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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.

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Das Vorbild dör dentschen Revolution

Kerensky, schon als Duma-Abgeordneter sehr populär, dann als "Held der
russischen Revolution" begeistert verehrt, war wohl die geeignete, Persönlichkeit
als Vermittler zwischen den beiden Polen zu wirken, besaß' er doch in hohem
Maße das Vertrauen sowohl der bürgerlichen, als auch der sozialistischen Kreise.
Doch durch wankelmütige Phrasen und gestenreiche Politik verlor er schon nach
wenigen Monaten seine Autorität, und somit war der Mann, vielleicht der
einzige, der die Gegensätze zwischen den Klassen zu einem Ausgleich hätte bringen
können, erledigt. Wohl gelang es noch mit knapper Not, den Bolschewiki-Aufstand
in Petersburg im Juli zu unterdrücken, doch was half es! Man hatte immer
noch nichts gelernt und Regierung und Parteien ergingen sich in großen Reden,
Kundgebungen und Phrasen, während rings herum das ganze Land in ein riesiges
Flammenmeer verwandelt war und Bauern gegen Gutsbesitzer, Soldaten gegen
Offiziere, Arbeitnehmer gegen Arbeitgeber einen verzweifelten Kampf kämpften.
Und auf allen Fronten siegte das einige geschlossene Proletariat über daS
zersprengte Bürgertum. Von der Übermacht gedrängt schieden schließlich auch die
letzten uichtsozialistischen Minister aus der Regierung; doch auch oas rein¬
sozialistische Ministerium konnte sich jetzt nicht mehr hallen, der Staatskarrcn saß
zu tief im Sumpf. "Frieden -- Brot -- Land" versprachen die Bolschewiki. Ein
scharfer Hieb, ein kurzer Kampf -- und Lenin ward Herr von Rußland.

Doch nun war man erwacht! Nun waren sie alle einig in dem Schrei: das
darf so nicht bleiben! Wir müssen kämpfen um unser Recht, um unsere Existenz!
Zu spät! Wohl erklärte die gesamte Beamtenschaft der neuen Regierung den
Boytott und trat in den Aufstand. Was half es -- die Streitenden wurden
kurzerhand entlassen, Arbeiter wurden Gerichtspräsidenten, Portiers Bank¬
direktoren, Soldaten wurden Armeekommandierende. Und wenn die Regierung
wähnte, hier und dort ohne.intelligente Kräfte nicht auskommen zu können, so
wurde kurzer Prozeß gemacht: ein paar Notgardisten erschienen in der Wohnung
des betreffenden Beamten: "Erkennen Sie die Sowjet-Negierung an? Ja --
dann haben Sie morgen im Dienst zu erscheinen, nein -- Sie, werden als Gegen-
revolutionär verhaftet." Hunderte sind ins Gefängnis gewandert, einige kehrten
still auf ihren Posten zurück aus Rücksicht auf die Existenz, die Familie, denn Wo
war jetzt eine Stelle zu finden? Es ist ja nicht aus lange, tröstete man sich, die
allerunpopulärste Regierung, die Stußland je gehabt, wird sich ja doch nicht halten
können. Es sollte schlimmer kommen, noch viel schlimmer. Vorurteilslos und
folgerecht rissen die neuen Machthaber die bestehende Gesellschaftsordnung nieder,
einen utopistischen Kommunismus an ihre Stelle setzend, grotesk gepaart mit der
absoluten Vorherrschaft einer kleinen, sich lauf Maschinengewehre und Hand¬
granaten stützenden Partei. Verlangend reckte der besitzlose Hause die Hände nach
dem mühsam erworbenen bürgerlichen Wohlstand, gierig griff er nach dem Glanz
des Reichtums. Nationalisierung des Großgrundbesitzes, Nationalisierung des
Bankwesens, der Fabriken! Einquartierung des Proletariats in die Häuser der
"Bourgeois"! Kampf gegen das Bürgertum, Kampf gegen den Besitz! Das
waren die Losungen, das war der Köder der Sowjet-Regierung. Und nur zu
willig schenkten breite Massen ihnen Gehör. Die rohen Instinkte waren geweckt,
das Grundwasser aufgewühlt. Tragisch waren die Folgen. Täglich wuchs die Zahl
der Arbeitslosen. Durch die Demobilisierung und Auflösung des Heeres wurden
Dausende von Offizieren und Soldaten brotlos, durch die Schließung der Gerichts¬
institutionen wurde die ganze juristische Welt auf die Straße gesetzt; durch das
Eingehen von zahllosen Betrieben, häufig auf Grund rein persönlicher
MißHelligkeiten mit der Arbeiterschaft, wurden Hunderte von Ingenieuren und
Technikern entlassen oder durch die Arbeiter buchstäblich auf die Straße geworfen.
Und schließlich wurde dann, Anfang Dezember, der entscheidende Schlag gegen
die gesamte besitzende Klasse geführt: durch Sperrung der Banken und Nichtig¬
keitserklärung der Wertpapiere wurde mit einem Schlag, wer gestern noch sei"
Auskommen gehabt, heute an den Bettelstab gebracht. Immer trüber und trüber
erschien die Zukunft, und ein Ende der furchtbaren Not ist noch heute nicht abzu¬
sehen. Und damals konnte man es öfters hören, erst leise und verschämt, dann


Das Vorbild dör dentschen Revolution

Kerensky, schon als Duma-Abgeordneter sehr populär, dann als „Held der
russischen Revolution" begeistert verehrt, war wohl die geeignete, Persönlichkeit
als Vermittler zwischen den beiden Polen zu wirken, besaß' er doch in hohem
Maße das Vertrauen sowohl der bürgerlichen, als auch der sozialistischen Kreise.
Doch durch wankelmütige Phrasen und gestenreiche Politik verlor er schon nach
wenigen Monaten seine Autorität, und somit war der Mann, vielleicht der
einzige, der die Gegensätze zwischen den Klassen zu einem Ausgleich hätte bringen
können, erledigt. Wohl gelang es noch mit knapper Not, den Bolschewiki-Aufstand
in Petersburg im Juli zu unterdrücken, doch was half es! Man hatte immer
noch nichts gelernt und Regierung und Parteien ergingen sich in großen Reden,
Kundgebungen und Phrasen, während rings herum das ganze Land in ein riesiges
Flammenmeer verwandelt war und Bauern gegen Gutsbesitzer, Soldaten gegen
Offiziere, Arbeitnehmer gegen Arbeitgeber einen verzweifelten Kampf kämpften.
Und auf allen Fronten siegte das einige geschlossene Proletariat über daS
zersprengte Bürgertum. Von der Übermacht gedrängt schieden schließlich auch die
letzten uichtsozialistischen Minister aus der Regierung; doch auch oas rein¬
sozialistische Ministerium konnte sich jetzt nicht mehr hallen, der Staatskarrcn saß
zu tief im Sumpf. „Frieden — Brot — Land" versprachen die Bolschewiki. Ein
scharfer Hieb, ein kurzer Kampf — und Lenin ward Herr von Rußland.

Doch nun war man erwacht! Nun waren sie alle einig in dem Schrei: das
darf so nicht bleiben! Wir müssen kämpfen um unser Recht, um unsere Existenz!
Zu spät! Wohl erklärte die gesamte Beamtenschaft der neuen Regierung den
Boytott und trat in den Aufstand. Was half es — die Streitenden wurden
kurzerhand entlassen, Arbeiter wurden Gerichtspräsidenten, Portiers Bank¬
direktoren, Soldaten wurden Armeekommandierende. Und wenn die Regierung
wähnte, hier und dort ohne.intelligente Kräfte nicht auskommen zu können, so
wurde kurzer Prozeß gemacht: ein paar Notgardisten erschienen in der Wohnung
des betreffenden Beamten: „Erkennen Sie die Sowjet-Negierung an? Ja —
dann haben Sie morgen im Dienst zu erscheinen, nein — Sie, werden als Gegen-
revolutionär verhaftet." Hunderte sind ins Gefängnis gewandert, einige kehrten
still auf ihren Posten zurück aus Rücksicht auf die Existenz, die Familie, denn Wo
war jetzt eine Stelle zu finden? Es ist ja nicht aus lange, tröstete man sich, die
allerunpopulärste Regierung, die Stußland je gehabt, wird sich ja doch nicht halten
können. Es sollte schlimmer kommen, noch viel schlimmer. Vorurteilslos und
folgerecht rissen die neuen Machthaber die bestehende Gesellschaftsordnung nieder,
einen utopistischen Kommunismus an ihre Stelle setzend, grotesk gepaart mit der
absoluten Vorherrschaft einer kleinen, sich lauf Maschinengewehre und Hand¬
granaten stützenden Partei. Verlangend reckte der besitzlose Hause die Hände nach
dem mühsam erworbenen bürgerlichen Wohlstand, gierig griff er nach dem Glanz
des Reichtums. Nationalisierung des Großgrundbesitzes, Nationalisierung des
Bankwesens, der Fabriken! Einquartierung des Proletariats in die Häuser der
„Bourgeois"! Kampf gegen das Bürgertum, Kampf gegen den Besitz! Das
waren die Losungen, das war der Köder der Sowjet-Regierung. Und nur zu
willig schenkten breite Massen ihnen Gehör. Die rohen Instinkte waren geweckt,
das Grundwasser aufgewühlt. Tragisch waren die Folgen. Täglich wuchs die Zahl
der Arbeitslosen. Durch die Demobilisierung und Auflösung des Heeres wurden
Dausende von Offizieren und Soldaten brotlos, durch die Schließung der Gerichts¬
institutionen wurde die ganze juristische Welt auf die Straße gesetzt; durch das
Eingehen von zahllosen Betrieben, häufig auf Grund rein persönlicher
MißHelligkeiten mit der Arbeiterschaft, wurden Hunderte von Ingenieuren und
Technikern entlassen oder durch die Arbeiter buchstäblich auf die Straße geworfen.
Und schließlich wurde dann, Anfang Dezember, der entscheidende Schlag gegen
die gesamte besitzende Klasse geführt: durch Sperrung der Banken und Nichtig¬
keitserklärung der Wertpapiere wurde mit einem Schlag, wer gestern noch sei»
Auskommen gehabt, heute an den Bettelstab gebracht. Immer trüber und trüber
erschien die Zukunft, und ein Ende der furchtbaren Not ist noch heute nicht abzu¬
sehen. Und damals konnte man es öfters hören, erst leise und verschämt, dann


