Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Meltsxiegel

Propaganda und den von ihren Ideen ausgehenden Reiz zu lahmen, bekanntlich
ist viel für Judenitsch und Denikin bestimmtes Kriegsmaterial durch englische
Arbeiter selbst unbrauchbar gemacht worden, aber englische Arbeiterführer selbst
haben jetzt, von Enquetereisen durch Rußland zurückgekehrt, erklären müssen, daß
sich für den Westen das Sowjetsystem nicht eignet. Andererseits ist auch die in
diesem Jahre angesetzte zweite, von Polen (und der Krim) ausgehende Entente¬
offensive, die sich ums Haar zu einem allgemeinen Randstaatenangriff durch
Finnland, Polen, Ungarn, Rumänien ausgewachsen hätte, bei den wachsenden
inneren Schwierigkeiten sür die Sowjets bedrohlich genug, und offenbar gelingt
es ihnen nur durch die stetige Betonung ihrer Friedensbereitschaft und des mithin
lediglich defensiven Charakters ihrer militärischen Gegenmaßnahmen, die Kräfte
des eigenen Landes bei der Stange zu halten. Und wenn auch der Erfolg der
Offensive in Georgien und Persien ein Plus bedeutet, so wissen die Sowjets
recht wohl, daß von Enseli und Täbris nach Kalkutta und Bombay noch ein
recht weiter Weg ist, daß sich mit zunehmenden Schwierigkeiten in Europa die
Nandstaat n immer fester konsolidieren und daß jeder weitere Kriegsmonat dem
hier und da schon ernstlich ersehnten Bauernzaren den Weg fester bereiten kann.
Besser also das Errungene bewahren und die Hand zum Frieden bieten.

Auf der anderen Seite hat auch der Gegner ein Interesse daran, diese
Hand zu ergreifen und festzuhalten. Allerdings muß ihm daran gelegen sein, den
russischen Koloß weiter zu schwächen, seine inneren Schwierigkeiten zu vermehren
und zu verlängern, ihn durch fortgesetzte Beunruhigung von außen von den
Hauptpunkten, dem jetzt glücklich fest besetzten Konstantinopel, das es gutwillig
niemals wieder herausgeben wird (das Heranrücken der Anatolier auf der klein-
asiatischen Seite ist militärisch völlig bedeutungslos) und von der Ostseestellung
(Aalcmdsinseln!) abzulenken. Aber die bolschewistische Offensive in Mittelasien ist
doch, zumal bei den Schwierigkeiten in Mesopotamien und der wachsenden Kriegs¬
müdigkeit des englischen Volkes selbst, bedrohlich genug, um ein Ende als wünschens¬
wert erscheinen zu lassen. Vor allem aber zwingt in immer stärkerem Maße die
wachsende Erkenntnis von der Gefährlichkeit des amerikanischen Wettbewerbs die
Engländer schon feit dem Januar zu einer völligen Umorientierung ihrer gesamt¬
europäischen Politik. Noch ist allerdings Amerika daran, die Folgen des Krieges
im Innern zu überwinden, aber schon wachsen seine Kriegs- und Handelsflotten
ins Bedenkliche, schon beginnt es mit Hilfe seines übermächtigen Schiffsraumes
nicht nur Südamerika, sondern auch Afrika und Südostasien in seine Interessen¬
sphäre zu ziehen, schon trifft es Anstalten, seinen Schiffsraum durch Sicherung
der mexikanischen Ölquellen auch für die Zukunft aktionsfähig zu halten --
Carrcmzas Tod spricht in diesem Zusammenhang deutlich genug (siehe Grenz¬
boten 1919, Heft 52). Wird es länger als fünfzig Jahre dauern, bis Kanada und
Australien ernsthaft durch die neu aufgehende Machtsonne bedroht werden? Aber
England ist nicht das Land, dergleichen Möglichkeiten mit fatalistischer Gelassenheit
hinzunehmen, es rafft sich zur Abwehr zusammen. Zunächst hat es durch sehr
beträchtliche Steueropfer seine Finanzen neu gefestigt. Jetzt ist es daran, seine
Aktionsbasis zu erweitern und zu verstärken. Der Unterseebootkrieg ist eine furcht¬
bare Lehre gewesen. Was Deutschland mit seinen unzureichenden und improvisierten
Mitteln nicht gelang, könnte eines Tages den auf lange Sicht arbeitenden gro߬
