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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Europäische Kultur? Europäische Politik?

im August 1914 vorausgesagt, daß nach allen historischen Gesetzen der Kriegs¬
psychose die Boches bald Kindern die Hände abhacken und Nonnen vergewaltigen
würden. Meine Erwartungen wurden übertroffen; heute sehe ich vergewaltigte
Mönche voraus."

Damals war ein anderer Professor, Studicngeirosse Croces, Ministerpräsident.
"Salcmdra ist dein Frieden gefährlich," meinte Croce, "er hat als Dozent kaum
einen Satz auszusprechen gewagt, der nicht in einem deutschen Buch stand. Er
wird in der Politik wenig Rückgrat gegen die Deutschenfcinde zeigen, während der
alte Giolitti, der nie in seinem Leben einen deutschen Buchstaben las, mit dem
Instinkt des wahren Staatsmanns die Notwendigkeit unseres Zusammengehens
mit Deutschland fühlt."

Giolitti und Croce sind die beiden anerkannten Führer Italiens, der eine
auf politischem, der andere auf geistigem Feld. Wir Deutsche entbehren heute des
Führers in beiden, und es ist fraglich, ob in unserer zerspaltenen Nation Naturen
wie jene zwei als Bannerträger anerkannt würden. Heute ist jedenfalls der 78jährige
Giolitti wieder Führer des Staats und er hat in sein Kabinett der Köpfe Croce als
Unterrichtsminister hereingenommen.

Aus französischer Quelle stammt nun folgende Meldung:


Der Unterrichtsminister Senator Croce rechtfertigte sich dem Bericht¬
erstatter der "Agence Havas" gegenüber in würdigster Weise gegen die franzö¬
sischen Vorwürfe einer angeblichen Germanophilie. Er habe dagegen protestiert,
daß die Politik in die Wissenschaft hineingetragen würde. Als Gelehrter
empfinde er es als lachhaft, Beteuerungen irgendwelcher Neigungen verkünden
zu müssen, und -- sei es aus welchen Gründen immer -- historische Fälschungen
zu begehen. In Fragen der Kultur fühle er sich weder als Franzose, noch
als Italiener, sondern in erster Linie als Europäer. Er meine, daß
die Welt vier Völkern ihre Kultur gleichmäßig ver¬
danke, nämlich Italien, Frankreich, England und
Deutschland. Croce schloß, indem er die Hoffnung ausdrückte, daß die
Zusammenarbeit dieser Staaten baldigst wieder hergestellt werde, da er an¬
nehme, daß auch die besten Vertreter Frankreichs ähnlich denken.

Der Philosoph, der immer geleugnet hat, Politiker zu sein, ist in die Politik
eingetreten, um dem Gedanken der europäischen Kulturgemeinschaft ein neues Zelt
auf Trümmerstätten zu errichten. Hierin sieht er die Aufgabe Italiens, das,
verarmt und militärisch wie jedesmal geschlagen, doch wiederum politisch siegreich
und mit erweiterten Grenzen aus dem Wcltbmnd hervorgeschritten ist. Hat Italien
den Willen und die Kraft, diesen Gedanken voranzutragen, oder ist er nur ein letzter
Seufzn aus dem Kreis jener Neunzig, ein Nachtrag zu dem längst erloschenen
Wochenblatt der "Pantoffelmännchen"?


' 2. '

Die Franzosen haben sich seit dem 13. Jahrhundert als das führende Kultur¬
volk betrachtet. Ihr Rittertum, ihre Universität Paris gab dem Abendland die
Normen, und die Art, wie schon die mittelalterlichen Deutschen von Frankreich An¬
regungen aufnahmen, bestätigte in den Franzosen das Gefühl der Vormacht. Die


Europäische Kultur? Europäische Politik?

im August 1914 vorausgesagt, daß nach allen historischen Gesetzen der Kriegs¬
psychose die Boches bald Kindern die Hände abhacken und Nonnen vergewaltigen
würden. Meine Erwartungen wurden übertroffen; heute sehe ich vergewaltigte
Mönche voraus."

Damals war ein anderer Professor, Studicngeirosse Croces, Ministerpräsident.
„Salcmdra ist dein Frieden gefährlich," meinte Croce, „er hat als Dozent kaum
einen Satz auszusprechen gewagt, der nicht in einem deutschen Buch stand. Er
wird in der Politik wenig Rückgrat gegen die Deutschenfcinde zeigen, während der
alte Giolitti, der nie in seinem Leben einen deutschen Buchstaben las, mit dem
Instinkt des wahren Staatsmanns die Notwendigkeit unseres Zusammengehens
mit Deutschland fühlt."

Giolitti und Croce sind die beiden anerkannten Führer Italiens, der eine
auf politischem, der andere auf geistigem Feld. Wir Deutsche entbehren heute des
Führers in beiden, und es ist fraglich, ob in unserer zerspaltenen Nation Naturen
wie jene zwei als Bannerträger anerkannt würden. Heute ist jedenfalls der 78jährige
Giolitti wieder Führer des Staats und er hat in sein Kabinett der Köpfe Croce als
Unterrichtsminister hereingenommen.

