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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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so soll der Arbeiter nun merken, daß sie nicht ohne den Arm des Bauern wieder
in Bewegung gesetzt oder in Bewegung gehalten werden können.

Zugleich aber regen sich sachte auch gewisse i-)celle Überlegungen im bäuer¬
lichen Denken wieder. Der Idealismus sitzt im Bauern tief und ist nicht bald
zum Schwingen zu bringen. Allmählich jedoch meldet er sich. Des Bauern
schollenhafter Heimatsgedanke, seine Anhänglichkeit an die Kirche und die christliche
Schule, sein Abscheu vor dem sittlichen Schmutz, womit wir im revolutionären
Deutschland überschwemmt werden, treiben ihn ebenfalls in wachsendem Maße in
die Opposition Wider die gegenwärtige staatliche Ordnung, worin er in jeder
Hinsicht nur noch eine Unordnung sieht. Als Ausgeburt des Sozialismus bewertet
er auch all das, was sein geistiges Empfinden an dem neuen Deutschland stößt.
Deshalb wird der leitende Mann der deutschen Regierung, wird Matthias Erzberger
für die Auffassung des ihm bislang parteipolitisch verbundenen katholischen Bauern
zusehends mehr zum Sozialisten. Sein Unitarismus stempelt ihn ebenso dazu,
wie seine Steuer- und Wirischaftkpviiük. Der bayensche Bauer glaubt seiner
Zeitung wohl noch, daß die bayerische Zentrumsfrcülion nur aus Not mit den
"Sozi" im Ministerium zusammensitzt. Für die Neichstagsfrattion und ihren
Führer läßt er es nicht mehr gelten.

Heim wollte sich offenbar die Summe all dieser Empfindungen zu Nutzen
machen und die Vorstellung einer besonderen Bauernpartei den Leuten lebendig
machen. Bei seiner mehr Wirtschafts- als parteipolitischer Organisationsgabe
und bei seiner bsgrenztcn Fähigkeit zu parlamentarischer Machtentwicklnng mag
ihm aber auch der neue Anlauf auf halber Strecke wieder erlahmen. Die seelischen
Voraussetzungen für seinen gegenwärtigen Versuch sind diesmal jedoch nicht nur
in Bayern, sondern im ganzen Reiche, nicht nur im Zentrum, sondern in der
gesamten Nation vorhanden. Möglicherweise handelt es sich bei den bayerischen
Vorgängen um Anzeichen einer allgemeinen Gärung unter den deutschen Bauern
und in den wirtschaftlichen Gruppen, die ihnen unter den gegenwärtigen Verhält¬
nissen nahestehen, im Mittelstand, unter den industriellen Unternehmern und in
einem Teile der Beamtenschaft. Ein stärkerer Politiker als Heim könnte sich der
gärenden Kräfte bemächiigen und eine klare parteipolitische Scheidung zwischen
Bauern und Arbeitern durch ganz Deutschland hin zuwege bringen. Die Gefahr
besteht, daß wir damit nur vom Regen in die Traufe kämen. Denn was bis
zur Stunde in unseren Bauern gard, sind wesentlich Stimmungen des Mißtrauens,
der Abwehr und der bloßen Verneinung. Es sind noch nicht seelische Gewalten,
die ihren Willen auf den Wiederaufbau einer besseren Ordnung zu richten
versprechen. Die Vauernbewegung und dann vermutlich auch die sich ihr ent-
gegenwälzende Arbeiterbewegung würden in diesem Falle leicht ebenso das Opfer
bloßer Taktiker und persönlicher Machtintercssenten werden wie sich die Zentrums-
taktik der letzten Jahre noch daran genügen ließ, beide Klassen recht und schlecht
zusammenzuhalten. Der durch die Revolution in unserem wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Leben schon bis zum äußersten aufgepeitschte Klassengegensatz
würde lediglich noch bis zu seinen letzten politischen Folgerungen vorangetrieben
werden. Von der Qual der Wahl zwischen dem Verharren in den bisherigen
Verhältnissen und der Entwicklung rein klassenpolitischer Parteien kann uns mir
eine Negierung von größerer Sachkunde und Gestaltungskraft befreien, die das
Partei- und Klassenunwesen meistert. Aber sie muß bald kommen.