zügigen Amerikanern gelingen: Großbritannien von den Dominions zu isolieren,
die englische Weltaktion in Stücke zu schlagen. Ein Jahr lang rücksichtslos durch¬
geführter Weltseekrieg, den die Vereinigten Staaten nicht jetzt, aber wohl in
dreißig oder vierzig Jahren aus eigener Kraft durchzuführen vermöchten, würde
die Dominions vom Mutterlande nahezu völlig isolieren, England auspowern
können. Die Parole darf daher nicht mehr lauten: Großbritannien gegen Amerika,
sie muß heißen: Europa (unter englischer Führung) gegen Amerika. Ein geeinigtes,
in sich gefestigtes, wieder aufgeblühtes Europa, dessen Herz nicht Deutschland,
wohl aber England ist: das muß für die nächsten Jahrzehnte das Hauptziel
englischer Politik sein. Man wird die europäischen Staaten nur so weit gegen-


Meltsxiegel

Propaganda und den von ihren Ideen ausgehenden Reiz zu lahmen, bekanntlich
ist viel für Judenitsch und Denikin bestimmtes Kriegsmaterial durch englische
Arbeiter selbst unbrauchbar gemacht worden, aber englische Arbeiterführer selbst
haben jetzt, von Enquetereisen durch Rußland zurückgekehrt, erklären müssen, daß
sich für den Westen das Sowjetsystem nicht eignet. Andererseits ist auch die in
diesem Jahre angesetzte zweite, von Polen (und der Krim) ausgehende Entente¬
offensive, die sich ums Haar zu einem allgemeinen Randstaatenangriff durch
Finnland, Polen, Ungarn, Rumänien ausgewachsen hätte, bei den wachsenden
inneren Schwierigkeiten sür die Sowjets bedrohlich genug, und offenbar gelingt
es ihnen nur durch die stetige Betonung ihrer Friedensbereitschaft und des mithin
lediglich defensiven Charakters ihrer militärischen Gegenmaßnahmen, die Kräfte
des eigenen Landes bei der Stange zu halten. Und wenn auch der Erfolg der
Offensive in Georgien und Persien ein Plus bedeutet, so wissen die Sowjets
recht wohl, daß von Enseli und Täbris nach Kalkutta und Bombay noch ein
recht weiter Weg ist, daß sich mit zunehmenden Schwierigkeiten in Europa die
Nandstaat n immer fester konsolidieren und daß jeder weitere Kriegsmonat dem
hier und da schon ernstlich ersehnten Bauernzaren den Weg fester bereiten kann.
Besser also das Errungene bewahren und die Hand zum Frieden bieten.

Auf der anderen Seite hat auch der Gegner ein Interesse daran, diese
Hand zu ergreifen und festzuhalten. Allerdings muß ihm daran gelegen sein, den
russischen Koloß weiter zu schwächen, seine inneren Schwierigkeiten zu vermehren
und zu verlängern, ihn durch fortgesetzte Beunruhigung von außen von den
Hauptpunkten, dem jetzt glücklich fest besetzten Konstantinopel, das es gutwillig
niemals wieder herausgeben wird (das Heranrücken der Anatolier auf der klein-
asiatischen Seite ist militärisch völlig bedeutungslos) und von der Ostseestellung
(Aalcmdsinseln!) abzulenken. Aber die bolschewistische Offensive in Mittelasien ist
doch, zumal bei den Schwierigkeiten in Mesopotamien und der wachsenden Kriegs¬
müdigkeit des englischen Volkes selbst, bedrohlich genug, um ein Ende als wünschens¬
wert erscheinen zu lassen. Vor allem aber zwingt in immer stärkerem Maße die
wachsende Erkenntnis von der Gefährlichkeit des amerikanischen Wettbewerbs die
Engländer schon feit dem Januar zu einer völligen Umorientierung ihrer gesamt¬
europäischen Politik. Noch ist allerdings Amerika daran, die Folgen des Krieges
im Innern zu überwinden, aber schon wachsen seine Kriegs- und Handelsflotten
ins Bedenkliche, schon beginnt es mit Hilfe seines übermächtigen Schiffsraumes
nicht nur Südamerika, sondern auch Afrika und Südostasien in seine Interessen¬
sphäre zu ziehen, schon trifft es Anstalten, seinen Schiffsraum durch Sicherung
der mexikanischen Ölquellen auch für die Zukunft aktionsfähig zu halten —
