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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Diese gewaltigen Opfer hat Frankreich ge¬
bracht, ohne daß es die geringste Verant¬
wortlichkeit (siel) trüge für die furchtbare
Katastrophe, welche den Erdball erschüttert
hat; und mit dem Augenblick, wo dieser
Schreckenssturm zu Ende geht, können sich
alle Mächte, deren Abordnungen hier zu¬
sammengetreten sind, freisprechen von irgend¬
einem (I) Schulbänken an dem Verbrechen,
das den Ausgangspunkt eines beispiellosen
Verhängnisses bildet." Poincarö fährt dann
fort: "Es erübrigen sich weitere Mitteilungen
über den Ursprung des Dramas, von welchem
die Welt erschüttert ward. Die Wahrheit, in
Blut gebadet, ist schon aus den kaiserlichen
Archiven entwichen. (Man sieht, Eisners
Drachensaat ist ausgegangen!) Der Vor¬
bedacht der Hinterlist ist heute klar erwiesen.
In der Hoffnung, zunächst die europäische
Hegemonie und daraus die Herrschaft über
die Welt zu erobern, haben die durch eine
geheime Verschwörung miteinander ver¬
knüpften Mittelmächte (bei der Entente hat
es so etwas natürlich nie gegeben!) die ge¬
hässigsten Borwände erfunden, um darauf
auszugehen, Serbien zu zerschmettern und
sich einen Weg nach dem Orient zu bahnen.
Zugleich haben sie die feierlichsten Verpflich¬
tungen verleugnet, um Belgien zermalmen
zu können und sich einen Weg in das Herz
Frankreichs zu bahnen. Das sind zwei un¬
vergeßliche Missetaten, welche die Wege zum
Überfall eröffnetem . . . Wenn nach langen
Wechselfällen,' die, welche durch das Schwert
herrschen wollten, durch das Schwert um¬
gekommen sind, so haben sie sich das nur
selbst zuzuschreiben usw. usw."

Die alte Litanei, die wir nun vier und
ein halbes Jahr bis zum Erbrechen hören.
Es ist alles hübsch beieinander: das wider¬
liche Pharisäertum, geboren aus einer ge¬
heimen Angst, hinter dem zur Schau ge¬
tragenen EngeKkleide um Gottes willen nicht
die schmutzige Weste hervorschauen zu lassen;
die eitle Selbstgefälligkeit, die abermals Wie
1370 den Kreuzträger der Menschheit Posiert,
der stümperhafte, wiewohl sehr begreifliche
Versuch, irgendwelche für die Entstehung
des Krieges total gleichgültige Formen, in
denen er sich entspann (Max Weber), als
feine "Gründe" vorzutäuschen, endlich

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die bewährten Requisiten aus der durch
und durch verlogenen Gedankenwelt des
"europäischen Gleichgewichts", das diplo¬
matische Handwerkszeug des "alten Systems",
an dem Herrn Poincarös Ministerpräsident
ja ausdrücklich festhalten will. Bei der
"Quelle" wundert man sich über nichts mehr
und tröstet sich damit, daß dermaleinst die
Geschichte über das Plaidoyer des Advokaten
richten und dabei "auch den anderen Teil
hören" wird. Ein berechtigter Trost, nur
muß dieser andere Teil dann auch gesprochen
haben. Senkt er aus Verwirrung, stolzem
Selbstbewußtsein oder krankhaftem "Rechts"-
gefühl das Haupt, so wird dem phrasen¬
geübten Gegner sein Werk erleichtert und der
schließliche Wahrspruch unnötig verzögert.
(Daß er auch dann einmal fallen müßte,
davor ist uns nicht bange!)

Leider erscheint das Deutschland von Heute
in dieser Verfassung. Die äußere Nieder¬
lage und die innere Auflösung haben den
Volks- und Staatskörper derart geschwächt,
daß er gegenüber den Krcmkheitskeimen der
Umgebung die nötige Immunität nicht mehr
zu besitzen scheint.

