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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Das Problem des prak^/chen Bolschewismus

durch das Vollzugskomitee vollführt wurden. (Oft fiel das Berufliche bei der
Interessenvertretung ganz weg, wie z. B. bei den Flüchtlingen). Die Räte der
einzelnen Betriebe schlössen sich dann zu immer höheren Organisationseinheiten
Zusammen, bis schließlich die gesamte Arbeiterschaft des Reiches in den drei
obersten Räten -- Soldatenrat, Arbeiterrat, Bauernrat Rußlands -- ihre
Vertretung fanden. Das war der Anfang des berühmten Rätesystems. Theo¬
retisch genommen lag ja dem Nätesystem ein gesunder Gedanke zugrunde:
wollte man beim staatlichen Aufbau an keine der bestehenden Organisationen
anknüpfen, so lag es nahe, auf das Organisierende der Arbeit zurückzugreifen.
Es ist nicht zu leugnen, daß die Arbeit, verbunden mit den beruflichen Interessen,
viel sicherer organisiert, als eine politische Idee. Das ist ja auch die Bedeutung
der Zünfte und Gilden gewesen. Das Rätesystem ist ja weiter nichts, als eine
Repristination des Zunftwesens, das unter Umständen staatsbildend wirken
kann.

In der Praxis jedoch kam beim Rätesystem das Klassengegensätzliche zum
Durchbruch. Das hatte zwei Gründe. Erstens gewannen die in kompakten
Massen lebenden Industriearbeiter und die in den Hauptstädten garnisonierten
Reservetruppen beim Organisieren ihrer Räte einen großen Vorsprung der
Bauernschaft und der Frontarmee gegenüber; deshalb waren diese haupt¬
städtischen Arbeiter- und Soldatenräte nachher imstande, die zentrale Macht
im Staate an sich zu reißen. Und zweitens: angesichts der Unterproduktion und
des drohenden Hungers setzte der Verbrauch der Produktionsmittel ein, was die
organisierte Arbeiterschaft in einen scharfen Gegensatz zu den Besitzern der
Produktionsmittel brachte.

So wurde die einseitig proletarische Räteorganisation zu einer Macht im
Staate, der die Demokratie nur die politische Idee des allgemeinen Stimmrechts
entgegenzusetzen hatte.

Die russische Demokratie ging an ihrem Idealismus zugrunde, an ihrem
Glauben an die Macht der politischen Idee und des abstrakten Rechtes. ^

Der Bolschewismus siegte, weil seine Führer erkannt hatten, daß es sich
bei der russischen Revolution weniger um eine politische, als um eine wirtschaft¬
liche Frage handelte. Die Verteilung der letzten Brotrinde während der Hungers-
Seit ist eine Frage der Macht, nicht des Rechtes.

Die Demokratie wollte darüber abstimmen lassen, wer die Verteilung
der letzten Vorräte in die Hand bekommen sollte. Die Hungernden und die
Besitzenden, die Verbraucher und die Produzenten sollten während der Zeit
des chronischen Mangels, während einer Zeit, wo man schon die Produktions¬
mittel verzehrte -- also eine Versammlung von gegensätzlichen Interessenten
sollte auf Grund des allgemeinen Stimmrechts eine gerechte Verteilung der
restlichen Vorräte beschließen!

Lenins Bedeutung besteht nun darin, das Weltfreude einer solchen
demokratischen Politik erkannt und beiseite geschoben zu haben. Die letzten
Vorräte während der Hungerszeit wird derjenige nach seinem Gutdünken ver¬
teilen, der die Macht hat, sie zu erfassen und in seiner Hand zu behalten.

Diese Macht hatte vermittels des Rätesystems das Proletariat erhalten¬
den besitzenden und wirklich produzierenden Klassen gegenüber war ja das


Das Problem des prak^/chen Bolschewismus

durch das Vollzugskomitee vollführt wurden. (Oft fiel das Berufliche bei der
Interessenvertretung ganz weg, wie z. B. bei den Flüchtlingen). Die Räte der
einzelnen Betriebe schlössen sich dann zu immer höheren Organisationseinheiten
Zusammen, bis schließlich die gesamte Arbeiterschaft des Reiches in den drei
obersten Räten — Soldatenrat, Arbeiterrat, Bauernrat Rußlands — ihre
Vertretung fanden. Das war der Anfang des berühmten Rätesystems. Theo¬
retisch genommen lag ja dem Nätesystem ein gesunder Gedanke zugrunde:
wollte man beim staatlichen Aufbau an keine der bestehenden Organisationen
anknüpfen, so lag es nahe, auf das Organisierende der Arbeit zurückzugreifen.
Es ist nicht zu leugnen, daß die Arbeit, verbunden mit den beruflichen Interessen,
viel sicherer organisiert, als eine politische Idee. Das ist ja auch die Bedeutung
der Zünfte und Gilden gewesen. Das Rätesystem ist ja weiter nichts, als eine
Repristination des Zunftwesens, das unter Umständen staatsbildend wirken
kann.

In der Praxis jedoch kam beim Rätesystem das Klassengegensätzliche zum
Durchbruch. Das hatte zwei Gründe. Erstens gewannen die in kompakten
Massen lebenden Industriearbeiter und die in den Hauptstädten garnisonierten
Reservetruppen beim Organisieren ihrer Räte einen großen Vorsprung der
Bauernschaft und der Frontarmee gegenüber; deshalb waren diese haupt¬
städtischen Arbeiter- und Soldatenräte nachher imstande, die zentrale Macht
im Staate an sich zu reißen. Und zweitens: angesichts der Unterproduktion und
des drohenden Hungers setzte der Verbrauch der Produktionsmittel ein, was die
organisierte Arbeiterschaft in einen scharfen Gegensatz zu den Besitzern der
Produktionsmittel brachte.

