Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.Schuld des Liberalismus? Strömungen, die die Aufgabe hatten lösen können, waren nicht da. Der konser¬ Wenn so die Konservativen ihre alten nationalpolitischen Mängel auch heute Schuld des Liberalismus? Strömungen, die die Aufgabe hatten lösen können, waren nicht da. Der konser¬ Wenn so die Konservativen ihre alten nationalpolitischen Mängel auch heute <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0180" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336470"/> <fw type="header" place="top"> Schuld des Liberalismus?</fw><lb/> <p xml:id="ID_642" prev="#ID_641"> Strömungen, die die Aufgabe hatten lösen können, waren nicht da. Der konser¬<lb/> vative Staatsgeist Preußens war dazu unfähig. Er legte seine partikularistische<lb/> Versteifung nicht ab und hörte nie auf, abstoßend zu wirken auf die andern<lb/> Stämme, am meisten auf die Bayern und auf die von Frankreich umworbener<lb/> Elsaß-Lothringer. Man vermißt auch heute, nach unserer schweren Katastrophe,<lb/> bei den preußischen und den an ihnen geschulten alldeutschen.Konservativen das<lb/> rechte Gefühl für die nationale Solidarität. Sonst würden sie endlich einmal<lb/> aufhören, mit eigensinniger Rechthaberei die nationale Gesinnung allein für ihre<lb/> Partei in Anspruch zu nehmen und durch die monarchistische Agitation an der<lb/> weiteren Zerspaltung der deutschen Nation zu arbeiten. Ich weiß die Treue gegen<lb/> das angestammte Herrscherhaus zu schätzen und werde selbst ihm in meinem<lb/> Herzen immer einen Platz bewahren. Aber darüber wollen wir uns klar sein:<lb/> national handeln die Leute nicht, die jetzt den Kaiser öffentlich antelegraphieren<lb/> und ihre monarchistische Gesinnung herausfordernd zur Schau tragen. National<lb/> ist eS nicht, die Reste der dynastischen Gesinnung im Volke agitatorisch auszu¬<lb/> beuten. Sind wir noch solche politische Kinder, daß wir ohne Aufblick zu den<lb/> Fürsten etwa des großen nationalen Gedankens nicht fähig wären?</p><lb/> <p xml:id="ID_643"> Wenn so die Konservativen ihre alten nationalpolitischen Mängel auch heute<lb/> noch beweisen und statt der Fahne der Nation das Banner der Monarchie ent¬<lb/> rollen, so sind auch die Sozialdemokraten nach wie vor ohne sicheren national¬<lb/> politischen Instinkt. Sie stellen die Solidarität der Arbeiterklassen immer noch<lb/> höher als die Solidarität der Nation. Und die Gesinnungsgenossen des Herrn<lb/> Eberle haben nicht immer soviel Herz für die nationale Einheit wie für die der<lb/> römischen Kirche. Gewiß hat Eberle recht, der Liberalismus hat es verabsäumt,<lb/> in den Herzen des Volkes überall aus die rechte solidarische Gesinnung zu halten:<lb/> er hat Auswüchse des Geistes' und Wirtschaftslebens massenhaft emporschießen<lb/> lassen. Aber wenn andere politische Anschauungen vielleicht auch mehr für die<lb/> Erhaltung solidarischer Gesinnung getan haben, so war es doch mehr eine Soli¬<lb/> darität ständischer oder partikularer Interessen, der Klasse oder der Konfession, die<lb/> sie im Auge haben, aber nicht die nationale Solidarität. Wenn der große Zu¬<lb/> sammenbruch irgendeinen Nutzen für uns haben soll, dann müssen wir aus ihm<lb/> lernen, daß alle Deutschen untereinander enger zusammengehören, als mit irgend<lb/> jemand anders auf der Welt, daß sie alle miteinander von den Feinden bedrückt<lb/> werden und auch nur alle miteinander wieder frei werden können. Es darf<lb/> keinem deutschen Stamme inner- oder außerhalb der Reichsgrenzen mehr passieren,<lb/> wie es früher mit Niederländern und Schweizern, heute mit den Elsaß-Lothringern<lb/> gegangen ist. daß sich Deutsche nicht als Deutsche fühlen. An der nationalen<lb/> Solidarität haben es alle Parteien, nicht nur der Liberalismus, fehlen lassen.<lb/> Es wäre an der Zeit, daß in dieser Beziehung vor allem sich überall ein gründ¬<lb/> licher Umschwung vollzöge!</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0180]
Schuld des Liberalismus?
