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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Ursache und Wirkung

recht nutz noch mehr verbreitert werden, dann wirds schon gehen! Die Er¬
fahrungen der letzten Zeit lassen auch diese Lehre fragwürdig erscheinen. Das
schadet ihrer Verbreitung aber offenbar nur wenig. Auch hier läszt sich die be-
liebte Verkehrung des Kansalitätsgesetzes beobachten.

Zuerst zum "freien Handel": Da ist klar, datz er friedliche Zustände
unbedingt voraussetzt! Der Weg zum Erzeuger und von ihm zum Verbraucher
muß frei sein. Jede Einschränkung von hoher Hand bringt überflüssige und
schädliche Gefahrmomente in die Berechnung, verteuert den Umsatz. Erst die
Mitte des vorigen Jahrhunderts weist darum Verhältnisse auf, die den Handel
als "frei" bezeichnen lassen, wenn man von der Blütezeit des Römischen Reichs
absieht, die dem Gedächtnis der Lebenden entschwunden, politisch nicht mehr
ausgenützt werden kann. Damals fielen die Zollschranken, die Verkehrsmittel und
die Nachrichtenübermittlung verbesserten sich ungocchnt, einer unbegrenzten Güter¬
menge aus aller Welt stand ein rasch steigender Inlandsbedarf gegenüber, die
durch die Napoleonischen Kriege schwer erschütterte Wirtschaft des Kontinents
erholte sich zur Freude und zum Vorteil Englands. Der Handel war damals
wirklich frei und konnte frei sein. Warum? Der Bedarf war allgemein über¬
deckt, und in die Lebensfragen der noch rein agrarischen Staaten griff der Handel
nicht ein. Es konnte jeder kaufen, ohne den andern in seinem Lebensstande zu
stören, es konnte verteilt werden ohne Prüfung der Verwendung. Was ist um
zeitlich und logisch das Frühere? Was die Ursache, was die Wirkung? Die
Gunst der wirtschaftlichen Verhältnisse im allgemeinen oder die Freiheit des
Handels? Die Autwort ist klar. Der freie Handel ist Exponent, ist Symptom, ist
Erscheinung 'einer bestimmten Stufe der Gütererzeugung und Verteilung in der
Welt. Er ist ohne schwere Schädigung einzelner Teile des Volkes nur so lange
und soweit möglich, als Erzeugung und Bedarf in ihren, gegenseitigen Verhältnis
einer freien Verteilung nicht im Wege sind. Nun wissen wir Deutsche aber genau,
datz wir in absehbarer Zeit ein solches Gleichgewichtsverhältnis nicht mehr
haben werden, datz wir unseren Verbrauch nach bestimmten Gesichtspunkten
zurückschneiden und froh sein müssen, den notwendigsten Bedarf zu decken. Wir
wissen, datz wir noch trüberen Tagen entgegengehen, wenn wir überhaupt am
Leben bleiben. Die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der alles so ganz
anders war, ist begreiflich. Aber dann soll man diese -Sehnsucht auch richtig
nennen und nicht eine ihrer Erscheinungsformen nach vorne schieben, die in der
Gegenwart -- darüber täusche mau sich nicht -- als blutiger Hohn auf das
Elend der Massen empfunden wird. Darum sollte der "freie Handel" keine
Parteiforderung sein, sondern die Forderung sollte lauten: "Mehr Ware", damit
frei gehandelt werden kann. Dann wäre die Verständigung einfacher und
Symptomkuriererei würde vermieden.

Ähnliche Erwägungen über Ursache und Wirkung sind auf rein politischem
Gebiet nicht ohne Wert. Unsere demokratischen Ideale stammen aus Amerika und
Frankreich, zwei dünn bevölkerten Ländern mit sehr starker Landwirtschaft, Wirt¬
schafts- und militärgeographisch überaus günstig gelegen. In beiden ist die
demokratische Staatsform eng verbunden mit dem Aufstieg des Staates, mit der
Loslösung von England und mit der Abschüttelung des unerträglich gewordenen
Feudalismus. Alle grotzen Erinnerungen sind dort untrennbar vom demokratischen
Staatsideal. Auch die beiden französischen Eäsaren haben sich mit ihm abzu-


Ursache und Wirkung

recht nutz noch mehr verbreitert werden, dann wirds schon gehen! Die Er¬
fahrungen der letzten Zeit lassen auch diese Lehre fragwürdig erscheinen. Das
schadet ihrer Verbreitung aber offenbar nur wenig. Auch hier läszt sich die be-
liebte Verkehrung des Kansalitätsgesetzes beobachten.