So wurde die einseitig proletarische Räteorganisation zu einer Macht im
Staate, der die Demokratie nur die politische Idee des allgemeinen Stimmrechts
entgegenzusetzen hatte.

Die russische Demokratie ging an ihrem Idealismus zugrunde, an ihrem
Glauben an die Macht der politischen Idee und des abstrakten Rechtes. ^

Der Bolschewismus siegte, weil seine Führer erkannt hatten, daß es sich
bei der russischen Revolution weniger um eine politische, als um eine wirtschaft¬
liche Frage handelte. Die Verteilung der letzten Brotrinde während der Hungers-
Seit ist eine Frage der Macht, nicht des Rechtes.

Die Demokratie wollte darüber abstimmen lassen, wer die Verteilung
der letzten Vorräte in die Hand bekommen sollte. Die Hungernden und die
Besitzenden, die Verbraucher und die Produzenten sollten während der Zeit
des chronischen Mangels, während einer Zeit, wo man schon die Produktions¬
mittel verzehrte — also eine Versammlung von gegensätzlichen Interessenten
sollte auf Grund des allgemeinen Stimmrechts eine gerechte Verteilung der
restlichen Vorräte beschließen!

Lenins Bedeutung besteht nun darin, das Weltfreude einer solchen
demokratischen Politik erkannt und beiseite geschoben zu haben. Die letzten
Vorräte während der Hungerszeit wird derjenige nach seinem Gutdünken ver¬
teilen, der die Macht hat, sie zu erfassen und in seiner Hand zu behalten.

Diese Macht hatte vermittels des Rätesystems das Proletariat erhalten¬
den besitzenden und wirklich produzierenden Klassen gegenüber war ja das


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[0301] Das Problem des prak^/chen Bolschewismus durch das Vollzugskomitee vollführt wurden. (Oft fiel das Berufliche bei der Interessenvertretung ganz weg, wie z. B. bei den Flüchtlingen). Die Räte der einzelnen Betriebe schlössen sich dann zu immer höheren Organisationseinheiten Zusammen, bis schließlich die gesamte Arbeiterschaft des Reiches in den drei obersten Räten — Soldatenrat, Arbeiterrat, Bauernrat Rußlands — ihre Vertretung fanden. Das war der Anfang des berühmten Rätesystems. Theo¬ retisch genommen lag ja dem Nätesystem ein gesunder Gedanke zugrunde: wollte man beim staatlichen Aufbau an keine der bestehenden Organisationen anknüpfen, so lag es nahe, auf das Organisierende der Arbeit zurückzugreifen. Es ist nicht zu leugnen, daß die Arbeit, verbunden mit den beruflichen Interessen, viel sicherer organisiert, als eine politische Idee. Das ist ja auch die Bedeutung der Zünfte und Gilden gewesen. Das Rätesystem ist ja weiter nichts, als eine Repristination des Zunftwesens, das unter Umständen staatsbildend wirken kann. In der Praxis jedoch kam beim Rätesystem das Klassengegensätzliche zum Durchbruch. Das hatte zwei Gründe. Erstens gewannen die in kompakten Massen lebenden Industriearbeiter und die in den Hauptstädten garnisonierten Reservetruppen beim Organisieren ihrer Räte einen großen Vorsprung der Bauernschaft und der Frontarmee gegenüber; deshalb waren diese haupt¬ städtischen Arbeiter- und Soldatenräte nachher imstande, die zentrale Macht im Staate an sich zu reißen. Und zweitens: angesichts der Unterproduktion und des drohenden Hungers setzte der Verbrauch der Produktionsmittel ein, was die organisierte Arbeiterschaft in einen scharfen Gegensatz zu den Besitzern der Produktionsmittel brachte. So wurde die einseitig proletarische Räteorganisation zu einer Macht im Staate, der die Demokratie nur die politische Idee des allgemeinen Stimmrechts entgegenzusetzen hatte. Die russische Demokratie ging an ihrem Idealismus zugrunde, an ihrem Glauben an die Macht der politischen Idee und des abstrakten Rechtes. ^ Der Bolschewismus siegte, weil seine Führer erkannt hatten, daß es sich bei der russischen Revolution weniger um eine politische, als um eine wirtschaft¬ liche Frage handelte. Die Verteilung der letzten Brotrinde während der Hungers- Seit ist eine Frage der Macht, nicht des Rechtes. Die Demokratie wollte darüber abstimmen lassen, wer die Verteilung der letzten Vorräte in die Hand bekommen sollte. Die Hungernden und die Besitzenden, die Verbraucher und die Produzenten sollten während der Zeit des chronischen Mangels, während einer Zeit, wo man schon die Produktions¬ mittel verzehrte — also eine Versammlung von gegensätzlichen Interessenten sollte auf Grund des allgemeinen Stimmrechts eine gerechte Verteilung der restlichen Vorräte beschließen! Lenins Bedeutung besteht nun darin, das Weltfreude einer solchen demokratischen Politik erkannt und beiseite geschoben zu haben. Die letzten Vorräte während der Hungerszeit wird derjenige nach seinem Gutdünken ver¬ teilen, der die Macht hat, sie zu erfassen und in seiner Hand zu behalten. Diese Macht hatte vermittels des Rätesystems das Proletariat erhalten¬ den besitzenden und wirklich produzierenden Klassen gegenüber war ja das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/301>, abgerufen am 22.07.2024.