Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.Vas vorlnld der deutschen Revolntio?, immer lauter und schadenfroher, auf der Straße, in den Elektrischen, in den Brot- Vas vorlnld der deutschen Revolntio?, immer lauter und schadenfroher, auf der Straße, in den Elektrischen, in den Brot- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0055" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/335237"/> <fw type="header" place="top"> Vas vorlnld der deutschen Revolntio?,</fw><lb/> <p xml:id="ID_216" prev="#ID_215" next="#ID_217"> immer lauter und schadenfroher, auf der Straße, in den Elektrischen, in den Brot-<lb/> Ach, wenn doch die Deutschen erst hier wären." Das war der Notschrei des<lb/> gequälten Volkes, der zerschlagenen Intelligenz. Doch der Abschluß des Brester<lb/> Friedens vernichtete auch diese .Hoffnung. schutzlos und »vchrlos steht heute der<lb/> russische Bürger der Willkür des Proletariats gegenüber. Der geringste Verdacht,<lb/> der Schein einer „gegeilrevolutionären" Handlung kaun Verhaftung, Erschießung<lb/> nach sich ziehen. Namentlich sind die gewesenen Offiziere keinen Augenblick ihres<lb/> Lebens sicher. Viele, viele haben den Tod gesunden in diesem ungleichen Kampf,<lb/> viele schmachten im Gefängnis. Leben und Besitz sind in ständiger Gefahr. Was<lb/> in jahrelanger Arbeit Kultur und Zivilisation im weiten Rachland errichtet haben)<lb/> stürzt zusammen, die Brandfackel des Bürgerkrieges beleuchtet ein trostloses Grab<lb/> menschlicher Wünsche und Hoffnungen. Das Bürgertum, der Besitz, der<lb/> Kapitalismus sollten zum Wohle der Arbeiterschaft vernichtet werden, die<lb/> stürzende Intelligenz riß das Proletariat mit in den Abgrund hinein. Die<lb/> Fabriken stehen still, die Felder verdorren, die Städte veröden, Hunger und Kälte<lb/> herrschen im Hause! Und keine Arbeit! Da trat denn lau die Intelligenz, an alle<lb/> diejenigen, die nicht unmittelbar an der Staatskrippe standen, die bange Frage<lb/> heran: woher die Mittel nehmen, um die unerschwinglichen Preise für die Lebens¬<lb/> mittel zu bezahlen? Und nun schloß man sich zusammen, nun war man bereit,<lb/> gemeinsam zu arbeiten. So wurde in Petersburg, wo die Verhältnisse<lb/> bekanntlich am cillerschlimmsten sind, eine Reihe von Verbindungen<lb/> gegründet, die unter dein Namen „Urteile intelligenter Arbeiter" sich zu den<lb/> verschiedensten Diensten verdingten. Da konnte matt z. B. im Januar—Februar<lb/> 1918 täglich zwei- bis dreihundert Offiziere der Garderegimeuter mit Hacke und<lb/> Spaten auf dem Newsky Schnee schaufeln scheu. Der Verdienst belief sich auf<lb/> zirka fünfzehn Rubel täglich. Senf den Güterbahnhöfen arbeiteten Offiziere,<lb/> Ingenieure, Juristen als Lastträger und verdienten bei achtstündigem Arbeitstag<lb/> und vier obligatorischen Überstunden bis fünfundvierzig Rubel täglich. Das<lb/> Geschäft des Zeitunqsverkcmfens war auch sehr beliebt, besonders in Kreisen der<lb/> höheren Aristokratie; die .bürgerliche Presse deckte ihren ganzen Bedarf an<lb/> Straßenverkäufern aus Kreisen der Intelligenz. Ein Zeitungsverkäufer stand<lb/> sich auf acht bis zwanzig Rubel täglich. Auch Damen der höchsten Gesellschafts¬<lb/> kreise konnte man in ' Straßenbahnwagen und