Ein Austrag der großen Frage bloß innerhalb des politischen Parteiwesens,
wie ihn die Bayern wagen wollen, ist kaum möglich. Darauf läßt auch der
Verlauf des ersten Neichsparteitages des Zentrums schließen, der dem bayerischen
Tage in einem Abstand von zehn Tagen gefolgt ist. Seine Beratungen standen
im Grunde unter dem Druck derselben Spannung, die die bayerischen Verhand¬
lungen beherrschte. Nur waren die Gewichte hier noch umgekehrt verteilt. Erz¬
berger, seine südwestdeutsche Gefolgschaft, namentlich die Badener, die Arbeiterschaft
halten hier die schwereren auf ihrer Seite. Die Bewegung ist aber auch im übrigen
Reiche, vor allem in Westfalen und Schlesien, in vollem Flusse. Der Guß könnte
und muß beginnen. Wird sich der Meister Glockengießer noch zur Zeit einfinden?


Martin Spahn
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so soll der Arbeiter nun merken, daß sie nicht ohne den Arm des Bauern wieder
in Bewegung gesetzt oder in Bewegung gehalten werden können.

Zugleich aber regen sich sachte auch gewisse i-)celle Überlegungen im bäuer¬
lichen Denken wieder. Der Idealismus sitzt im Bauern tief und ist nicht bald
zum Schwingen zu bringen. Allmählich jedoch meldet er sich. Des Bauern
schollenhafter Heimatsgedanke, seine Anhänglichkeit an die Kirche und die christliche
Schule, sein Abscheu vor dem sittlichen Schmutz, womit wir im revolutionären
Deutschland überschwemmt werden, treiben ihn ebenfalls in wachsendem Maße in
die Opposition Wider die gegenwärtige staatliche Ordnung, worin er in jeder
Hinsicht nur noch eine Unordnung sieht. Als Ausgeburt des Sozialismus bewertet
er auch all das, was sein geistiges Empfinden an dem neuen Deutschland stößt.
Deshalb wird der leitende Mann der deutschen Regierung, wird Matthias Erzberger
für die Auffassung des ihm bislang parteipolitisch verbundenen katholischen Bauern
zusehends mehr zum Sozialisten. Sein Unitarismus stempelt ihn ebenso dazu,
wie seine Steuer- und Wirischaftkpviiük. Der bayensche Bauer glaubt seiner
Zeitung wohl noch, daß die bayerische Zentrumsfrcülion nur aus Not mit den
„Sozi" im Ministerium zusammensitzt. Für die Neichstagsfrattion und ihren
Führer läßt er es nicht mehr gelten.

