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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Das Problem des praktischen Bolschewismus

Proletariat an Zahl unterlegen. Als zielbewußte Organisation dagegen war
es der desorganisierten produzierenden und besitzenden Klasse an tatsächlicher
Macht weit überlegen. Erst mit der Erkenntnis dieser Macht und mit der Pro¬
klamation der Diktatur des Proletariats gelangte der praktische Bolschewismus
in Rußland zum Siege.

Das ist das Wesentliche des praktischen Bolschewismus: Diktatur des
Proletariats zur Zeit der Unterproduktion.

Lenins Gedankengang ist ja verblüffend einfach: Rußland hungert; alle
Einwohner Rußlands können nicht mehr satt werden. Dann ist es natürlich, daß
derjenige zunächst satt wird, der der Stärkere ist; das ist infolge seiner Organi¬
sation das Proletariat.

Deshalb erfaßt das Proletariat die noch vorhandenen restlichen Vorräte;
das ist die Nationalisation des Besitzes.

Dann übernimmt das Proletariat die Verteilung der Vorräte unter
möglichst weitgehendem Ausschluß der nichtproletarischen Kreise; das geschieht
in der klassifizierten Verbrauchsnormierung.

Versucht man die erfaßten Vorräte dem Proletariat zu entreißen, so
verlangt es sein Lebensinteresse, sie zu verteidigen; das geschieht durch den
Terror dem inneren Feinde, den Kontrerevolutionären gegenüber und durch
die rote Armee dem äußeren Feinde gegenüber.

Darüber hinaus ist der praktische Bolschewismus in Rußland nicht ge^
kommen, kann es seinem Wesen nach wohl auch kaum.


IV.

Nur dann könnte mit einer Zukunft des Bolschewismus gerechnet werden,
wenn es ihm möglich wäre, die Produktion in Rußland derart zu heben, daß
nicht nur der Verbrauch mit der Produktion ins Gleichgewicht kommt, sondern
auch die bisherige Unterbilanz durch zukünftige Überschüsse aufgewogen wird.

Ist der Bolschewismus dazu imstande?

Bis jetzt hat man nicht das geringste Zeichen von einer wirklichen Hebung
der Produktion durch den Bolschewismus wahrnehmen können. Im Gegenteil:
Die Vorräte und Produktionsmittel des Nationalvermögens werden immer
mehr verwirtschaftet.

Die Fabriken werden immer mehr stillgelegt, teils aus Mangel an Roh"
Stoffen, teils weil die Maschinen beselt geworden sind. Das Transportwesen
steht schon an der Grenze eines katastrophalen Niederbruches. Der Handel ist
vernichtet, ebenso der Staatskredit, was sich in der Entwertung des Geldes
am deutlichsten kundgibt. Die Wohnungen in den Städten sind verwöhnt;
die Holzhäuser finden zu Brennzwecken Verwendung. Kleider und Schuhe der
Bevölkerung sind abgetragen und können kaum erneuert werden. Eisen-, Kohlen-
und Brennholzmangel wird immer fühlbarer. Salz, Petroleum sind kauw
aufzutreiben. Der Pferde- und Viehbestand verringert sich. Der Boden des
nationalisierten Großgrundbesitzes.ist ausgesogen. Ackergeräte und landwirt¬
schaftliche Maschinen sind abgenutzt. Wenn es auch heißt, daß die Näteregierung
Lokomotiven und landwirtschaftliche Maschinen gegen Goldzahlung im Aus¬
lande bestellt habe, so ist das eben der Verbrauch des letzten staatlichen Vorrates


Das Problem des praktischen Bolschewismus

Proletariat an Zahl unterlegen. Als zielbewußte Organisation dagegen war
es der desorganisierten produzierenden und besitzenden Klasse an tatsächlicher
Macht weit überlegen. Erst mit der Erkenntnis dieser Macht und mit der Pro¬
klamation der Diktatur des Proletariats gelangte der praktische Bolschewismus
in Rußland zum Siege.

Das ist das Wesentliche des praktischen Bolschewismus: Diktatur des
Proletariats zur Zeit der Unterproduktion.

Lenins Gedankengang ist ja verblüffend einfach: Rußland hungert; alle
Einwohner Rußlands können nicht mehr satt werden. Dann ist es natürlich, daß
derjenige zunächst satt wird, der der Stärkere ist; das ist infolge seiner Organi¬
sation das Proletariat.

Deshalb erfaßt das Proletariat die noch vorhandenen restlichen Vorräte;
das ist die Nationalisation des Besitzes.

Dann übernimmt das Proletariat die Verteilung der Vorräte unter
möglichst weitgehendem Ausschluß der nichtproletarischen Kreise; das geschieht
in der klassifizierten Verbrauchsnormierung.

Versucht man die erfaßten Vorräte dem Proletariat zu entreißen, so
verlangt es sein Lebensinteresse, sie zu verteidigen; das geschieht durch den
Terror dem inneren Feinde, den Kontrerevolutionären gegenüber und durch
die rote Armee dem äußeren Feinde gegenüber.

Darüber hinaus ist der praktische Bolschewismus in Rußland nicht ge^
kommen, kann es seinem Wesen nach wohl auch kaum.


IV.

