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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Grenzdeutschtum

Volkes und der deutschen Erde ineinszusetzen. Schon klagen die treugesinnten
Elsässer, die vor Verfolgung flüchten und aus ihrer Heimat in ihr deutsches
Vaterland auswandern mußten, wie wenig lebendiges Verständnis sie hier
finden. Während Frankreich fast ein halbes Jahrhundert Jahr für Jahr einen
Kranz an der Statue der Stadt Straßburg niederlegte, hat kaum ein deutsches
Blatt sich des Tages der Schmach erinnert, da vor einem Jahre französische
Truppen in Straßburg einzogen und die Trikolore auf Erwins Münsterturm
hochstieg.

Nicht besser ergeht es den Deutschbalten, deren Existenz der größte Teil
unseres Volkes erst während des Krieges beiläufig entdeckt hat. Kaum irgendwo
wird ihr Selbsterhaltungskampf in seinen wahren Bedingungen und An¬
trieben verstanden. Niemand bemüht sich um Erfassung des tragischen Zu-
sammenhanges, der zwischen der Reichsgründung und dem Weltkriege auf der
einen, der fortschreitenden Vernichtung des Deutschbaltentums auf der anderen
Seite besteht. Durch innerpolitische Maßstäbe wird die Einschätzung ihrer
nationalen Leistung verwirrt. Jetzt irren so ziemlich die letzten Neste dieses
tapferen deutschen Volkssplitters obdachlos in Deutschland umher, von Haus
und Hof vertrieben, zumeist ihrer letzten Mittel beraubt. Erinnert man sich
noch, wieviel baltisches Erbgut in den großen Schmelztiegel unserer Kriegs¬
metallsammlungen eingeflossen, welch warmherzige Gastfreundschaft deutsche
Soldaten ans baltischen Schlössern, in baltischen Bürgerhäusern gefunden haben?
Erst in jüngster Zeit hat sich das Reich zu einer Hilfsaktion entschlossen. Aber
während die Ballen auf dem Lande zumeist herzliche Aufnahme gesunden
haben, müssen sie in den Städten noch immer gewärtig sein, durch Beschlüsse
verständnisloser Stadtverwaltungen, oder gar wie in Swinemünde auf das
Drängen der Gasse hin, ausgewiesen und wie ein gehetztes Wild auf neue
ungewisse Irrfahrt gejagt zu werden.

Ob es den Ostmärkern gehen wird wie den Elsässern und Ballen? Wird
man die Schicksalsgemeinschaft mit ihnen ebenso abschütteln, die sich doch in
Blut und Gestalt verrät, auch wo sie mit Mund und Miene verleugnet wird?
Auch die Ostmärker klagten bitter, wie wenig man im Reiche ihren Kampf um
Deutscherhaliung verstanden und unterstützt hat. Allenfalls sah man noch
Interessen gefährdet. Aber das entscheidende ^na res aZitur, das jeder
Deutsche beim drohenden Gebieisverlust im Osten hätte spüren müssen, wenn
wir wirklich ein leibhaftiges Volksganze wären: das eben fehlte. Und dieses
Fehlen wurde im gefährdeten Osten bitter und schmerzlich empfunden. Die
Posener, die hinter der Demarkationslinie verschwanden, kamen sich schnell ver¬
gessen vor. Der Nest, der ihnen in den nächsten Wochen folgen wird, ge-
wärtigt sich kein besseres Schicksal.

Der gute Ausfall der Hilfsaktion für das hungernde Wien scheint auf
eine wachsende Anteilnahme für das deutsch-österreichische Schicksal schließen zu
lassen. Aber auch hier soll man sich keinen Täuschungen hingeben. Unser


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Grenzdeutschtum

Volkes und der deutschen Erde ineinszusetzen. Schon klagen die treugesinnten
Elsässer, die vor Verfolgung flüchten und aus ihrer Heimat in ihr deutsches
Vaterland auswandern mußten, wie wenig lebendiges Verständnis sie hier
finden. Während Frankreich fast ein halbes Jahrhundert Jahr für Jahr einen
Kranz an der Statue der Stadt Straßburg niederlegte, hat kaum ein deutsches
Blatt sich des Tages der Schmach erinnert, da vor einem Jahre französische
Truppen in Straßburg einzogen und die Trikolore auf Erwins Münsterturm
hochstieg.

Nicht besser ergeht es den Deutschbalten, deren Existenz der größte Teil
unseres Volkes erst während des Krieges beiläufig entdeckt hat. Kaum irgendwo
wird ihr Selbsterhaltungskampf in seinen wahren Bedingungen und An¬
trieben verstanden. Niemand bemüht sich um Erfassung des tragischen Zu-
sammenhanges, der zwischen der Reichsgründung und dem Weltkriege auf der
einen, der fortschreitenden Vernichtung des Deutschbaltentums auf der anderen
Seite besteht. Durch innerpolitische Maßstäbe wird die Einschätzung ihrer
nationalen Leistung verwirrt. Jetzt irren so ziemlich die letzten Neste dieses
tapferen deutschen Volkssplitters obdachlos in Deutschland umher, von Haus
und Hof vertrieben, zumeist ihrer letzten Mittel beraubt. Erinnert man sich
noch, wieviel baltisches Erbgut in den großen Schmelztiegel unserer Kriegs¬
metallsammlungen eingeflossen, welch warmherzige Gastfreundschaft deutsche
Soldaten ans baltischen Schlössern, in baltischen Bürgerhäusern gefunden haben?
Erst in jüngster Zeit hat sich das Reich zu einer Hilfsaktion entschlossen. Aber
während die Ballen auf dem Lande zumeist herzliche Aufnahme gesunden
haben, müssen sie in den Städten noch immer gewärtig sein, durch Beschlüsse
verständnisloser Stadtverwaltungen, oder gar wie in Swinemünde auf das
Drängen der Gasse hin, ausgewiesen und wie ein gehetztes Wild auf neue
ungewisse Irrfahrt gejagt zu werden.

