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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Aus Geheimberichten an den Grafen Hertling

Die Bedrängung Englands durch den Unterseebootkrieg ist zweifellos sehr
stark. Die Furcht vor der Rationierung sei groß, besonders in den breiten Massen.
Stimmung in der Arbeiterschaft gegen den Krieg, der Widerstand gegen Lloyd
George im Wachsen. Die letzten Luftangriffe auf London hätten in diese Ent¬
wicklung wieder störend im Sinne einer Neüvelebung der Kampfstimmung ein¬
gegriffen. Es sei zu bezweifeln, ob der Druck durch den Unterseebootkrieg genüge,
um die englische Halsstarrigkeit zu beugen, um so mehr, als die Erfolge der
Mission Balfours in Amerika über jede Erwartung günstig seien. Amerika
habe Intervention in stärkster Form zugesagt und gleiche den Verlust aus, den
die Entente durch eventuelles Ausscheiden Rußlands erleide.

Man habe Rußland inEng'l.an^d fast aufgegeben, glaube aber,Deutschland
durch die Verhandlungen, die man seit mehreren Monaten mit Österreich-
Ungarn und der Türkei direkt führe, von der anderen Seite her zu schwächen.
Man habe in London davor gezittert, daß der deutsche Reichskanzler sich glatt
auf den Boden der österreichisch-ungarischen Erklärung gegenüber Rußland
stellen werde, da in diesem Falle das Zustandekommen des Friedens wohl nicht
mehr aufzuhalten gewesen sei.




Zürich, den 2. Juni 1917.

Die aus Amerika vorliegenden Nachrichten lassen keinen Zweifel darüber
zu, daß die Union sich zu einer Kraftanstrengung großen Stils vorbereitet und
daß eine geradezu fieberhafte Kriegsbegeisterung und Kriegstätigkeit herrscht.
Die technischen Hilfsmittel, die die Vereinigten Staaten der Entente zur Ver¬
fügung zu stellen beabsichtigen (Flugzeuge, Telegraphen- und Telephonein¬
richtungen, elektrische Installationen, Maschinengewehre, ferner Medikamente
und chemische Präparate) würden in allergrößten Maßstab geliefert werden,
wobei allerdings das Risiko in Rechnung gesetzt werden muß, das unser Unter-
seeböotskrieg für derartige Transporte bedeutet.




Bern, den 11. Juni 1917.

Die durch den I1-Bootkrieg für England und Frankreich geschaffene Lage
ist zweifellos eine drückende, man wird aber auch bei vorsichtigster Abwägung
aller pro und contra sich dem Eindruck nicht verschließen können, daß an eine
Aushungerung Englands und Frankreichs im Sinne eines Zwanges zur Waffen-
niederlegung nicht mehr zu denken ist und daß die Gefahr für beide Länder
mit jedem Monat der amerikanischen Intervention abnimmt. Wenn wir also
den Unterseebootskrieg tatsächlich als ultirua rstio in die Kriegsschlußrechnung
eingesetzt haben sollten, so sind wir einem Rechenfehler verfallen, der durch
die eben durch den Unterseebootskrieg veranlaßte amerikanische Intervention
nur vergrößert werden kann.

Aus Rußland hört man nichts Bestimmtes. Rußland wird für die Dauer
des Krieges das große Fragezeichen bleiben. Ein ernsthafter Vertragsgegner,
auf dessen Zusicherungen man sich verlassen könnte, ist es kaum, so daß es selbst
für den Fall des Entgegenkommens der augenblicklichen Petersburger Regierung
nicht möglich sein wird, unsere Ostfront zu degarnieren. Es ist dies der Faktor,


Aus Geheimberichten an den Grafen Hertling

Die Bedrängung Englands durch den Unterseebootkrieg ist zweifellos sehr
stark. Die Furcht vor der Rationierung sei groß, besonders in den breiten Massen.
Stimmung in der Arbeiterschaft gegen den Krieg, der Widerstand gegen Lloyd
George im Wachsen. Die letzten Luftangriffe auf London hätten in diese Ent¬
wicklung wieder störend im Sinne einer Neüvelebung der Kampfstimmung ein¬
gegriffen. Es sei zu bezweifeln, ob der Druck durch den Unterseebootkrieg genüge,
um die englische Halsstarrigkeit zu beugen, um so mehr, als die Erfolge der
Mission Balfours in Amerika über jede Erwartung günstig seien. Amerika
habe Intervention in stärkster Form zugesagt und gleiche den Verlust aus, den
die Entente durch eventuelles Ausscheiden Rußlands erleide.

Man habe Rußland inEng'l.an^d fast aufgegeben, glaube aber,Deutschland
durch die Verhandlungen, die man seit mehreren Monaten mit Österreich-
Ungarn und der Türkei direkt führe, von der anderen Seite her zu schwächen.
Man habe in London davor gezittert, daß der deutsche Reichskanzler sich glatt
auf den Boden der österreichisch-ungarischen Erklärung gegenüber Rußland
stellen werde, da in diesem Falle das Zustandekommen des Friedens wohl nicht
mehr aufzuhalten gewesen sei.




Zürich, den 2. Juni 1917.

