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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Soll die Provinz Posen dem polnischen Staate einverleibt werden?

Hol! die Provinz Posen dem polnischen Staate
einverleibt werden?

meer den vielen wichtigen Fragen, die die Friedenskonferenz zu
entscheiden haben wird, wird ohne Zweifel die "polnische" eine der
kompliziertesten sein; denn für den Außenstehenden bezw. denjenigen,
der sich nicht jahrelang mit den einschlägigen Verhältnissen befaßt
und diese an Ort und Stelle studiert hat, ist es nicht leicht, sich
ein maßgebendes Urteil zu bilden.

Bei der Schaffung eines Polnischen Staates handelt es sich um ein Problem,
das wohl in seiner Art' ein vollständiges Novum bildet. Handelt es sich doch um
die Wieoererschaffnng eines großen StaatengebildeS, das seit etwa 125 Jahren
aufgehört hat zu existieren. Überdies gehen die Bestrebungen der Polen dahin,
daß ihrem Staate nicht bloß das ehemalige Kongreßpolen mit den angrenzenden
Gebieten, sowie Galizien, sondern auch diejenigen Bezirke zugesprochen werden
sollen, die ebenfalls schon im achtzehnten (!) Jahrhundert preußiich geworden und
mit einer starken deutschen Bevölkerung und mit deutscher Kultur durchsetzt sind.
Wenn dieser Fall eintritt, dann würden sich in dem neuen polnischen Staate
drei ganz heterogene, in ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen Kultur grund¬
verschiedene Länder zusammenfinden. Galizien ist bekanntlich, obwohl dort die
Polen völlige Autonomie hatten, ein in jeder Beziehung sehr schlecht bewirtschaftetes
Gebiet, rückständig und verarmt, trotzdem es mit Bodenschätzen aller Art reichlich
ausgestattet ist. Kongreßpolen, von dessen Verwaltung die Polen seitens der
Russen dauernd und vollständig ausgeschlossen waren, ist von Rußland aus
politischen Gründen, um es wirtschaftlich nicht zu sehr erstarken zu lassen, und
aus strategischen Gründen, welche Nußland veranlaßt haben, in Polen möglichst
wenig Bahnen und Chausseen zu bauen, absichtlich niedergehalten worden. Und
da die wirtschaftliche Kultur Nutzlands bekanntlich an sich schon gegenüber der
europäischen sehr rückständig ist, so kann man sich ungefähr vorstellen, wie grund¬
verschieden die Kultur Kongreßpolens in jeder Beziehung von derjenigen der
Provinz Posen ist. Besonders wenn man in Betracht zieht, daß die Provinz
Posen vom Preußischen Staate stets eine weitgehende Förderung erfahren hat.

Eine Komplikation erfährt das Problem der Neugründung des Polnischen
Staates in der von den Polen gewünschten Form noch durch die ungeheuer große
Anzahl der dort befindlichen Juden. Die Zahl der Juden war in Kongreßpolen
an und für sich schon eine sehr hohe, wurde aber dadurch noch erheblich ver¬
größert, daß Rußland vor einer Reihe von Jahren sich veranlaßt gesehen hat,
eine weitere große Anzahl russischer Juden (Lilwaken) gewaltsam auf administrativen
Wege aus gewissen russischen Bezirken nach Polen zu dräugen, so daß jetzt die
Zahl der Juden in Kongreßpolen und Galizien auf annähernd etwa drei Mittönen
geschätzt werden kann. Das Hütte an sich nichts zu sagen, wenn diese Juden,
wie in den Mittel- und westeuropäischen Ländern, sich von der Bevölkerung nur
durch die Religion unterscheiden würden. Diese drei Millionen Juden sind aber
nicht bloß von Nußland, sondern auch schon früher von Polen durch gesetzgeberische
Maßregeln und durch in der Praxis ausgeübten Druck sowohl in materieller als
in kultureller Hinsicht zu Parias gestempelt worden. Sie stehen infolgedessen
heute noch auf einem -- man könnte sagen -- mittelalterlichen Standpunkte.

Ans vorstehendem erhellt, daß Wohl noch niemals, solange die Welt existiert,
ein Volksbestandteil einer Entscheidung von so ungeheuer einschneidender Bedeutung
gegenübergestellt war, wie die Bewohner der Provinz Posen, falls diese Piovinz
ein Be andteil des neuen Polnischen Staates werden würde. Dieser Fall ist
beispielsweise mit demjenigen von Elsaß-Lothringen auch nicht im entferntesten zu
vergleichen. Die Elsaß-Lothringer kämen, wenn ihr Land wieder Frankreich ein¬
verleibt wird, in eine, wenn auch etwas anders geartete, so doch gleich hohe
Kultur. Hier aber würde eine in jeder Beziehung kulturell hochstehende Provinz


Soll die Provinz Posen dem polnischen Staate einverleibt werden?