Strömungen, die die Aufgabe hatten lösen können, waren nicht da. Der konser¬
vative Staatsgeist Preußens war dazu unfähig. Er legte seine partikularistische
Versteifung nicht ab und hörte nie auf, abstoßend zu wirken auf die andern
Stämme, am meisten auf die Bayern und auf die von Frankreich umworbener
Elsaß-Lothringer. Man vermißt auch heute, nach unserer schweren Katastrophe,
bei den preußischen und den an ihnen geschulten alldeutschen.Konservativen das
rechte Gefühl für die nationale Solidarität. Sonst würden sie endlich einmal
aufhören, mit eigensinniger Rechthaberei die nationale Gesinnung allein für ihre
Partei in Anspruch zu nehmen und durch die monarchistische Agitation an der
weiteren Zerspaltung der deutschen Nation zu arbeiten. Ich weiß die Treue gegen
das angestammte Herrscherhaus zu schätzen und werde selbst ihm in meinem
Herzen immer einen Platz bewahren. Aber darüber wollen wir uns klar sein:
national handeln die Leute nicht, die jetzt den Kaiser öffentlich antelegraphieren
und ihre monarchistische Gesinnung herausfordernd zur Schau tragen. National
ist eS nicht, die Reste der dynastischen Gesinnung im Volke agitatorisch auszu¬
beuten. Sind wir noch solche politische Kinder, daß wir ohne Aufblick zu den
Fürsten etwa des großen nationalen Gedankens nicht fähig wären?
Wenn so die Konservativen ihre alten nationalpolitischen Mängel auch heute
noch beweisen und statt der Fahne der Nation das Banner der Monarchie ent¬
rollen, so sind auch die Sozialdemokraten nach wie vor ohne sicheren national¬
politischen Instinkt. Sie stellen die Solidarität der Arbeiterklassen immer noch
höher als die Solidarität der Nation. Und die Gesinnungsgenossen des Herrn
Eberle haben nicht immer soviel Herz für die nationale Einheit wie für die der
römischen Kirche. Gewiß hat Eberle recht, der Liberalismus hat es verabsäumt,
in den Herzen des Volkes überall aus die rechte solidarische Gesinnung zu halten:
er hat Auswüchse des Geistes' und Wirtschaftslebens massenhaft emporschießen
lassen. Aber wenn andere politische Anschauungen vielleicht auch mehr für die
Erhaltung solidarischer Gesinnung getan haben, so war es doch mehr eine Soli¬
darität ständischer oder partikularer Interessen, der Klasse oder der Konfession, die
sie im Auge haben, aber nicht die nationale Solidarität. Wenn der große Zu¬
sammenbruch irgendeinen Nutzen für uns haben soll, dann müssen wir aus ihm
lernen, daß alle Deutschen untereinander enger zusammengehören, als mit irgend
jemand anders auf der Welt, daß sie alle miteinander von den Feinden bedrückt
werden und auch nur alle miteinander wieder frei werden können. Es darf
keinem deutschen Stamme inner- oder außerhalb der Reichsgrenzen mehr passieren,
wie es früher mit Niederländern und Schweizern, heute mit den Elsaß-Lothringern
gegangen ist. daß sich Deutsche nicht als Deutsche fühlen. An der nationalen
Solidarität haben es alle Parteien, nicht nur der Liberalismus, fehlen lassen.
Es wäre an der Zeit, daß in dieser Beziehung vor allem sich überall ein gründ¬
licher Umschwung vollzöge!
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |