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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Grenzdeutschtum

Volk ist gutmütig und hilfsbereit und die Bundesgenossenschaft während des
Krieges ist noch nicht vergessen. Für die Anschlußwünsche der 10 Millionen
Deutsch-Österreicher aber, für den großen Gedanken einer Wiedervereinigung
dieses größten abgesprengten Volkskörpers fehlt wiederum in den weitesten
Kreisen unseres Volkes das Verständnis fast vollkommen. Die großdeutsche
Idee ist ein Programm, wie man so viele in den letzten Jahren scheitern sah.
Es wird mit dem Kopf erfaßt und stößt auf die kühle Skepsis oder auch die
nüchterne Anerkennung, die beide im Hirn ihren Sitz haben. Von der Leiden¬
schaft des Herzens, die allem einer politischen Idee Blut und Leben gibt, ist
auch hier wenig oder nichts zu spüren. Statt erregter Bereitschaft zu neuen
Zielen sehen wir allenthalben ein mattes Zurücksinken in überwundene partiku-
laristische Denkgewöhnungen. Statt kräftiger Anziehung bislang abgetrennter
Volksteile sind vielmehr Anzeichen innerer Reibung und gegenseitiger Abstoßung
der bisher Verbundenen bemerklich. Wir beginnen wieder, wie in allen Zeiten
deutschen Niederganges, zuvörderst und in der Hauptsache als Bayern und
Preußen, ja als Rheinländer, Oberschlesier und Danziger zu fühlen, statt in
der organischen Einfügung aller Sonderwünsche und Sondergefühle in den
einen deutschen Gemeinschaftswillen heute allein die Rettung zu suchen.

Leibgemeinschaft des Volksganzen muß aber auch das feinste Gefühl
dafür entwickeln, in welchen Formen wir uns für jeden einzelnen Volksteil an
den Grenzen unseres verengten Vaterlandes einsetzen sollen und können. Nie
dürfen wir vergessen, daß auch der Staat und seine Behörden nur Organe
der Volksgemeinschaft sind, daß wir durch plumpe politische Aktionen in vielen
Fällen unseren Volksgenossen jenseits der neuen Reichsgrenzen nur schaden und
gar nicht helfen können. Das Reich wird sich vielfach sehr zu bescheiden
haben. Aber das Volk soll trotzdem handeln. Das Band der Liebe und
Treue kann durch Staatsverträge nicht durchschnitten werden. Beziehungen
von Mensch zu Mensch und von Haus zu Haus müssen gepflegt und neu ge¬
knüpft werden. Die Bindung des Volkstums in Sprache und Kultur verlangt
einen Austausch und eine Gemeinschaft geistiger Güter, die nichts mit politischen
Machenschaften zu tun haben. Auf diesem Gebiete der Pflege des Grenz-
deutschlums, das der Aktivität des Staates zum großen Teil entzogen ist, steht
der lebendigen Aktivität des Volkes eine Fülle neuer Aufgaben offen, die mit
warmem Herzen ergriffen und mit zähem Willen durchgeführt sein wollen.

Aber nicht über das gesamte Grenzdeutschtum ist die unabänderliche Ent¬
scheidung gefallen. Breite Striche in Nord und Ost und West sollen selber
ihren Willen kund tun, und niemand kann es uns verargen, daß wir alle
Kräfte -- und hier nicht die kulturellen allein, sondern auch die politischen
und wirtschaftlichen -- daran setzen, um in diesen Abstimmungsgebieten zu
rette", was noch zu retten ist. Wir führen auch da den Kampf unter den
ungünstigsten Bedingungen, da nicht Neutrale sondern Feinde über der Ab¬
stimmung wachen werden. Ihnen stehen alle Möglichkeiten der Propaganda


Grenzdeutschtum

Volk ist gutmütig und hilfsbereit und die Bundesgenossenschaft während des
Krieges ist noch nicht vergessen. Für die Anschlußwünsche der 10 Millionen
Deutsch-Österreicher aber, für den großen Gedanken einer Wiedervereinigung
dieses größten abgesprengten Volkskörpers fehlt wiederum in den weitesten
Kreisen unseres Volkes das Verständnis fast vollkommen. Die großdeutsche
Idee ist ein Programm, wie man so viele in den letzten Jahren scheitern sah.
Es wird mit dem Kopf erfaßt und stößt auf die kühle Skepsis oder auch die
nüchterne Anerkennung, die beide im Hirn ihren Sitz haben. Von der Leiden¬
schaft des Herzens, die allem einer politischen Idee Blut und Leben gibt, ist
auch hier wenig oder nichts zu spüren. Statt erregter Bereitschaft zu neuen
Zielen sehen wir allenthalben ein mattes Zurücksinken in überwundene partiku-
laristische Denkgewöhnungen. Statt kräftiger Anziehung bislang abgetrennter
Volksteile sind vielmehr Anzeichen innerer Reibung und gegenseitiger Abstoßung
der bisher Verbundenen bemerklich. Wir beginnen wieder, wie in allen Zeiten
deutschen Niederganges, zuvörderst und in der Hauptsache als Bayern und
Preußen, ja als Rheinländer, Oberschlesier und Danziger zu fühlen, statt in
der organischen Einfügung aller Sonderwünsche und Sondergefühle in den
einen deutschen Gemeinschaftswillen heute allein die Rettung zu suchen.