Hol! die Provinz Posen dem polnischen Staate
einverleibt werden?

meer den vielen wichtigen Fragen, die die Friedenskonferenz zu
entscheiden haben wird, wird ohne Zweifel die „polnische" eine der
kompliziertesten sein; denn für den Außenstehenden bezw. denjenigen,
der sich nicht jahrelang mit den einschlägigen Verhältnissen befaßt
und diese an Ort und Stelle studiert hat, ist es nicht leicht, sich
ein maßgebendes Urteil zu bilden.

Bei der Schaffung eines Polnischen Staates handelt es sich um ein Problem,
das wohl in seiner Art' ein vollständiges Novum bildet. Handelt es sich doch um
die Wieoererschaffnng eines großen StaatengebildeS, das seit etwa 125 Jahren
aufgehört hat zu existieren. Überdies gehen die Bestrebungen der Polen dahin,
daß ihrem Staate nicht bloß das ehemalige Kongreßpolen mit den angrenzenden
Gebieten, sowie Galizien, sondern auch diejenigen Bezirke zugesprochen werden
sollen, die ebenfalls schon im achtzehnten (!) Jahrhundert preußiich geworden und
mit einer starken deutschen Bevölkerung und mit deutscher Kultur durchsetzt sind.
Wenn dieser Fall eintritt, dann würden sich in dem neuen polnischen Staate
drei ganz heterogene, in ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen Kultur grund¬
verschiedene Länder zusammenfinden. Galizien ist bekanntlich, obwohl dort die
Polen völlige Autonomie hatten, ein in jeder Beziehung sehr schlecht bewirtschaftetes
Gebiet, rückständig und verarmt, trotzdem es mit Bodenschätzen aller Art reichlich
ausgestattet ist. Kongreßpolen, von dessen Verwaltung die Polen seitens der
Russen dauernd und vollständig ausgeschlossen waren, ist von Rußland aus
politischen Gründen, um es wirtschaftlich nicht zu sehr erstarken zu lassen, und
aus strategischen Gründen, welche Nußland veranlaßt haben, in Polen möglichst
wenig Bahnen und Chausseen zu bauen, absichtlich niedergehalten worden. Und
da die wirtschaftliche Kultur Nutzlands bekanntlich an sich schon gegenüber der
europäischen sehr rückständig ist, so kann man sich ungefähr vorstellen, wie grund¬
verschieden die Kultur Kongreßpolens in jeder Beziehung von derjenigen der
Provinz Posen ist. Besonders wenn man in Betracht zieht, daß die Provinz
Posen vom Preußischen Staate stets eine weitgehende Förderung erfahren hat.

Eine Komplikation erfährt das Problem der Neugründung des Polnischen
Staates in der von den Polen gewünschten Form noch durch die ungeheuer große
Anzahl der dort befindlichen Juden. Die Zahl der Juden war in Kongreßpolen
an und für sich schon eine sehr hohe, wurde aber dadurch noch erheblich ver¬
größert, daß Rußland vor einer Reihe von Jahren sich veranlaßt gesehen hat,
eine weitere große Anzahl russischer Juden (Lilwaken) gewaltsam auf administrativen
Wege aus gewissen russischen Bezirken nach Polen zu dräugen, so daß jetzt die
Zahl der Juden in Kongreßpolen und Galizien auf annähernd etwa drei Mittönen
geschätzt werden kann. Das Hütte an sich nichts zu sagen, wenn diese Juden,
wie in den Mittel- und westeuropäischen Ländern, sich von der Bevölkerung nur
durch die Religion unterscheiden würden. Diese drei Millionen Juden sind aber
nicht bloß von Nußland, sondern auch schon früher von Polen durch gesetzgeberische
Maßregeln und durch in der Praxis ausgeübten Druck sowohl in materieller als
in kultureller Hinsicht zu Parias gestempelt worden. Sie stehen infolgedessen
heute noch auf einem — man könnte sagen — mittelalterlichen Standpunkte.