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[0054] Das Vorbild dör dentschen Revolution Kerensky, schon als Duma-Abgeordneter sehr populär, dann als „Held der russischen Revolution" begeistert verehrt, war wohl die geeignete, Persönlichkeit als Vermittler zwischen den beiden Polen zu wirken, besaß' er doch in hohem Maße das Vertrauen sowohl der bürgerlichen, als auch der sozialistischen Kreise. Doch durch wankelmütige Phrasen und gestenreiche Politik verlor er schon nach wenigen Monaten seine Autorität, und somit war der Mann, vielleicht der einzige, der die Gegensätze zwischen den Klassen zu einem Ausgleich hätte bringen können, erledigt. Wohl gelang es noch mit knapper Not, den Bolschewiki-Aufstand in Petersburg im Juli zu unterdrücken, doch was half es! Man hatte immer noch nichts gelernt und Regierung und Parteien ergingen sich in großen Reden, Kundgebungen und Phrasen, während rings herum das ganze Land in ein riesiges Flammenmeer verwandelt war und Bauern gegen Gutsbesitzer, Soldaten gegen Offiziere, Arbeitnehmer gegen Arbeitgeber einen verzweifelten Kampf kämpften. Und auf allen Fronten siegte das einige geschlossene Proletariat über daS zersprengte Bürgertum. Von der Übermacht gedrängt schieden schließlich auch die letzten uichtsozialistischen Minister aus der Regierung; doch auch oas rein¬ sozialistische Ministerium konnte sich jetzt nicht mehr hallen, der Staatskarrcn saß zu tief im Sumpf. „Frieden — Brot — Land" versprachen die Bolschewiki. Ein scharfer Hieb, ein kurzer Kampf — und Lenin ward Herr von Rußland. Doch nun war man erwacht! Nun waren sie alle einig in dem Schrei: das darf so nicht bleiben! Wir müssen kämpfen um unser Recht, um unsere Existenz! Zu spät! Wohl erklärte die gesamte Beamtenschaft der neuen Regierung den Boytott und trat in den Aufstand. Was half es — die Streitenden wurden kurzerhand entlassen, Arbeiter wurden Gerichtspräsidenten, Portiers Bank¬ direktoren, Soldaten wurden Armeekommandierende. Und wenn die Regierung wähnte, hier und dort ohne.intelligente Kräfte nicht auskommen zu können, so wurde kurzer Prozeß gemacht: ein paar Notgardisten erschienen in der Wohnung des betreffenden Beamten: „Erkennen Sie die Sowjet-Negierung an? Ja — dann haben Sie morgen im Dienst zu erscheinen, nein — Sie, werden als Gegen- revolutionär verhaftet." Hunderte sind ins Gefängnis gewandert, einige kehrten still auf ihren Posten zurück aus Rücksicht auf die Existenz, die Familie, denn Wo war jetzt eine Stelle zu finden? Es ist ja nicht aus lange, tröstete man sich, die allerunpopulärste Regierung, die Stußland je gehabt, wird sich ja doch nicht halten können. Es sollte schlimmer kommen, noch viel schlimmer. Vorurteilslos und folgerecht rissen die neuen Machthaber die bestehende Gesellschaftsordnung nieder, einen utopistischen Kommunismus an ihre Stelle setzend, grotesk gepaart mit der absoluten Vorherrschaft einer kleinen, sich lauf Maschinengewehre und Hand¬ granaten stützenden Partei. Verlangend reckte der besitzlose Hause die Hände nach dem mühsam erworbenen bürgerlichen Wohlstand, gierig griff er nach dem Glanz des Reichtums. Nationalisierung des Großgrundbesitzes, Nationalisierung des Bankwesens, der Fabriken! Einquartierung des Proletariats in die Häuser der „Bourgeois"! Kampf gegen das Bürgertum, Kampf gegen den Besitz! Das waren die Losungen, das war der Köder der Sowjet-Regierung. Und nur zu willig schenkten breite Massen ihnen Gehör. Die rohen Instinkte waren geweckt, das Grundwasser aufgewühlt. Tragisch waren die Folgen. Täglich wuchs die Zahl der Arbeitslosen. Durch die Demobilisierung und Auflösung des Heeres wurden Dausende von Offizieren und Soldaten brotlos, durch die Schließung der Gerichts¬ institutionen wurde die ganze juristische Welt auf die Straße gesetzt; durch das Eingehen von zahllosen Betrieben, häufig auf Grund rein persönlicher MißHelligkeiten mit der Arbeiterschaft, wurden Hunderte von Ingenieuren und Technikern entlassen oder durch die Arbeiter buchstäblich auf die Straße geworfen. Und schließlich wurde dann, Anfang Dezember, der entscheidende Schlag gegen die gesamte besitzende Klasse geführt: durch Sperrung der Banken und Nichtig¬ keitserklärung der Wertpapiere wurde mit einem Schlag, wer gestern noch sei» Auskommen gehabt, heute an den Bettelstab gebracht. Immer trüber und trüber erschien die Zukunft, und ein Ende der furchtbaren Not ist noch heute nicht abzu¬ sehen. Und damals konnte man es öfters hören, erst leise und verschämt, dann

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335181/54>, abgerufen am 05.02.2025.