Eine unselige Leidenschaft der Selbst¬
beschuldigung und Selbsterniedrigung ist über
dies stolze Volk gekommen, das sich und
seine Vergangenheit verleugnet. Abermals
beugt es, wie jener Chlodwig, den Nacken
vor fremder Gewalt und verbrennt, was es
bisher angebetet hat. Abermals geht der
Irrwahn eines Flagellantentums durch
deutsche Städte und Lande, nur daß er sich
nicht wie im Mittelalter an der Würde des
Individuums, sondern der Nation als Gan¬
zem versündigt. Nationale Würdelosigkeit ist
deutsche Schwäche; diese Tatsache jedoch
schließt die Schuld einzelner nicht aus, die
durch ständiges Nörgeln und schmalen am
eigenen Herde jenem Fehler Vorschub leisten.
Seit der Revolution ist diese Sucht nationaler
Selbstbefleckung, bei der die Handelnden sich
und ihre Partei wohlweislich ausnehmen, zu
einem Umfang und einer Stärke gediehen,
die schwerste Befürchtungen wecken.

Wir klagen keinen einzelnen an und
wollen nicht Parteipolitik treiben, wo es ums
Ganze geht. Aber Tatsache ist doch, daß
(zum mindesten) Krankheitsträger jene Kreise

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Diese gewaltigen Opfer hat Frankreich ge¬
bracht, ohne daß es die geringste Verant¬
wortlichkeit (siel) trüge für die furchtbare
Katastrophe, welche den Erdball erschüttert
hat; und mit dem Augenblick, wo dieser
Schreckenssturm zu Ende geht, können sich
alle Mächte, deren Abordnungen hier zu¬
sammengetreten sind, freisprechen von irgend¬
einem (I) Schulbänken an dem Verbrechen,
das den Ausgangspunkt eines beispiellosen
Verhängnisses bildet." Poincarö fährt dann
fort: „Es erübrigen sich weitere Mitteilungen
über den Ursprung des Dramas, von welchem
die Welt erschüttert ward. Die Wahrheit, in
Blut gebadet, ist schon aus den kaiserlichen
Archiven entwichen. (Man sieht, Eisners
Drachensaat ist ausgegangen!) Der Vor¬
bedacht der Hinterlist ist heute klar erwiesen.
In der Hoffnung, zunächst die europäische
Hegemonie und daraus die Herrschaft über
die Welt zu erobern, haben die durch eine
geheime Verschwörung miteinander ver¬
knüpften Mittelmächte (bei der Entente hat
es so etwas natürlich nie gegeben!) die ge¬
hässigsten Borwände erfunden, um darauf
auszugehen, Serbien zu zerschmettern und
sich einen Weg nach dem Orient zu bahnen.
Zugleich haben sie die feierlichsten Verpflich¬
tungen verleugnet, um Belgien zermalmen
zu können und sich einen Weg in das Herz
Frankreichs zu bahnen. Das sind zwei un¬
vergeßliche Missetaten, welche die Wege zum
Überfall eröffnetem . . . Wenn nach langen
Wechselfällen,' die, welche durch das Schwert
herrschen wollten, durch das Schwert um¬
gekommen sind, so haben sie sich das nur
selbst zuzuschreiben usw. usw."

Die alte Litanei, die wir nun vier und
ein halbes Jahr bis zum Erbrechen hören.
Es ist alles hübsch beieinander: das wider¬
liche Pharisäertum, geboren aus einer ge¬
heimen Angst, hinter dem zur Schau ge¬
tragenen EngeKkleide um Gottes willen nicht
die schmutzige Weste hervorschauen zu lassen;
die eitle Selbstgefälligkeit, die abermals Wie
1370 den Kreuzträger der Menschheit Posiert,
der stümperhafte, wiewohl sehr begreifliche
Versuch, irgendwelche für die Entstehung
des Krieges total gleichgültige Formen, in
denen er sich entspann (Max Weber), als
feine „Gründe" vorzutäuschen, endlich