Nur dann könnte mit einer Zukunft des Bolschewismus gerechnet werden,
wenn es ihm möglich wäre, die Produktion in Rußland derart zu heben, daß
nicht nur der Verbrauch mit der Produktion ins Gleichgewicht kommt, sondern
auch die bisherige Unterbilanz durch zukünftige Überschüsse aufgewogen wird.

Ist der Bolschewismus dazu imstande?

Bis jetzt hat man nicht das geringste Zeichen von einer wirklichen Hebung
der Produktion durch den Bolschewismus wahrnehmen können. Im Gegenteil:
Die Vorräte und Produktionsmittel des Nationalvermögens werden immer
mehr verwirtschaftet.

Die Fabriken werden immer mehr stillgelegt, teils aus Mangel an Roh"
Stoffen, teils weil die Maschinen beselt geworden sind. Das Transportwesen
steht schon an der Grenze eines katastrophalen Niederbruches. Der Handel ist
vernichtet, ebenso der Staatskredit, was sich in der Entwertung des Geldes
am deutlichsten kundgibt. Die Wohnungen in den Städten sind verwöhnt;
die Holzhäuser finden zu Brennzwecken Verwendung. Kleider und Schuhe der
Bevölkerung sind abgetragen und können kaum erneuert werden. Eisen-, Kohlen-
und Brennholzmangel wird immer fühlbarer. Salz, Petroleum sind kauw
aufzutreiben. Der Pferde- und Viehbestand verringert sich. Der Boden des
nationalisierten Großgrundbesitzes.ist ausgesogen. Ackergeräte und landwirt¬
schaftliche Maschinen sind abgenutzt. Wenn es auch heißt, daß die Näteregierung
Lokomotiven und landwirtschaftliche Maschinen gegen Goldzahlung im Aus¬
lande bestellt habe, so ist das eben der Verbrauch des letzten staatlichen Vorrates


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[0302] Das Problem des praktischen Bolschewismus Proletariat an Zahl unterlegen. Als zielbewußte Organisation dagegen war es der desorganisierten produzierenden und besitzenden Klasse an tatsächlicher Macht weit überlegen. Erst mit der Erkenntnis dieser Macht und mit der Pro¬ klamation der Diktatur des Proletariats gelangte der praktische Bolschewismus in Rußland zum Siege. Das ist das Wesentliche des praktischen Bolschewismus: Diktatur des Proletariats zur Zeit der Unterproduktion. Lenins Gedankengang ist ja verblüffend einfach: Rußland hungert; alle Einwohner Rußlands können nicht mehr satt werden. Dann ist es natürlich, daß derjenige zunächst satt wird, der der Stärkere ist; das ist infolge seiner Organi¬ sation das Proletariat. Deshalb erfaßt das Proletariat die noch vorhandenen restlichen Vorräte; das ist die Nationalisation des Besitzes. Dann übernimmt das Proletariat die Verteilung der Vorräte unter möglichst weitgehendem Ausschluß der nichtproletarischen Kreise; das geschieht in der klassifizierten Verbrauchsnormierung. Versucht man die erfaßten Vorräte dem Proletariat zu entreißen, so verlangt es sein Lebensinteresse, sie zu verteidigen; das geschieht durch den Terror dem inneren Feinde, den Kontrerevolutionären gegenüber und durch die rote Armee dem äußeren Feinde gegenüber. Darüber hinaus ist der praktische Bolschewismus in Rußland nicht ge^ kommen, kann es seinem Wesen nach wohl auch kaum. IV. Nur dann könnte mit einer Zukunft des Bolschewismus gerechnet werden, wenn es ihm möglich wäre, die Produktion in Rußland derart zu heben, daß nicht nur der Verbrauch mit der Produktion ins Gleichgewicht kommt, sondern auch die bisherige Unterbilanz durch zukünftige Überschüsse aufgewogen wird. Ist der Bolschewismus dazu imstande? Bis jetzt hat man nicht das geringste Zeichen von einer wirklichen Hebung der Produktion durch den Bolschewismus wahrnehmen können. Im Gegenteil: Die Vorräte und Produktionsmittel des Nationalvermögens werden immer mehr verwirtschaftet. Die Fabriken werden immer mehr stillgelegt, teils aus Mangel an Roh" Stoffen, teils weil die Maschinen beselt geworden sind. Das Transportwesen steht schon an der Grenze eines katastrophalen Niederbruches. Der Handel ist vernichtet, ebenso der Staatskredit, was sich in der Entwertung des Geldes am deutlichsten kundgibt. Die Wohnungen in den Städten sind verwöhnt; die Holzhäuser finden zu Brennzwecken Verwendung. Kleider und Schuhe der Bevölkerung sind abgetragen und können kaum erneuert werden. Eisen-, Kohlen- und Brennholzmangel wird immer fühlbarer. Salz, Petroleum sind kauw aufzutreiben. Der Pferde- und Viehbestand verringert sich. Der Boden des nationalisierten Großgrundbesitzes.ist ausgesogen. Ackergeräte und landwirt¬ schaftliche Maschinen sind abgenutzt. Wenn es auch heißt, daß die Näteregierung Lokomotiven und landwirtschaftliche Maschinen gegen Goldzahlung im Aus¬ lande bestellt habe, so ist das eben der Verbrauch des letzten staatlichen Vorrates

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/302>, abgerufen am 22.07.2024.