Zuerst zum „freien Handel": Da ist klar, datz er friedliche Zustände
unbedingt voraussetzt! Der Weg zum Erzeuger und von ihm zum Verbraucher
muß frei sein. Jede Einschränkung von hoher Hand bringt überflüssige und
schädliche Gefahrmomente in die Berechnung, verteuert den Umsatz. Erst die
Mitte des vorigen Jahrhunderts weist darum Verhältnisse auf, die den Handel
als „frei" bezeichnen lassen, wenn man von der Blütezeit des Römischen Reichs
absieht, die dem Gedächtnis der Lebenden entschwunden, politisch nicht mehr
ausgenützt werden kann. Damals fielen die Zollschranken, die Verkehrsmittel und
die Nachrichtenübermittlung verbesserten sich ungocchnt, einer unbegrenzten Güter¬
menge aus aller Welt stand ein rasch steigender Inlandsbedarf gegenüber, die
durch die Napoleonischen Kriege schwer erschütterte Wirtschaft des Kontinents
erholte sich zur Freude und zum Vorteil Englands. Der Handel war damals
wirklich frei und konnte frei sein. Warum? Der Bedarf war allgemein über¬
deckt, und in die Lebensfragen der noch rein agrarischen Staaten griff der Handel
nicht ein. Es konnte jeder kaufen, ohne den andern in seinem Lebensstande zu
stören, es konnte verteilt werden ohne Prüfung der Verwendung. Was ist um
zeitlich und logisch das Frühere? Was die Ursache, was die Wirkung? Die
Gunst der wirtschaftlichen Verhältnisse im allgemeinen oder die Freiheit des
Handels? Die Autwort ist klar. Der freie Handel ist Exponent, ist Symptom, ist
Erscheinung 'einer bestimmten Stufe der Gütererzeugung und Verteilung in der
Welt. Er ist ohne schwere Schädigung einzelner Teile des Volkes nur so lange
und soweit möglich, als Erzeugung und Bedarf in ihren, gegenseitigen Verhältnis
einer freien Verteilung nicht im Wege sind. Nun wissen wir Deutsche aber genau,
datz wir in absehbarer Zeit ein solches Gleichgewichtsverhältnis nicht mehr
haben werden, datz wir unseren Verbrauch nach bestimmten Gesichtspunkten
zurückschneiden und froh sein müssen, den notwendigsten Bedarf zu decken. Wir
wissen, datz wir noch trüberen Tagen entgegengehen, wenn wir überhaupt am
Leben bleiben. Die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der alles so ganz
anders war, ist begreiflich. Aber dann soll man diese -Sehnsucht auch richtig
nennen und nicht eine ihrer Erscheinungsformen nach vorne schieben, die in der
Gegenwart — darüber täusche mau sich nicht — als blutiger Hohn auf das
Elend der Massen empfunden wird. Darum sollte der „freie Handel" keine
Parteiforderung sein, sondern die Forderung sollte lauten: „Mehr Ware", damit
frei gehandelt werden kann. Dann wäre die Verständigung einfacher und
Symptomkuriererei würde vermieden.

Ähnliche Erwägungen über Ursache und Wirkung sind auf rein politischem
Gebiet nicht ohne Wert. Unsere demokratischen Ideale stammen aus Amerika und
Frankreich, zwei dünn bevölkerten Ländern mit sehr starker Landwirtschaft, Wirt¬
schafts- und militärgeographisch überaus günstig gelegen. In beiden ist die
demokratische Staatsform eng verbunden mit dem Aufstieg des Staates, mit der
Loslösung von England und mit der Abschüttelung des unerträglich gewordenen
Feudalismus. Alle grotzen Erinnerungen sind dort untrennbar vom demokratischen
Staatsideal. Auch die beiden französischen Eäsaren haben sich mit ihm abzu-