[Spaltenumbruch]

die bewährten Requisiten aus der durch
und durch verlogenen Gedankenwelt des
„europäischen Gleichgewichts", das diplo¬
matische Handwerkszeug des „alten Systems",
an dem Herrn Poincarös Ministerpräsident
ja ausdrücklich festhalten will. Bei der
„Quelle" wundert man sich über nichts mehr
und tröstet sich damit, daß dermaleinst die
Geschichte über das Plaidoyer des Advokaten
richten und dabei „auch den anderen Teil
hören" wird. Ein berechtigter Trost, nur
muß dieser andere Teil dann auch gesprochen
haben. Senkt er aus Verwirrung, stolzem
Selbstbewußtsein oder krankhaftem „Rechts"-
gefühl das Haupt, so wird dem phrasen¬
geübten Gegner sein Werk erleichtert und der
schließliche Wahrspruch unnötig verzögert.
(Daß er auch dann einmal fallen müßte,
davor ist uns nicht bange!)

Leider erscheint das Deutschland von Heute
in dieser Verfassung. Die äußere Nieder¬
lage und die innere Auflösung haben den
Volks- und Staatskörper derart geschwächt,
daß er gegenüber den Krcmkheitskeimen der
Umgebung die nötige Immunität nicht mehr
zu besitzen scheint.

Eine unselige Leidenschaft der Selbst¬
beschuldigung und Selbsterniedrigung ist über
dies stolze Volk gekommen, das sich und
seine Vergangenheit verleugnet. Abermals
beugt es, wie jener Chlodwig, den Nacken
vor fremder Gewalt und verbrennt, was es
bisher angebetet hat. Abermals geht der
Irrwahn eines Flagellantentums durch
deutsche Städte und Lande, nur daß er sich
nicht wie im Mittelalter an der Würde des
Individuums, sondern der Nation als Gan¬
zem versündigt. Nationale Würdelosigkeit ist
deutsche Schwäche; diese Tatsache jedoch
schließt die Schuld einzelner nicht aus, die
durch ständiges Nörgeln und schmalen am
eigenen Herde jenem Fehler Vorschub leisten.
Seit der Revolution ist diese Sucht nationaler
Selbstbefleckung, bei der die Handelnden sich
und ihre Partei wohlweislich ausnehmen, zu
einem Umfang und einer Stärke gediehen,
die schwerste Befürchtungen wecken.

Wir klagen keinen einzelnen an und
wollen nicht Parteipolitik treiben, wo es ums
Ganze geht. Aber Tatsache ist doch, daß
(zum mindesten) Krankheitsträger jene Kreise