Ans vorstehendem erhellt, daß Wohl noch niemals, solange die Welt existiert,
ein Volksbestandteil einer Entscheidung von so ungeheuer einschneidender Bedeutung
gegenübergestellt war, wie die Bewohner der Provinz Posen, falls diese Piovinz
ein Be andteil des neuen Polnischen Staates werden würde. Dieser Fall ist
beispielsweise mit demjenigen von Elsaß-Lothringen auch nicht im entferntesten zu
vergleichen. Die Elsaß-Lothringer kämen, wenn ihr Land wieder Frankreich ein¬
verleibt wird, in eine, wenn auch etwas anders geartete, so doch gleich hohe
Kultur. Hier aber würde eine in jeder Beziehung kulturell hochstehende Provinz


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[0142] Soll die Provinz Posen dem polnischen Staate einverleibt werden? Hol! die Provinz Posen dem polnischen Staate einverleibt werden? meer den vielen wichtigen Fragen, die die Friedenskonferenz zu entscheiden haben wird, wird ohne Zweifel die „polnische" eine der kompliziertesten sein; denn für den Außenstehenden bezw. denjenigen, der sich nicht jahrelang mit den einschlägigen Verhältnissen befaßt und diese an Ort und Stelle studiert hat, ist es nicht leicht, sich ein maßgebendes Urteil zu bilden. Bei der Schaffung eines Polnischen Staates handelt es sich um ein Problem, das wohl in seiner Art' ein vollständiges Novum bildet. Handelt es sich doch um die Wieoererschaffnng eines großen StaatengebildeS, das seit etwa 125 Jahren aufgehört hat zu existieren. Überdies gehen die Bestrebungen der Polen dahin, daß ihrem Staate nicht bloß das ehemalige Kongreßpolen mit den angrenzenden Gebieten, sowie Galizien, sondern auch diejenigen Bezirke zugesprochen werden sollen, die ebenfalls schon im achtzehnten (!) Jahrhundert preußiich geworden und mit einer starken deutschen Bevölkerung und mit deutscher Kultur durchsetzt sind. Wenn dieser Fall eintritt, dann würden sich in dem neuen polnischen Staate drei ganz heterogene, in ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen Kultur grund¬ verschiedene Länder zusammenfinden. Galizien ist bekanntlich, obwohl dort die Polen völlige Autonomie hatten, ein in jeder Beziehung sehr schlecht bewirtschaftetes Gebiet, rückständig und verarmt, trotzdem es mit Bodenschätzen aller Art reichlich ausgestattet ist. Kongreßpolen, von dessen Verwaltung die Polen seitens der Russen dauernd und vollständig ausgeschlossen waren, ist von Rußland aus politischen Gründen, um es wirtschaftlich nicht zu sehr erstarken zu lassen, und aus strategischen Gründen, welche Nußland veranlaßt haben, in Polen möglichst wenig Bahnen und Chausseen zu bauen, absichtlich niedergehalten worden. Und da die wirtschaftliche Kultur Nutzlands bekanntlich an sich schon gegenüber der europäischen sehr rückständig ist, so kann man sich ungefähr vorstellen, wie grund¬ verschieden die Kultur Kongreßpolens in jeder Beziehung von derjenigen der Provinz Posen ist. Besonders wenn man in Betracht zieht, daß die Provinz Posen vom Preußischen Staate stets eine weitgehende Förderung erfahren hat. Eine Komplikation erfährt das Problem der Neugründung des Polnischen Staates in der von den Polen gewünschten Form noch durch die ungeheuer große Anzahl der dort befindlichen Juden. Die Zahl der Juden war in Kongreßpolen an und für sich schon eine sehr hohe, wurde aber dadurch noch erheblich ver¬ größert, daß Rußland vor einer Reihe von Jahren sich veranlaßt gesehen hat, eine weitere große Anzahl russischer Juden (Lilwaken) gewaltsam auf administrativen Wege aus gewissen russischen Bezirken nach Polen zu dräugen, so daß jetzt die Zahl der Juden in Kongreßpolen und Galizien auf annähernd etwa drei Mittönen geschätzt werden kann. Das Hütte an sich nichts zu sagen, wenn diese Juden, wie in den Mittel- und westeuropäischen Ländern, sich von der Bevölkerung nur durch die Religion unterscheiden würden. Diese drei Millionen Juden sind aber nicht bloß von Nußland, sondern auch schon früher von Polen durch gesetzgeberische Maßregeln und durch in der Praxis ausgeübten Druck sowohl in materieller als in kultureller Hinsicht zu Parias gestempelt worden. Sie stehen infolgedessen heute noch auf einem — man könnte sagen — mittelalterlichen Standpunkte. Ans vorstehendem erhellt, daß Wohl noch niemals, solange die Welt existiert, ein Volksbestandteil einer Entscheidung von so ungeheuer einschneidender Bedeutung gegenübergestellt war, wie die Bewohner der Provinz Posen, falls diese Piovinz ein Be andteil des neuen Polnischen Staates werden würde. Dieser Fall ist beispielsweise mit demjenigen von Elsaß-Lothringen auch nicht im entferntesten zu vergleichen. Die Elsaß-Lothringer kämen, wenn ihr Land wieder Frankreich ein¬ verleibt wird, in eine, wenn auch etwas anders geartete, so doch gleich hohe Kultur. Hier aber würde eine in jeder Beziehung kulturell hochstehende Provinz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/142>, abgerufen am 09.11.2024.