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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Äraßburger Lrief

Überschätzung unselbständiger Volkssplitter, die der deutsche Partikularismus und
das deutsche Weltbürgertum mit einer gewissen Selbstgefälligkeit zur "elsaß-
lothrtngi>eyer Nation" emporgehoben haben, mttsprichl, vapor kann und soll an
dieser Stelle noch nicht gesprochen werden. Aber charakteristisch für die "Anfänge
einer parlamentarischen Regierung" nicht nur im Reichslande, fondern auch im
Reiche selbst ist es doch, daß diese nach bestem Wissen und Gewissen vereinbarte
Erklärung im deutschen Parlament nicht abgegeben werde. Der erwählte
Sprecher des elsässischen Zentrums hat dafür vielmehr ohne Vorwissen seiner
Landsleute, aber scheinbar in ihrem Namen dem Reiche selbst den Fehdehandschuh
hingeworfen und eine internationale Regelung verlangt, die nach Lage der Dinge
bereits einer Option sür Frankreich gleichkommt. Gerade zusammengehalten mit
der oben erwähnten "Erklärung" ist die Rede des Abgeordneten Ricklin
bezeichnend genug, um sie nochmals hier abzudrucken, trotzdem sie ja, wie daS
Wolffburecm melden mußte, in Berlin bereits "lebhafteste Bestürzung" hervorrief.
"

"Der Reichskanzler, so heißt es hier, "hat in seiner gestrigen Riede mit¬
geteilt, daß ein Elsässer zum Statthalter und ebenfalls ein Elsässer zum Staats¬
sekretär ernannt worden sei. Er fügte hinzu, daß er annehme, daß der neue
Statthalter bald ein Negierungsprogramm aufstellen werde. Der Reichskanzler
hat es unterlassen, auch nur mit einem einzigen Worte darauf hinzuweisen, waS
die deutsche Regierung von der Einführung der Reform in Elsaß - Lothringen
erwartet oder Mas sie damit bezweckt. Es wird aber die Annahme berechtigt sein,
daß sie mit dieser Aktion eine Einwirkung auf die Stimmung der Elsaß-
Lothringer im deutsch-völkischen Sinne erwartet. Wir halten es für unsere
Gewissenspflicht, dem deutschen Volke die volle Wahrheit zu sagen, um keine
trügerischen Hoffnungen aufkommen zu lassen. Diese Wahrheit lautet: All das,
was hier in Berlin und von der neuen Regierung in Straßburg unternommen
werden wird, wird in dem nunmehrigen Stadium, in das die elsaß-lothringische
Frage eingetreten ist, keine wesentliche Einwirkung auf die Stimmung in Elsaß-
Lothringen lausüben können. Durch Annahme der vierzehn Punkte Wilsons ist
die elsaß-lothringische Frage zu einer internationalen Frage geworden, deren
Lösung dem Friedenskongreß übertragen ist.

Die vom Reichskanzler gebrauchten Worte, daß die Rechtsfragen nicht halt
an unseren Landesgrenzen machen und auch Probleme innerhalb des Reichs¬
gebiets berühren, stützen unsere Ausfassung. Da wir sicher annehmen, daß dem
von einem sehr großen Teile Elsaß-Lothringens beanspruchten Recht, selbst über
ihr politisches Schicksal zu entscheiden, Rechnung getragen werden wird, müssen
wir jetzt alles unterlassen, Mas der freien Willensäußerung in Elsaß-Lothringen
vorgreifen könnte. Em Eingreifen in die Verfafsungsentwicklung, die man bei
uns vor hat, schließt aber eine solche Präjudizierung der freien Willensäußerung
ein. Jedenfalls ist sie geeignet, die öffentliche Meinung zu verwirren. Nachdem
die elsaß-lothringische Frage auf das internationale Gebiet übergegangen ist,
halten wir unser empfangenes Mandat, dem Lande politische Autonomie zu
geben, für überholt."

Man sieht: die vorbereitete Erklärung des elsaß-lothringischen Zentrums
und die Rede Ricklins decken sich beim besten Willen nicht. Man stände vor einem
Rätsel, wenn nicht die Persönlichkeit des Sprechers im Reichstag eine nur zu
ansprechende Lösung gäbe.

AIs Abgeordneter des heute in französischer Hand befindlichen Sundgau-
Städtchens Dammerkirch war Dr. Ricklin, alter Korpsstudent und Kantonalarzt
seines Heimatorts, nach Herkunft, Erziehung und Charakter seit ^ langem der
geborene Vermittler zwischen den verschiedenen politischen Schattierungen, die
das elsässer Zentrum im Reichstage wie vor allem im Straßburger Landtage
zeigte. Aber wie das bei weichen, egoistischen Vermittlernaturen nur zu leicht
der Fall ist: in Wirklichkeit wurde er von keiner Seite, weder von den zum Reich
schielenden Umerelsässern, noch von den frcmzöselnden, ausgesprochenen
Nationalisten aus dem Oberelsaß und ans Lothringen für vollwertig angesehen.
Vor allem die von ihm im Landtage im Sommer 1917 vor spärlich besetzten