Heim wollte sich offenbar die Summe all dieser Empfindungen zu Nutzen
machen und die Vorstellung einer besonderen Bauernpartei den Leuten lebendig
machen. Bei seiner mehr Wirtschafts- als parteipolitischer Organisationsgabe
und bei seiner bsgrenztcn Fähigkeit zu parlamentarischer Machtentwicklnng mag
ihm aber auch der neue Anlauf auf halber Strecke wieder erlahmen. Die seelischen
Voraussetzungen für seinen gegenwärtigen Versuch sind diesmal jedoch nicht nur
in Bayern, sondern im ganzen Reiche, nicht nur im Zentrum, sondern in der
gesamten Nation vorhanden. Möglicherweise handelt es sich bei den bayerischen
Vorgängen um Anzeichen einer allgemeinen Gärung unter den deutschen Bauern
und in den wirtschaftlichen Gruppen, die ihnen unter den gegenwärtigen Verhält¬
nissen nahestehen, im Mittelstand, unter den industriellen Unternehmern und in
einem Teile der Beamtenschaft. Ein stärkerer Politiker als Heim könnte sich der
gärenden Kräfte bemächiigen und eine klare parteipolitische Scheidung zwischen
Bauern und Arbeitern durch ganz Deutschland hin zuwege bringen. Die Gefahr
besteht, daß wir damit nur vom Regen in die Traufe kämen. Denn was bis
zur Stunde in unseren Bauern gard, sind wesentlich Stimmungen des Mißtrauens,
der Abwehr und der bloßen Verneinung. Es sind noch nicht seelische Gewalten,
die ihren Willen auf den Wiederaufbau einer besseren Ordnung zu richten
versprechen. Die Vauernbewegung und dann vermutlich auch die sich ihr ent-
gegenwälzende Arbeiterbewegung würden in diesem Falle leicht ebenso das Opfer
bloßer Taktiker und persönlicher Machtintercssenten werden wie sich die Zentrums-
taktik der letzten Jahre noch daran genügen ließ, beide Klassen recht und schlecht
zusammenzuhalten. Der durch die Revolution in unserem wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Leben schon bis zum äußersten aufgepeitschte Klassengegensatz
würde lediglich noch bis zu seinen letzten politischen Folgerungen vorangetrieben
werden. Von der Qual der Wahl zwischen dem Verharren in den bisherigen
Verhältnissen und der Entwicklung rein klassenpolitischer Parteien kann uns mir
eine Negierung von größerer Sachkunde und Gestaltungskraft befreien, die das
Partei- und Klassenunwesen meistert. Aber sie muß bald kommen.

Ein Austrag der großen Frage bloß innerhalb des politischen Parteiwesens,
wie ihn die Bayern wagen wollen, ist kaum möglich. Darauf läßt auch der
Verlauf des ersten Neichsparteitages des Zentrums schließen, der dem bayerischen
Tage in einem Abstand von zehn Tagen gefolgt ist. Seine Beratungen standen
im Grunde unter dem Druck derselben Spannung, die die bayerischen Verhand¬
lungen beherrschte. Nur waren die Gewichte hier noch umgekehrt verteilt. Erz¬
berger, seine südwestdeutsche Gefolgschaft, namentlich die Badener, die Arbeiterschaft
halten hier die schwereren auf ihrer Seite. Die Bewegung ist aber auch im übrigen
Reiche, vor allem in Westfalen und Schlesien, in vollem Flusse. Der Guß könnte
und muß beginnen. Wird sich der Meister Glockengießer noch zur Zeit einfinden?