Carrcmzas Tod spricht in diesem Zusammenhang deutlich genug (siehe Grenz¬
boten 1919, Heft 52). Wird es länger als fünfzig Jahre dauern, bis Kanada und
Australien ernsthaft durch die neu aufgehende Machtsonne bedroht werden? Aber
England ist nicht das Land, dergleichen Möglichkeiten mit fatalistischer Gelassenheit
hinzunehmen, es rafft sich zur Abwehr zusammen. Zunächst hat es durch sehr
beträchtliche Steueropfer seine Finanzen neu gefestigt. Jetzt ist es daran, seine
Aktionsbasis zu erweitern und zu verstärken. Der Unterseebootkrieg ist eine furcht¬
bare Lehre gewesen. Was Deutschland mit seinen unzureichenden und improvisierten
Mitteln nicht gelang, könnte eines Tages den auf lange Sicht arbeitenden gro߬
zügigen Amerikanern gelingen: Großbritannien von den Dominions zu isolieren,
die englische Weltaktion in Stücke zu schlagen. Ein Jahr lang rücksichtslos durch¬
geführter Weltseekrieg, den die Vereinigten Staaten nicht jetzt, aber wohl in
dreißig oder vierzig Jahren aus eigener Kraft durchzuführen vermöchten, würde
die Dominions vom Mutterlande nahezu völlig isolieren, England auspowern
können. Die Parole darf daher nicht mehr lauten: Großbritannien gegen Amerika,
sie muß heißen: Europa (unter englischer Führung) gegen Amerika. Ein geeinigtes,
in sich gefestigtes, wieder aufgeblühtes Europa, dessen Herz nicht Deutschland,
wohl aber England ist: das muß für die nächsten Jahrzehnte das Hauptziel
englischer Politik sein. Man wird die europäischen Staaten nur so weit gegen-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0389" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337626"/>
          <fw type="header" place="top"> Meltsxiegel</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1345" prev="#ID_1344"> Propaganda und den von ihren Ideen ausgehenden Reiz zu lahmen, bekanntlich<lb/>
ist viel für Judenitsch und Denikin bestimmtes Kriegsmaterial durch englische<lb/>
Arbeiter selbst unbrauchbar gemacht worden, aber englische Arbeiterführer selbst<lb/>
haben jetzt, von Enquetereisen durch Rußland zurückgekehrt, erklären müssen, daß<lb/>
sich für den Westen das Sowjetsystem nicht eignet. Andererseits ist auch die in<lb/>
diesem Jahre angesetzte zweite, von Polen (und der Krim) ausgehende Entente¬<lb/>
offensive, die sich ums Haar zu einem allgemeinen Randstaatenangriff durch<lb/>
Finnland, Polen, Ungarn, Rumänien ausgewachsen hätte, bei den wachsenden<lb/>
inneren Schwierigkeiten sür die Sowjets bedrohlich genug, und offenbar gelingt<lb/>
es ihnen nur durch die stetige Betonung ihrer Friedensbereitschaft und des mithin<lb/>
lediglich defensiven Charakters ihrer militärischen Gegenmaßnahmen, die Kräfte<lb/>
des eigenen Landes bei der Stange zu halten. Und wenn auch der Erfolg der<lb/>
Offensive in Georgien und Persien ein Plus bedeutet, so wissen die Sowjets<lb/>
recht wohl, daß von Enseli und Täbris nach Kalkutta und Bombay noch ein<lb/>
recht weiter Weg ist, daß sich mit zunehmenden Schwierigkeiten in Europa die<lb/>
Nandstaat n immer fester konsolidieren und daß jeder weitere Kriegsmonat dem<lb/>
hier und da schon ernstlich ersehnten Bauernzaren den Weg fester bereiten kann.<lb/>
Besser also das Errungene bewahren und die Hand zum Frieden bieten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1346" next="#ID_1347"> Auf der anderen Seite hat auch der Gegner ein Interesse daran, diese<lb/>
Hand zu ergreifen und festzuhalten. Allerdings muß ihm daran gelegen sein, den<lb/>
russischen Koloß weiter zu schwächen, seine inneren Schwierigkeiten zu vermehren<lb/>
und zu verlängern, ihn durch fortgesetzte Beunruhigung von außen von den<lb/>
Hauptpunkten, dem jetzt glücklich fest besetzten Konstantinopel, das es gutwillig<lb/>