Ob es den Ostmärkern gehen wird wie den Elsässern und Ballen? Wird
man die Schicksalsgemeinschaft mit ihnen ebenso abschütteln, die sich doch in
Blut und Gestalt verrät, auch wo sie mit Mund und Miene verleugnet wird?
Auch die Ostmärker klagten bitter, wie wenig man im Reiche ihren Kampf um
Deutscherhaliung verstanden und unterstützt hat. Allenfalls sah man noch
Interessen gefährdet. Aber das entscheidende ^na res aZitur, das jeder
Deutsche beim drohenden Gebieisverlust im Osten hätte spüren müssen, wenn
wir wirklich ein leibhaftiges Volksganze wären: das eben fehlte. Und dieses
Fehlen wurde im gefährdeten Osten bitter und schmerzlich empfunden. Die
Posener, die hinter der Demarkationslinie verschwanden, kamen sich schnell ver¬
gessen vor. Der Nest, der ihnen in den nächsten Wochen folgen wird, ge-
wärtigt sich kein besseres Schicksal.

Der gute Ausfall der Hilfsaktion für das hungernde Wien scheint auf
eine wachsende Anteilnahme für das deutsch-österreichische Schicksal schließen zu
lassen. Aber auch hier soll man sich keinen Täuschungen hingeben. Unser


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[0033] Grenzdeutschtum Volkes und der deutschen Erde ineinszusetzen. Schon klagen die treugesinnten Elsässer, die vor Verfolgung flüchten und aus ihrer Heimat in ihr deutsches Vaterland auswandern mußten, wie wenig lebendiges Verständnis sie hier finden. Während Frankreich fast ein halbes Jahrhundert Jahr für Jahr einen Kranz an der Statue der Stadt Straßburg niederlegte, hat kaum ein deutsches Blatt sich des Tages der Schmach erinnert, da vor einem Jahre französische Truppen in Straßburg einzogen und die Trikolore auf Erwins Münsterturm hochstieg. Nicht besser ergeht es den Deutschbalten, deren Existenz der größte Teil unseres Volkes erst während des Krieges beiläufig entdeckt hat. Kaum irgendwo wird ihr Selbsterhaltungskampf in seinen wahren Bedingungen und An¬ trieben verstanden. Niemand bemüht sich um Erfassung des tragischen Zu- sammenhanges, der zwischen der Reichsgründung und dem Weltkriege auf der einen, der fortschreitenden Vernichtung des Deutschbaltentums auf der anderen Seite besteht. Durch innerpolitische Maßstäbe wird die Einschätzung ihrer nationalen Leistung verwirrt. Jetzt irren so ziemlich die letzten Neste dieses tapferen deutschen Volkssplitters obdachlos in Deutschland umher, von Haus und Hof vertrieben, zumeist ihrer letzten Mittel beraubt. Erinnert man sich noch, wieviel baltisches Erbgut in den großen Schmelztiegel unserer Kriegs¬ metallsammlungen eingeflossen, welch warmherzige Gastfreundschaft deutsche Soldaten ans baltischen Schlössern, in baltischen Bürgerhäusern gefunden haben? Erst in jüngster Zeit hat sich das Reich zu einer Hilfsaktion entschlossen. Aber während die Ballen auf dem Lande zumeist herzliche Aufnahme gesunden haben, müssen sie in den Städten noch immer gewärtig sein, durch Beschlüsse verständnisloser Stadtverwaltungen, oder gar wie in Swinemünde auf das Drängen der Gasse hin, ausgewiesen und wie ein gehetztes Wild auf neue ungewisse Irrfahrt gejagt zu werden. Ob es den Ostmärkern gehen wird wie den Elsässern und Ballen? Wird man die Schicksalsgemeinschaft mit ihnen ebenso abschütteln, die sich doch in Blut und Gestalt verrät, auch wo sie mit Mund und Miene verleugnet wird? Auch die Ostmärker klagten bitter, wie wenig man im Reiche ihren Kampf um Deutscherhaliung verstanden und unterstützt hat. Allenfalls sah man noch Interessen gefährdet. Aber das entscheidende ^na res aZitur, das jeder Deutsche beim drohenden Gebieisverlust im Osten hätte spüren müssen, wenn wir wirklich ein leibhaftiges Volksganze wären: das eben fehlte. Und dieses Fehlen wurde im gefährdeten Osten bitter und schmerzlich empfunden. Die Posener, die hinter der Demarkationslinie verschwanden, kamen sich schnell ver¬ gessen vor. Der Nest, der ihnen in den nächsten Wochen folgen wird, ge- wärtigt sich kein besseres Schicksal. Der gute Ausfall der Hilfsaktion für das hungernde Wien scheint auf eine wachsende Anteilnahme für das deutsch-österreichische Schicksal schließen zu lassen. Aber auch hier soll man sich keinen Täuschungen hingeben. Unser 2«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/33>, abgerufen am 01.09.2024.