Leibgemeinschaft des Volksganzen muß aber auch das feinste Gefühl
dafür entwickeln, in welchen Formen wir uns für jeden einzelnen Volksteil an
den Grenzen unseres verengten Vaterlandes einsetzen sollen und können. Nie
dürfen wir vergessen, daß auch der Staat und seine Behörden nur Organe
der Volksgemeinschaft sind, daß wir durch plumpe politische Aktionen in vielen
Fällen unseren Volksgenossen jenseits der neuen Reichsgrenzen nur schaden und
gar nicht helfen können. Das Reich wird sich vielfach sehr zu bescheiden
haben. Aber das Volk soll trotzdem handeln. Das Band der Liebe und
Treue kann durch Staatsverträge nicht durchschnitten werden. Beziehungen
von Mensch zu Mensch und von Haus zu Haus müssen gepflegt und neu ge¬
knüpft werden. Die Bindung des Volkstums in Sprache und Kultur verlangt
einen Austausch und eine Gemeinschaft geistiger Güter, die nichts mit politischen
Machenschaften zu tun haben. Auf diesem Gebiete der Pflege des Grenz-
deutschlums, das der Aktivität des Staates zum großen Teil entzogen ist, steht
der lebendigen Aktivität des Volkes eine Fülle neuer Aufgaben offen, die mit
warmem Herzen ergriffen und mit zähem Willen durchgeführt sein wollen.

Aber nicht über das gesamte Grenzdeutschtum ist die unabänderliche Ent¬
scheidung gefallen. Breite Striche in Nord und Ost und West sollen selber
ihren Willen kund tun, und niemand kann es uns verargen, daß wir alle
Kräfte — und hier nicht die kulturellen allein, sondern auch die politischen
und wirtschaftlichen — daran setzen, um in diesen Abstimmungsgebieten zu
rette», was noch zu retten ist. Wir führen auch da den Kampf unter den
ungünstigsten Bedingungen, da nicht Neutrale sondern Feinde über der Ab¬
stimmung wachen werden. Ihnen stehen alle Möglichkeiten der Propaganda


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[0034] Grenzdeutschtum Volk ist gutmütig und hilfsbereit und die Bundesgenossenschaft während des Krieges ist noch nicht vergessen. Für die Anschlußwünsche der 10 Millionen Deutsch-Österreicher aber, für den großen Gedanken einer Wiedervereinigung dieses größten abgesprengten Volkskörpers fehlt wiederum in den weitesten Kreisen unseres Volkes das Verständnis fast vollkommen. Die großdeutsche Idee ist ein Programm, wie man so viele in den letzten Jahren scheitern sah. Es wird mit dem Kopf erfaßt und stößt auf die kühle Skepsis oder auch die nüchterne Anerkennung, die beide im Hirn ihren Sitz haben. Von der Leiden¬ schaft des Herzens, die allem einer politischen Idee Blut und Leben gibt, ist auch hier wenig oder nichts zu spüren. Statt erregter Bereitschaft zu neuen Zielen sehen wir allenthalben ein mattes Zurücksinken in überwundene partiku- laristische Denkgewöhnungen. Statt kräftiger Anziehung bislang abgetrennter Volksteile sind vielmehr Anzeichen innerer Reibung und gegenseitiger Abstoßung der bisher Verbundenen bemerklich. Wir beginnen wieder, wie in allen Zeiten deutschen Niederganges, zuvörderst und in der Hauptsache als Bayern und Preußen, ja als Rheinländer, Oberschlesier und Danziger zu fühlen, statt in der organischen Einfügung aller Sonderwünsche und Sondergefühle in den einen deutschen Gemeinschaftswillen heute allein die Rettung zu suchen. Leibgemeinschaft des Volksganzen muß aber auch das feinste Gefühl dafür entwickeln, in welchen Formen wir uns für jeden einzelnen Volksteil an den Grenzen unseres verengten Vaterlandes einsetzen sollen und können. Nie dürfen wir vergessen, daß auch der Staat und seine Behörden nur Organe der Volksgemeinschaft sind, daß wir durch plumpe politische Aktionen in vielen Fällen unseren Volksgenossen jenseits der neuen Reichsgrenzen nur schaden und gar nicht helfen können. Das Reich wird sich vielfach sehr zu bescheiden haben. Aber das Volk soll trotzdem handeln. Das Band der Liebe und Treue kann durch Staatsverträge nicht durchschnitten werden. Beziehungen von Mensch zu Mensch und von Haus zu Haus müssen gepflegt und neu ge¬ knüpft werden. Die Bindung des Volkstums in Sprache und Kultur verlangt einen Austausch und eine Gemeinschaft geistiger Güter, die nichts mit politischen Machenschaften zu tun haben. Auf diesem Gebiete der Pflege des Grenz- deutschlums, das der Aktivität des Staates zum großen Teil entzogen ist, steht der lebendigen Aktivität des Volkes eine Fülle neuer Aufgaben offen, die mit warmem Herzen ergriffen und mit zähem Willen durchgeführt sein wollen. Aber nicht über das gesamte Grenzdeutschtum ist die unabänderliche Ent¬ scheidung gefallen. Breite Striche in Nord und Ost und West sollen selber ihren Willen kund tun, und niemand kann es uns verargen, daß wir alle Kräfte — und hier nicht die kulturellen allein, sondern auch die politischen und wirtschaftlichen — daran setzen, um in diesen Abstimmungsgebieten zu rette», was noch zu retten ist. Wir führen auch da den Kampf unter den ungünstigsten Bedingungen, da nicht Neutrale sondern Feinde über der Ab¬ stimmung wachen werden. Ihnen stehen alle Möglichkeiten der Propaganda

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/34>, abgerufen am 01.09.2024.