England an uns nur das Interesse, unsere Aktiva, Arbeit, Erfindungsgabe, alte Anlagen zu schröpfen, den uninteressanter Nest von uns aber der einzigen Festlandsgroßmacht Frankreich zu überlassen. Gegen diese uns zu schützen, läge nur dann ein Anlaß vor, wenn Frankreich den Engländern wieder gefährlich, mindestens unbequem werden könnte. Das dürfte aber niemals eintreten. So macht man uns den Franzosen zum Geschenk, immer etwas zögernd, lediglich um von den Franzosen Gegendienste zu erlangen. Was während dieser Zögerungen das corpus vile Deutschland fühlt und dabei hofft, wähnt, jubelt — das gute England, es will uns nicht wirklich übel! —, ist keines Nach¬ denkens wert zwischen den einzigen aktiven Subjekten bei diesem Handel, Engländern und Franzosen. Nur eigene Einigkeit und ein passiver Resistenzwille, der den andern Ungelegenheiten bereiten könnte, würde uns wieder Macht geben. Erst aber muß augenscheinlich der sozialdemokratisierte deutsche Arbeiter, der dem Feind aus der Hand frißt, sich ganz ruiniert haben, ehe der Einheitswille dämmern kann. Schrecklich, aber es ist so. Nun, mancher sieht doch heute schon klar? Gewiß, aber seit langem muß in Deutschland immer politische Vernunft von einzelnen der Menge geradezu aufgezwungen werden. Von selbst wird sie nie gelebt. Und aufzwingen kann der innen wie außen ohnmächtige Staat heute den Massen nur — was die Entente befiehlt, also das Gegenteil von dem, was er befehlen müßte. Deutsche Staatsmänner, die eine solche Nation in kritischen Augenblicken nach außen zu vertreten haben, eine Nation ohne Zuverlässigkeit des Willens, ohne Einheit, feige, immer den Verräter nah zur Hand, ist aufs tiefste zu beklagen. Wir wissen manchen Unterhändler, der an sich klar und entschlossen handeln könnte, aber im entscheidenden Augenblick, wo er sich ganz auf Einigkeit verlassen mußte, fiel ihm ein Teil der Nation in den Rücken. Ekel vor dem eigenen Volk erfüllt diese Männer. Was gibt es sür einen Staatsmann Furchtbareres K. zu erleben, als der Verzicht darauf, die eigne Nation achten können?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/78>, abgerufen am 03.07.2024.