Kaffeehäusern die neuesten<lb/> Telegramme ausrufen hören. Andere wieder machten sich die Togesbedürsnisse<lb/> des Publikums zu Nutzen: etwas gehamstertes Mehl, zerstampfte Sonnenblumen¬<lb/> samen, Hecksel zu Teig augerührt als „Kuchen" von der Größe eines Hühnereies<lb/> gebacken, fanden an belebten Straßenecken reißenden Absatz. Und neben dem<lb/> Kuchenverkäufer steht Graf so und so und bietet Zigarette,: oder Schokolade den<lb/> Vorübergehenden an. Unternehmungslustigere, Energischere betreiben den<lb/> Lebeilsmittelhandel- in größerem Maßstab, indem sie ein Cass eröffnen; die<lb/> Mutter kocht, der Vater steht loin Ladentisch, die Töchter betonen das Publikum,<lb/> während die Söhne ständig auf der Hamsterfahrt sind um die nötigen Lebens¬<lb/> mittel herbeizuschaffen — und noch vor einem Jahr fuhren diese Leute in ihrem<lb/> eleganten Auto strahlend in Gold und Juwelen zum Hofball. Wieder andere<lb/> haben sich auf allerlei Spekulationen verlegt, und der Schleichhandel in allen<lb/> Branchen blüht, wie nie zuvor. Alle diese Leute haben sich -in die neuen<lb/> Verhältnisse hineingefunden, sie scheuen sich nicht, durch chrer Hände Arbeit sich<lb/> die Existenzmittel zu verschaffen. Doch nicht jeder kann so arbeiten: es gibt Alte<lb/> und Kranke; die Pension wird nicht mehr gezahlt, die Wertpapiere sind annulliert.<lb/> Wovon leben?! und schweren Herzens mustert man seine Sachen, Möbel,<lb/> Kleidungsstücke, Kunst- und Wertgegenstände, und em lieber Gegenstand nach dem<lb/> anderen, manch teures Andenken, wandert in die Hände von Aufkäufern oder<lb/> reichgewordenen Emporkömmlingen. Neihweise standen sie auf dem Trödelmarkt,<lb/> elegante Serren, Vornohme Damen neben dem hausierenden Soldaten und<lb/> Tataren und boten ihre Habe den Vorübergehenden an. An allen Straßenecken<lb/> konnte man es lesen: in dieser und jener Wohnung werden allerlei Sachen der-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0055]
Vas vorlnld der deutschen Revolntio?,
immer lauter und schadenfroher, auf der Straße, in den Elektrischen, in den Brot-
Ach, wenn doch die Deutschen erst hier wären." Das war der Notschrei des
gequälten Volkes, der zerschlagenen Intelligenz. Doch der Abschluß des Brester
Friedens vernichtete auch diese .Hoffnung. schutzlos und »vchrlos steht heute der
russische Bürger der Willkür des Proletariats gegenüber. Der geringste Verdacht,
der Schein einer „gegeilrevolutionären" Handlung kaun Verhaftung, Erschießung
nach sich ziehen. Namentlich sind die gewesenen Offiziere keinen Augenblick ihres
Lebens sicher. Viele, viele haben den Tod gesunden in diesem ungleichen Kampf,
viele schmachten im Gefängnis. Leben und Besitz sind in ständiger Gefahr. Was
in jahrelanger Arbeit Kultur und Zivilisation im weiten Rachland errichtet haben)
stürzt zusammen, die Brandfackel des Bürgerkrieges beleuchtet ein trostloses Grab
menschlicher Wünsche und Hoffnungen. Das Bürgertum, der Besitz, der
Kapitalismus sollten zum Wohle der Arbeiterschaft vernichtet werden, die
stürzende Intelligenz riß das Proletariat mit in den Abgrund hinein. Die
Fabriken stehen still, die Felder verdorren, die Städte veröden, Hunger und Kälte
herrschen im Hause! Und keine Arbeit! Da trat denn lau die Intelligenz, an alle