niemals wieder herausgeben wird (das Heranrücken der Anatolier auf der klein-<lb/>
asiatischen Seite ist militärisch völlig bedeutungslos) und von der Ostseestellung<lb/>
(Aalcmdsinseln!) abzulenken. Aber die bolschewistische Offensive in Mittelasien ist<lb/>
doch, zumal bei den Schwierigkeiten in Mesopotamien und der wachsenden Kriegs¬<lb/>
müdigkeit des englischen Volkes selbst, bedrohlich genug, um ein Ende als wünschens¬<lb/>
wert erscheinen zu lassen. Vor allem aber zwingt in immer stärkerem Maße die<lb/>
wachsende Erkenntnis von der Gefährlichkeit des amerikanischen Wettbewerbs die<lb/>
Engländer schon feit dem Januar zu einer völligen Umorientierung ihrer gesamt¬<lb/>
europäischen Politik. Noch ist allerdings Amerika daran, die Folgen des Krieges<lb/>
im Innern zu überwinden, aber schon wachsen seine Kriegs- und Handelsflotten<lb/>
ins Bedenkliche, schon beginnt es mit Hilfe seines übermächtigen Schiffsraumes<lb/>
nicht nur Südamerika, sondern auch Afrika und Südostasien in seine Interessen¬<lb/>
sphäre zu ziehen, schon trifft es Anstalten, seinen Schiffsraum durch Sicherung<lb/>
der mexikanischen Ölquellen auch für die Zukunft aktionsfähig zu halten &#x2014;<lb/>
Carrcmzas Tod spricht in diesem Zusammenhang deutlich genug (siehe Grenz¬<lb/>
boten 1919, Heft 52). Wird es länger als fünfzig Jahre dauern, bis Kanada und<lb/>
Australien ernsthaft durch die neu aufgehende Machtsonne bedroht werden? Aber<lb/>
England ist nicht das Land, dergleichen Möglichkeiten mit fatalistischer Gelassenheit<lb/>
hinzunehmen, es rafft sich zur Abwehr zusammen. Zunächst hat es durch sehr<lb/>
beträchtliche Steueropfer seine Finanzen neu gefestigt. Jetzt ist es daran, seine<lb/>
Aktionsbasis zu erweitern und zu verstärken. Der Unterseebootkrieg ist eine furcht¬<lb/>
bare Lehre gewesen. Was Deutschland mit seinen unzureichenden und improvisierten<lb/>
Mitteln nicht gelang, könnte eines Tages den auf lange Sicht arbeitenden gro߬<lb/>
zügigen Amerikanern gelingen: Großbritannien von den Dominions zu isolieren,<lb/>
die englische Weltaktion in Stücke zu schlagen. Ein Jahr lang rücksichtslos durch¬<lb/>
geführter Weltseekrieg, den die Vereinigten Staaten nicht jetzt, aber wohl in<lb/>
dreißig oder vierzig Jahren aus eigener Kraft durchzuführen vermöchten, würde<lb/>
die Dominions vom Mutterlande nahezu völlig isolieren, England auspowern<lb/>
können. Die Parole darf daher nicht mehr lauten: Großbritannien gegen Amerika,<lb/>
sie muß heißen: Europa (unter englischer Führung) gegen Amerika. Ein geeinigtes,<lb/>
in sich gefestigtes, wieder aufgeblühtes Europa, dessen Herz nicht Deutschland,<lb/>
wohl aber England ist: das muß für die nächsten Jahrzehnte das Hauptziel<lb/>
englischer Politik sein. Man wird die europäischen Staaten nur so weit gegen-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0389] Meltsxiegel Propaganda und den von ihren Ideen ausgehenden Reiz zu lahmen, bekanntlich ist viel für Judenitsch und Denikin bestimmtes Kriegsmaterial durch englische Arbeiter selbst unbrauchbar gemacht worden, aber englische Arbeiterführer selbst haben jetzt, von Enquetereisen durch Rußland zurückgekehrt, erklären müssen, daß sich für den Westen das Sowjetsystem nicht eignet. Andererseits ist auch die in diesem Jahre angesetzte zweite, von Polen (und der Krim) ausgehende Entente¬ offensive, die sich ums Haar zu einem allgemeinen Randstaatenangriff durch Finnland, Polen, Ungarn, Rumänien ausgewachsen hätte, bei den wachsenden inneren Schwierigkeiten sür die Sowjets bedrohlich genug, und offenbar gelingt es ihnen nur durch die stetige Betonung ihrer Friedensbereitschaft und des mithin lediglich defensiven Charakters ihrer militärischen