Martin Spahn
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[0132] Reichsspicget so soll der Arbeiter nun merken, daß sie nicht ohne den Arm des Bauern wieder in Bewegung gesetzt oder in Bewegung gehalten werden können. Zugleich aber regen sich sachte auch gewisse i-)celle Überlegungen im bäuer¬ lichen Denken wieder. Der Idealismus sitzt im Bauern tief und ist nicht bald zum Schwingen zu bringen. Allmählich jedoch meldet er sich. Des Bauern schollenhafter Heimatsgedanke, seine Anhänglichkeit an die Kirche und die christliche Schule, sein Abscheu vor dem sittlichen Schmutz, womit wir im revolutionären Deutschland überschwemmt werden, treiben ihn ebenfalls in wachsendem Maße in die Opposition Wider die gegenwärtige staatliche Ordnung, worin er in jeder Hinsicht nur noch eine Unordnung sieht. Als Ausgeburt des Sozialismus bewertet er auch all das, was sein geistiges Empfinden an dem neuen Deutschland stößt. Deshalb wird der leitende Mann der deutschen Regierung, wird Matthias Erzberger für die Auffassung des ihm bislang parteipolitisch verbundenen katholischen Bauern zusehends mehr zum Sozialisten. Sein Unitarismus stempelt ihn ebenso dazu, wie seine Steuer- und Wirischaftkpviiük. Der bayensche Bauer glaubt seiner Zeitung wohl noch, daß die bayerische Zentrumsfrcülion nur aus Not mit den „Sozi" im Ministerium zusammensitzt. Für die Neichstagsfrattion und ihren Führer läßt er es nicht mehr gelten. Heim wollte sich offenbar die Summe all dieser Empfindungen zu Nutzen machen und die Vorstellung einer besonderen Bauernpartei den Leuten lebendig machen. Bei seiner mehr Wirtschafts- als parteipolitischer Organisationsgabe und bei seiner bsgrenztcn Fähigkeit zu parlamentarischer Machtentwicklnng mag ihm aber auch der neue Anlauf auf halber Strecke wieder erlahmen. Die seelischen Voraussetzungen für seinen gegenwärtigen Versuch sind diesmal jedoch nicht nur in Bayern, sondern im ganzen Reiche, nicht nur im Zentrum, sondern in der gesamten Nation vorhanden. Möglicherweise handelt es sich bei den bayerischen Vorgängen um Anzeichen einer allgemeinen Gärung unter den deutschen Bauern und in den wirtschaftlichen Gruppen, die ihnen unter den gegenwärtigen Verhält¬ nissen nahestehen, im Mittelstand, unter den industriellen Unternehmern und in einem Teile der Beamtenschaft. Ein stärkerer Politiker als Heim könnte sich der gärenden Kräfte bemächiigen und eine klare parteipolitische Scheidung zwischen Bauern und Arbeitern durch ganz Deutschland hin zuwege bringen. Die Gefahr besteht, daß wir damit nur vom Regen in die Traufe kämen. Denn was bis zur Stunde in unseren Bauern gard, sind wesentlich Stimmungen des Mißtrauens, der Abwehr und der bloßen Verneinung. Es sind noch nicht seelische Gewalten, die ihren Willen auf den Wiederaufbau einer besseren Ordnung zu richten versprechen. Die Vauernbewegung und dann vermutlich auch die sich ihr ent- gegenwälzende Arbeiterbewegung würden in diesem Falle leicht ebenso das Opfer bloßer Taktiker und persönlicher Machtintercssenten werden wie sich die Zentrums- taktik der letzten Jahre noch daran genügen ließ, beide Klassen recht und schlecht zusammenzuhalten. Der durch die Revolution in unserem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben schon bis zum äußersten aufgepeitschte Klassengegensatz würde lediglich noch bis zu seinen letzten politischen Folgerungen vorangetrieben werden. Von der Qual der Wahl zwischen dem Verharren in den bisherigen Verhältnissen und der Entwicklung rein klassenpolitischer Parteien kann uns mir eine Negierung von größerer Sachkunde und Gestaltungskraft befreien, die das Partei- und Klassenunwesen meistert. Aber sie muß bald kommen. Ein Austrag der großen Frage bloß innerhalb des politischen Parteiwesens, wie ihn die Bayern wagen wollen, ist kaum möglich. Darauf läßt auch der Verlauf des ersten Neichsparteitages des Zentrums schließen, der dem bayerischen Tage in einem Abstand von zehn Tagen gefolgt ist. Seine Beratungen standen im Grunde unter dem Druck derselben Spannung, die die bayerischen Verhand¬ lungen beherrschte. Nur waren die Gewichte hier noch umgekehrt verteilt. Erz¬ berger, seine südwestdeutsche Gefolgschaft, namentlich die Badener, die Arbeiterschaft halten hier die schwereren auf ihrer Seite. Die Bewegung ist aber auch im übrigen Reiche, vor allem in Westfalen und Schlesien, in vollem Flusse. Der Guß könnte und muß beginnen. Wird sich der Meister Glockengießer noch zur Zeit einfinden? Martin Spahn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/132>, abgerufen am 01.09.2024.