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[0133] Maßgebliches und Unmaßgebliches Diese gewaltigen Opfer hat Frankreich ge¬ bracht, ohne daß es die geringste Verant¬ wortlichkeit (siel) trüge für die furchtbare Katastrophe, welche den Erdball erschüttert hat; und mit dem Augenblick, wo dieser Schreckenssturm zu Ende geht, können sich alle Mächte, deren Abordnungen hier zu¬ sammengetreten sind, freisprechen von irgend¬ einem (I) Schulbänken an dem Verbrechen, das den Ausgangspunkt eines beispiellosen Verhängnisses bildet." Poincarö fährt dann fort: „Es erübrigen sich weitere Mitteilungen über den Ursprung des Dramas, von welchem die Welt erschüttert ward. Die Wahrheit, in Blut gebadet, ist schon aus den kaiserlichen Archiven entwichen. (Man sieht, Eisners Drachensaat ist ausgegangen!) Der Vor¬ bedacht der Hinterlist ist heute klar erwiesen. In der Hoffnung, zunächst die europäische Hegemonie und daraus die Herrschaft über die Welt zu erobern, haben die durch eine geheime Verschwörung miteinander ver¬ knüpften Mittelmächte (bei der Entente hat es so etwas natürlich nie gegeben!) die ge¬ hässigsten Borwände erfunden, um darauf auszugehen, Serbien zu zerschmettern und sich einen Weg nach dem Orient zu bahnen. Zugleich haben sie die feierlichsten Verpflich¬ tungen verleugnet, um Belgien zermalmen zu können und sich einen Weg in das Herz Frankreichs zu bahnen. Das sind zwei un¬ vergeßliche Missetaten, welche die Wege zum Überfall eröffnetem . . . Wenn nach langen Wechselfällen,' die, welche durch das Schwert herrschen wollten, durch das Schwert um¬ gekommen sind, so haben sie sich das nur selbst zuzuschreiben usw. usw." Die alte Litanei, die wir nun vier und ein halbes Jahr bis zum Erbrechen hören. Es ist alles hübsch beieinander: das wider¬ liche Pharisäertum, geboren aus einer ge¬ heimen Angst, hinter dem zur Schau ge¬ tragenen EngeKkleide um Gottes willen nicht die schmutzige Weste hervorschauen zu lassen; die eitle Selbstgefälligkeit, die abermals Wie 1370 den Kreuzträger der Menschheit Posiert, der stümperhafte, wiewohl sehr begreifliche Versuch, irgendwelche für die Entstehung des Krieges total gleichgültige Formen, in denen er sich entspann (Max Weber), als feine „Gründe" vorzutäuschen, endlich die bewährten Requisiten aus der durch und durch verlogenen Gedankenwelt des „europäischen Gleichgewichts", das diplo¬ matische Handwerkszeug des „alten Systems", an dem Herrn Poincarös Ministerpräsident ja ausdrücklich festhalten will. Bei der „Quelle" wundert man sich über nichts mehr und tröstet sich damit, daß dermaleinst die Geschichte über das Plaidoyer des Advokaten richten und dabei „auch den anderen Teil hören" wird. Ein berechtigter Trost, nur muß dieser andere Teil dann auch gesprochen haben. Senkt er aus Verwirrung, stolzem Selbstbewußtsein oder krankhaftem „Rechts"- gefühl das Haupt, so wird dem phrasen¬ geübten Gegner sein Werk erleichtert und der schließliche Wahrspruch unnötig verzögert. (Daß er auch dann einmal fallen müßte, davor ist uns nicht bange!) Leider erscheint das Deutschland von Heute in dieser Verfassung. Die äußere Nieder¬ lage und die innere Auflösung haben den Volks- und Staatskörper derart geschwächt, daß er gegenüber den Krcmkheitskeimen der Umgebung die nötige Immunität nicht mehr zu besitzen scheint. Eine unselige Leidenschaft der Selbst¬ beschuldigung und Selbsterniedrigung ist über dies stolze Volk gekommen, das sich und seine Vergangenheit verleugnet. Abermals beugt es, wie jener Chlodwig, den Nacken vor fremder Gewalt und verbrennt, was es bisher angebetet hat. Abermals geht der Irrwahn eines Flagellantentums durch deutsche Städte und Lande, nur daß er sich nicht wie im Mittelalter an der Würde des Individuums, sondern der Nation als Gan¬ zem versündigt. Nationale Würdelosigkeit ist deutsche Schwäche; diese Tatsache jedoch schließt die Schuld einzelner nicht aus, die durch ständiges Nörgeln und schmalen am eigenen Herde jenem Fehler Vorschub leisten. Seit der Revolution ist diese Sucht nationaler Selbstbefleckung, bei der die Handelnden sich und ihre Partei wohlweislich ausnehmen, zu einem Umfang und einer Stärke gediehen, die schwerste Befürchtungen wecken. Wir klagen keinen einzelnen an und wollen nicht Parteipolitik treiben, wo es ums Ganze geht. Aber Tatsache ist doch, daß (zum mindesten) Krankheitsträger jene Kreise

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335181/133>, abgerufen am 05.02.2025.