Gegenmaßnahmen, die Kräfte des eigenen Landes bei der Stange zu halten. Und wenn auch der Erfolg der Offensive in Georgien und Persien ein Plus bedeutet, so wissen die Sowjets recht wohl, daß von Enseli und Täbris nach Kalkutta und Bombay noch ein recht weiter Weg ist, daß sich mit zunehmenden Schwierigkeiten in Europa die Nandstaat n immer fester konsolidieren und daß jeder weitere Kriegsmonat dem hier und da schon ernstlich ersehnten Bauernzaren den Weg fester bereiten kann. Besser also das Errungene bewahren und die Hand zum Frieden bieten. Auf der anderen Seite hat auch der Gegner ein Interesse daran, diese Hand zu ergreifen und festzuhalten. Allerdings muß ihm daran gelegen sein, den russischen Koloß weiter zu schwächen, seine inneren Schwierigkeiten zu vermehren und zu verlängern, ihn durch fortgesetzte Beunruhigung von außen von den Hauptpunkten, dem jetzt glücklich fest besetzten Konstantinopel, das es gutwillig niemals wieder herausgeben wird (das Heranrücken der Anatolier auf der klein- asiatischen Seite ist militärisch völlig bedeutungslos) und von der Ostseestellung (Aalcmdsinseln!) abzulenken. Aber die bolschewistische Offensive in Mittelasien ist doch, zumal bei den Schwierigkeiten in Mesopotamien und der wachsenden Kriegs¬ müdigkeit des englischen Volkes selbst, bedrohlich genug, um ein Ende als wünschens¬ wert erscheinen zu lassen. Vor allem aber zwingt in immer stärkerem Maße die wachsende Erkenntnis von der Gefährlichkeit des amerikanischen Wettbewerbs die Engländer schon feit dem Januar zu einer völligen Umorientierung ihrer gesamt¬ europäischen Politik. Noch ist allerdings Amerika daran, die Folgen des Krieges im Innern zu überwinden, aber schon wachsen seine Kriegs- und Handelsflotten ins Bedenkliche, schon beginnt es mit Hilfe seines übermächtigen Schiffsraumes nicht nur Südamerika, sondern auch Afrika und Südostasien in seine Interessen¬ sphäre zu ziehen, schon trifft es Anstalten, seinen Schiffsraum durch Sicherung der mexikanischen Ölquellen auch für die Zukunft aktionsfähig zu halten — Carrcmzas Tod spricht in diesem Zusammenhang deutlich genug (siehe Grenz¬ boten 1919, Heft 52). Wird es länger als fünfzig Jahre dauern, bis Kanada und Australien ernsthaft durch die neu aufgehende Machtsonne bedroht werden? Aber England ist nicht das Land, dergleichen Möglichkeiten mit fatalistischer Gelassenheit hinzunehmen, es rafft sich zur Abwehr zusammen. Zunächst hat es durch sehr beträchtliche Steueropfer seine Finanzen neu gefestigt. Jetzt ist es daran, seine Aktionsbasis zu erweitern und zu verstärken. Der Unterseebootkrieg ist eine furcht¬ bare Lehre gewesen. Was Deutschland mit seinen unzureichenden und improvisierten Mitteln nicht gelang, könnte eines Tages den auf lange Sicht arbeitenden gro߬ zügigen Amerikanern gelingen: Großbritannien von den Dominions zu isolieren, die englische Weltaktion in Stücke zu schlagen. Ein Jahr lang rücksichtslos durch¬ geführter Weltseekrieg, den die Vereinigten Staaten nicht jetzt, aber wohl in dreißig oder vierzig Jahren aus eigener Kraft durchzuführen vermöchten, würde die Dominions vom Mutterlande nahezu völlig isolieren, England auspowern können. Die Parole darf daher nicht mehr lauten: Großbritannien gegen Amerika, sie muß heißen: Europa (unter englischer Führung) gegen Amerika. Ein geeinigtes, in sich gefestigtes, wieder aufgeblühtes Europa, dessen Herz nicht Deutschland, wohl aber England ist: das muß für die nächsten Jahrzehnte das Hauptziel englischer Politik sein. Man wird die europäischen Staaten nur so weit gegen-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/389
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/389>, abgerufen am 22.07.2024.