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[0305] Ursache und Wirkung recht nutz noch mehr verbreitert werden, dann wirds schon gehen! Die Er¬ fahrungen der letzten Zeit lassen auch diese Lehre fragwürdig erscheinen. Das schadet ihrer Verbreitung aber offenbar nur wenig. Auch hier läszt sich die be- liebte Verkehrung des Kansalitätsgesetzes beobachten. Zuerst zum „freien Handel": Da ist klar, datz er friedliche Zustände unbedingt voraussetzt! Der Weg zum Erzeuger und von ihm zum Verbraucher muß frei sein. Jede Einschränkung von hoher Hand bringt überflüssige und schädliche Gefahrmomente in die Berechnung, verteuert den Umsatz. Erst die Mitte des vorigen Jahrhunderts weist darum Verhältnisse auf, die den Handel als „frei" bezeichnen lassen, wenn man von der Blütezeit des Römischen Reichs absieht, die dem Gedächtnis der Lebenden entschwunden, politisch nicht mehr ausgenützt werden kann. Damals fielen die Zollschranken, die Verkehrsmittel und die Nachrichtenübermittlung verbesserten sich ungocchnt, einer unbegrenzten Güter¬ menge aus aller Welt stand ein rasch steigender Inlandsbedarf gegenüber, die durch die Napoleonischen Kriege schwer erschütterte Wirtschaft des Kontinents erholte sich zur Freude und zum Vorteil Englands. Der Handel war damals wirklich frei und konnte frei sein. Warum? Der Bedarf war allgemein über¬ deckt, und in die Lebensfragen der noch rein agrarischen Staaten griff der Handel nicht ein. Es konnte jeder kaufen, ohne den andern in seinem Lebensstande zu stören, es konnte verteilt werden ohne Prüfung der Verwendung. Was ist um zeitlich und logisch das Frühere? Was die Ursache, was die Wirkung? Die Gunst der wirtschaftlichen Verhältnisse im allgemeinen oder die Freiheit des Handels? Die Autwort ist klar. Der freie Handel ist Exponent, ist Symptom, ist Erscheinung 'einer bestimmten Stufe der Gütererzeugung und Verteilung in der Welt. Er ist ohne schwere Schädigung einzelner Teile des Volkes nur so lange und soweit möglich, als Erzeugung und Bedarf in ihren, gegenseitigen Verhältnis einer freien Verteilung nicht im Wege sind. Nun wissen wir Deutsche aber genau, datz wir in absehbarer Zeit ein solches Gleichgewichtsverhältnis nicht mehr haben werden, datz wir unseren Verbrauch nach bestimmten Gesichtspunkten zurückschneiden und froh sein müssen, den notwendigsten Bedarf zu decken. Wir wissen, datz wir noch trüberen Tagen entgegengehen, wenn wir überhaupt am Leben bleiben. Die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der alles so ganz anders war, ist begreiflich. Aber dann soll man diese -Sehnsucht auch richtig nennen und nicht eine ihrer Erscheinungsformen nach vorne schieben, die in der Gegenwart — darüber täusche mau sich nicht — als blutiger Hohn auf das Elend der Massen empfunden wird. Darum sollte der „freie Handel" keine Parteiforderung sein, sondern die Forderung sollte lauten: „Mehr Ware", damit frei gehandelt werden kann. Dann wäre die Verständigung einfacher und Symptomkuriererei würde vermieden. Ähnliche Erwägungen über Ursache und Wirkung sind auf rein politischem Gebiet nicht ohne Wert. Unsere demokratischen Ideale stammen aus Amerika und Frankreich, zwei dünn bevölkerten Ländern mit sehr starker Landwirtschaft, Wirt¬ schafts- und militärgeographisch überaus günstig gelegen. In beiden ist die demokratische Staatsform eng verbunden mit dem Aufstieg des Staates, mit der Loslösung von England und mit der Abschüttelung des unerträglich gewordenen Feudalismus. Alle grotzen Erinnerungen sind dort untrennbar vom demokratischen Staatsideal. Auch die beiden französischen Eäsaren haben sich mit ihm abzu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/305>, abgerufen am 22.12.2024.