Die aus Amerika vorliegenden Nachrichten lassen keinen Zweifel darüber
zu, daß die Union sich zu einer Kraftanstrengung großen Stils vorbereitet und
daß eine geradezu fieberhafte Kriegsbegeisterung und Kriegstätigkeit herrscht.
Die technischen Hilfsmittel, die die Vereinigten Staaten der Entente zur Ver¬
fügung zu stellen beabsichtigen (Flugzeuge, Telegraphen- und Telephonein¬
richtungen, elektrische Installationen, Maschinengewehre, ferner Medikamente
und chemische Präparate) würden in allergrößten Maßstab geliefert werden,
wobei allerdings das Risiko in Rechnung gesetzt werden muß, das unser Unter-
seeböotskrieg für derartige Transporte bedeutet.




Bern, den 11. Juni 1917.

Die durch den I1-Bootkrieg für England und Frankreich geschaffene Lage
ist zweifellos eine drückende, man wird aber auch bei vorsichtigster Abwägung
aller pro und contra sich dem Eindruck nicht verschließen können, daß an eine
Aushungerung Englands und Frankreichs im Sinne eines Zwanges zur Waffen-
niederlegung nicht mehr zu denken ist und daß die Gefahr für beide Länder
mit jedem Monat der amerikanischen Intervention abnimmt. Wenn wir also
den Unterseebootskrieg tatsächlich als ultirua rstio in die Kriegsschlußrechnung
eingesetzt haben sollten, so sind wir einem Rechenfehler verfallen, der durch
die eben durch den Unterseebootskrieg veranlaßte amerikanische Intervention
nur vergrößert werden kann.

Aus Rußland hört man nichts Bestimmtes. Rußland wird für die Dauer
des Krieges das große Fragezeichen bleiben. Ein ernsthafter Vertragsgegner,
auf dessen Zusicherungen man sich verlassen könnte, ist es kaum, so daß es selbst
für den Fall des Entgegenkommens der augenblicklichen Petersburger Regierung
nicht möglich sein wird, unsere Ostfront zu degarnieren. Es ist dies der Faktor,


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[0271] Aus Geheimberichten an den Grafen Hertling Die Bedrängung Englands durch den Unterseebootkrieg ist zweifellos sehr stark. Die Furcht vor der Rationierung sei groß, besonders in den breiten Massen. Stimmung in der Arbeiterschaft gegen den Krieg, der Widerstand gegen Lloyd George im Wachsen. Die letzten Luftangriffe auf London hätten in diese Ent¬ wicklung wieder störend im Sinne einer Neüvelebung der Kampfstimmung ein¬ gegriffen. Es sei zu bezweifeln, ob der Druck durch den Unterseebootkrieg genüge, um die englische Halsstarrigkeit zu beugen, um so mehr, als die Erfolge der Mission Balfours in Amerika über jede Erwartung günstig seien. Amerika habe Intervention in stärkster Form zugesagt und gleiche den Verlust aus, den die Entente durch eventuelles Ausscheiden Rußlands erleide. Man habe Rußland inEng'l.an^d fast aufgegeben, glaube aber,Deutschland durch die Verhandlungen, die man seit mehreren Monaten mit Österreich- Ungarn und der Türkei direkt führe, von der anderen Seite her zu schwächen. Man habe in London davor gezittert, daß der deutsche Reichskanzler sich glatt auf den Boden der österreichisch-ungarischen Erklärung gegenüber Rußland stellen werde, da in diesem Falle das Zustandekommen des Friedens wohl nicht mehr aufzuhalten gewesen sei. Zürich, den 2. Juni 1917. Die aus Amerika vorliegenden Nachrichten lassen keinen Zweifel darüber zu, daß die Union sich zu einer Kraftanstrengung großen Stils vorbereitet und daß eine geradezu fieberhafte Kriegsbegeisterung und Kriegstätigkeit herrscht. Die technischen Hilfsmittel, die die Vereinigten Staaten der Entente zur Ver¬ fügung zu stellen beabsichtigen (Flugzeuge, Telegraphen- und Telephonein¬ richtungen, elektrische Installationen, Maschinengewehre, ferner Medikamente und chemische Präparate) würden in allergrößten Maßstab geliefert werden, wobei allerdings das Risiko in Rechnung gesetzt werden muß, das unser Unter- seeböotskrieg für derartige Transporte bedeutet. Bern, den 11. Juni 1917. Die durch den I1-Bootkrieg für England und Frankreich geschaffene Lage ist zweifellos eine drückende, man wird aber auch bei vorsichtigster Abwägung aller pro und contra sich dem Eindruck nicht verschließen können, daß an eine Aushungerung Englands und Frankreichs im Sinne eines Zwanges zur Waffen- niederlegung nicht mehr zu denken ist und daß die Gefahr für beide Länder mit jedem Monat der amerikanischen Intervention abnimmt. Wenn wir also den Unterseebootskrieg tatsächlich als ultirua rstio in die Kriegsschlußrechnung eingesetzt haben sollten, so sind wir einem Rechenfehler verfallen, der durch die eben durch den Unterseebootskrieg veranlaßte amerikanische Intervention nur vergrößert werden kann. Aus Rußland hört man nichts Bestimmtes. Rußland wird für die Dauer des Krieges das große Fragezeichen bleiben. Ein ernsthafter Vertragsgegner, auf dessen Zusicherungen man sich verlassen könnte, ist es kaum, so daß es selbst für den Fall des Entgegenkommens der augenblicklichen Petersburger Regierung nicht möglich sein wird, unsere Ostfront zu degarnieren. Es ist dies der Faktor,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/271>, abgerufen am 01.07.2024.