diejenigen, die nicht unmittelbar an der Staatskrippe standen, die bange Frage
heran: woher die Mittel nehmen, um die unerschwinglichen Preise für die Lebens¬
mittel zu bezahlen? Und nun schloß man sich zusammen, nun war man bereit,
gemeinsam zu arbeiten. So wurde in Petersburg, wo die Verhältnisse
bekanntlich am cillerschlimmsten sind, eine Reihe von Verbindungen
gegründet, die unter dein Namen „Urteile intelligenter Arbeiter" sich zu den
verschiedensten Diensten verdingten. Da konnte matt z. B. im Januar—Februar
1918 täglich zwei- bis dreihundert Offiziere der Garderegimeuter mit Hacke und
Spaten auf dem Newsky Schnee schaufeln scheu. Der Verdienst belief sich auf
zirka fünfzehn Rubel täglich. Senf den Güterbahnhöfen arbeiteten Offiziere,
Ingenieure, Juristen als Lastträger und verdienten bei achtstündigem Arbeitstag
und vier obligatorischen Überstunden bis fünfundvierzig Rubel täglich. Das
Geschäft des Zeitunqsverkcmfens war auch sehr beliebt, besonders in Kreisen der
höheren Aristokratie; die .bürgerliche Presse deckte ihren ganzen Bedarf an
Straßenverkäufern aus Kreisen der Intelligenz. Ein Zeitungsverkäufer stand
sich auf acht bis zwanzig Rubel täglich. Auch Damen der höchsten Gesellschafts¬
kreise konnte man in ' Straßenbahnwagen und Kaffeehäusern die neuesten
Telegramme ausrufen hören. Andere wieder machten sich die Togesbedürsnisse
des Publikums zu Nutzen: etwas gehamstertes Mehl, zerstampfte Sonnenblumen¬
samen, Hecksel zu Teig augerührt als „Kuchen" von der Größe eines Hühnereies
gebacken, fanden an belebten Straßenecken reißenden Absatz. Und neben dem
Kuchenverkäufer steht Graf so und so und bietet Zigarette,: oder Schokolade den
Vorübergehenden an. Unternehmungslustigere, Energischere betreiben den
Lebeilsmittelhandel- in größerem Maßstab, indem sie ein Cass eröffnen; die
Mutter kocht, der Vater steht loin Ladentisch, die Töchter betonen das Publikum,
während die Söhne ständig auf der Hamsterfahrt sind um die nötigen Lebens¬
mittel herbeizuschaffen — und noch vor einem Jahr fuhren diese Leute in ihrem
eleganten Auto strahlend in Gold und Juwelen zum Hofball. Wieder andere
haben sich auf allerlei Spekulationen verlegt, und der Schleichhandel in allen
Branchen blüht, wie nie zuvor. Alle diese Leute haben sich -in die neuen
Verhältnisse hineingefunden, sie scheuen sich nicht, durch chrer Hände Arbeit sich
die Existenzmittel zu verschaffen. Doch nicht jeder kann so arbeiten: es gibt Alte
und Kranke; die Pension wird nicht mehr gezahlt, die Wertpapiere sind annulliert.
Wovon leben?! und schweren Herzens mustert man seine Sachen, Möbel,
Kleidungsstücke, Kunst- und Wertgegenstände, und em lieber Gegenstand nach dem
anderen, manch teures Andenken, wandert in die Hände von Aufkäufern oder
reichgewordenen Emporkömmlingen. Neihweise standen sie auf dem Trödelmarkt,
elegante Serren, Vornohme Damen neben dem hausierenden Soldaten und
Tataren und boten ihre Habe den Vorübergehenden an. An allen Straßenecken
konnte man es lesen: in dieser und jener Wohnung werden allerlei Sachen der-
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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
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