Aus französischer Quelle stammt nun folgende Meldung:


Der Unterrichtsminister Senator Croce rechtfertigte sich dem Bericht¬
erstatter der „Agence Havas" gegenüber in würdigster Weise gegen die franzö¬
sischen Vorwürfe einer angeblichen Germanophilie. Er habe dagegen protestiert,
daß die Politik in die Wissenschaft hineingetragen würde. Als Gelehrter
empfinde er es als lachhaft, Beteuerungen irgendwelcher Neigungen verkünden
zu müssen, und — sei es aus welchen Gründen immer — historische Fälschungen
zu begehen. In Fragen der Kultur fühle er sich weder als Franzose, noch
als Italiener, sondern in erster Linie als Europäer. Er meine, daß
die Welt vier Völkern ihre Kultur gleichmäßig ver¬
danke, nämlich Italien, Frankreich, England und
Deutschland. Croce schloß, indem er die Hoffnung ausdrückte, daß die
Zusammenarbeit dieser Staaten baldigst wieder hergestellt werde, da er an¬
nehme, daß auch die besten Vertreter Frankreichs ähnlich denken.

Der Philosoph, der immer geleugnet hat, Politiker zu sein, ist in die Politik
eingetreten, um dem Gedanken der europäischen Kulturgemeinschaft ein neues Zelt
auf Trümmerstätten zu errichten. Hierin sieht er die Aufgabe Italiens, das,
verarmt und militärisch wie jedesmal geschlagen, doch wiederum politisch siegreich
und mit erweiterten Grenzen aus dem Wcltbmnd hervorgeschritten ist. Hat Italien
den Willen und die Kraft, diesen Gedanken voranzutragen, oder ist er nur ein letzter
Seufzn aus dem Kreis jener Neunzig, ein Nachtrag zu dem längst erloschenen
Wochenblatt der „Pantoffelmännchen"?


' 2. '

Die Franzosen haben sich seit dem 13. Jahrhundert als das führende Kultur¬
volk betrachtet. Ihr Rittertum, ihre Universität Paris gab dem Abendland die
Normen, und die Art, wie schon die mittelalterlichen Deutschen von Frankreich An¬
regungen aufnahmen, bestätigte in den Franzosen das Gefühl der Vormacht. Die


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[0052] Europäische Kultur? Europäische Politik? im August 1914 vorausgesagt, daß nach allen historischen Gesetzen der Kriegs¬ psychose die Boches bald Kindern die Hände abhacken und Nonnen vergewaltigen würden. Meine Erwartungen wurden übertroffen; heute sehe ich vergewaltigte Mönche voraus." Damals war ein anderer Professor, Studicngeirosse Croces, Ministerpräsident. „Salcmdra ist dein Frieden gefährlich," meinte Croce, „er hat als Dozent kaum einen Satz auszusprechen gewagt, der nicht in einem deutschen Buch stand. Er wird in der Politik wenig Rückgrat gegen die Deutschenfcinde zeigen, während der alte Giolitti, der nie in seinem Leben einen deutschen Buchstaben las, mit dem Instinkt des wahren Staatsmanns die Notwendigkeit unseres Zusammengehens mit Deutschland fühlt." Giolitti und Croce sind die beiden anerkannten Führer Italiens, der eine auf politischem, der andere auf geistigem Feld. Wir Deutsche entbehren heute des Führers in beiden, und es ist fraglich, ob in unserer zerspaltenen Nation Naturen wie jene zwei als Bannerträger anerkannt würden. Heute ist jedenfalls der 78jährige Giolitti wieder Führer des Staats und er hat in sein Kabinett der Köpfe Croce als Unterrichtsminister hereingenommen. Aus französischer Quelle stammt nun folgende Meldung: Der Unterrichtsminister Senator Croce rechtfertigte sich dem Bericht¬ erstatter der „Agence Havas" gegenüber in würdigster Weise gegen die franzö¬ sischen Vorwürfe einer angeblichen Germanophilie. Er habe dagegen protestiert, daß die Politik in die Wissenschaft hineingetragen würde. Als Gelehrter empfinde er es als lachhaft, Beteuerungen irgendwelcher Neigungen verkünden zu müssen, und — sei es aus welchen Gründen immer — historische Fälschungen zu begehen. In Fragen der Kultur fühle er sich weder als Franzose, noch als Italiener, sondern in erster Linie als Europäer. Er meine, daß die Welt vier Völkern ihre Kultur gleichmäßig ver¬ danke, nämlich Italien, Frankreich, England und Deutschland. Croce schloß, indem er die Hoffnung ausdrückte, daß die Zusammenarbeit dieser Staaten baldigst wieder hergestellt werde, da er an¬ nehme, daß auch die besten Vertreter Frankreichs ähnlich denken. Der Philosoph, der immer geleugnet hat, Politiker zu sein, ist in die Politik eingetreten, um dem Gedanken der europäischen Kulturgemeinschaft ein neues Zelt auf Trümmerstätten zu errichten. Hierin sieht er die Aufgabe Italiens, das, verarmt und militärisch wie jedesmal geschlagen, doch wiederum politisch siegreich und mit erweiterten Grenzen aus dem Wcltbmnd hervorgeschritten ist. Hat Italien den Willen und die Kraft, diesen Gedanken voranzutragen, oder ist er nur ein letzter Seufzn aus dem Kreis jener Neunzig, ein Nachtrag zu dem längst erloschenen Wochenblatt der „Pantoffelmännchen"? ' 2. ' Die Franzosen haben sich seit dem 13. Jahrhundert als das führende Kultur¬ volk betrachtet. Ihr Rittertum, ihre Universität Paris gab dem Abendland die Normen, und die Art, wie schon die mittelalterlichen Deutschen von Frankreich An¬ regungen aufnahmen, bestätigte in den Franzosen das Gefühl der Vormacht. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/52>, abgerufen am 01.07.2024.