Grenzboten IV 1918 10
Äraßburger Lrief

Überschätzung unselbständiger Volkssplitter, die der deutsche Partikularismus und
das deutsche Weltbürgertum mit einer gewissen Selbstgefälligkeit zur „elsaß-
lothrtngi>eyer Nation" emporgehoben haben, mttsprichl, vapor kann und soll an
dieser Stelle noch nicht gesprochen werden. Aber charakteristisch für die „Anfänge
einer parlamentarischen Regierung" nicht nur im Reichslande, fondern auch im
Reiche selbst ist es doch, daß diese nach bestem Wissen und Gewissen vereinbarte
Erklärung im deutschen Parlament nicht abgegeben werde. Der erwählte
Sprecher des elsässischen Zentrums hat dafür vielmehr ohne Vorwissen seiner
Landsleute, aber scheinbar in ihrem Namen dem Reiche selbst den Fehdehandschuh
hingeworfen und eine internationale Regelung verlangt, die nach Lage der Dinge
bereits einer Option sür Frankreich gleichkommt. Gerade zusammengehalten mit
der oben erwähnten „Erklärung" ist die Rede des Abgeordneten Ricklin
bezeichnend genug, um sie nochmals hier abzudrucken, trotzdem sie ja, wie daS
Wolffburecm melden mußte, in Berlin bereits „lebhafteste Bestürzung" hervorrief.
"

„Der Reichskanzler, so heißt es hier, „hat in seiner gestrigen Riede mit¬
geteilt, daß ein Elsässer zum Statthalter und ebenfalls ein Elsässer zum Staats¬
sekretär ernannt worden sei. Er fügte hinzu, daß er annehme, daß der neue
Statthalter bald ein Negierungsprogramm aufstellen werde. Der Reichskanzler
hat es unterlassen, auch nur mit einem einzigen Worte darauf hinzuweisen, waS
die deutsche Regierung von der Einführung der Reform in Elsaß - Lothringen
erwartet oder Mas sie damit bezweckt. Es wird aber die Annahme berechtigt sein,
daß sie mit dieser Aktion eine Einwirkung auf die Stimmung der Elsaß-
Lothringer im deutsch-völkischen Sinne erwartet. Wir halten es für unsere
Gewissenspflicht, dem deutschen Volke die volle Wahrheit zu sagen, um keine
trügerischen Hoffnungen aufkommen zu lassen. Diese Wahrheit lautet: All das,
was hier in Berlin und von der neuen Regierung in Straßburg unternommen
werden wird, wird in dem nunmehrigen Stadium, in das die elsaß-lothringische
Frage eingetreten ist, keine wesentliche Einwirkung auf die Stimmung in Elsaß-
Lothringen lausüben können. Durch Annahme der vierzehn Punkte Wilsons ist
die elsaß-lothringische Frage zu einer internationalen Frage geworden, deren
Lösung dem Friedenskongreß übertragen ist.

Die vom Reichskanzler gebrauchten Worte, daß die Rechtsfragen nicht halt
an unseren Landesgrenzen machen und auch Probleme innerhalb des Reichs¬
gebiets berühren, stützen unsere Ausfassung. Da wir sicher annehmen, daß dem
von einem sehr großen Teile Elsaß-Lothringens beanspruchten Recht, selbst über
ihr politisches Schicksal zu entscheiden, Rechnung getragen werden wird, müssen
wir jetzt alles unterlassen, Mas der freien Willensäußerung in Elsaß-Lothringen
vorgreifen könnte. Em Eingreifen in die Verfafsungsentwicklung, die man bei
uns vor hat, schließt aber eine solche Präjudizierung der freien Willensäußerung
ein. Jedenfalls ist sie geeignet, die öffentliche Meinung zu verwirren. Nachdem
die elsaß-lothringische Frage auf das internationale Gebiet übergegangen ist,
halten wir unser empfangenes Mandat, dem Lande politische Autonomie zu
geben, für überholt."

Man sieht: die vorbereitete Erklärung des elsaß-lothringischen Zentrums
und die Rede Ricklins decken sich beim besten Willen nicht. Man stände vor einem
Rätsel, wenn nicht die Persönlichkeit des Sprechers im Reichstag eine nur zu
ansprechende Lösung gäbe.

AIs Abgeordneter des heute in französischer Hand befindlichen Sundgau-
Städtchens Dammerkirch war Dr. Ricklin, alter Korpsstudent und Kantonalarzt
seines Heimatorts, nach Herkunft, Erziehung und Charakter seit ^ langem der
geborene Vermittler zwischen den verschiedenen politischen Schattierungen, die
das elsässer Zentrum im Reichstage wie vor allem im Straßburger Landtage
zeigte. Aber wie das bei weichen, egoistischen Vermittlernaturen nur zu leicht
der Fall ist: in Wirklichkeit wurde er von keiner Seite, weder von den zum Reich
schielenden Umerelsässern, noch von den frcmzöselnden, ausgesprochenen
Nationalisten aus dem Oberelsaß und ans Lothringen für vollwertig angesehen.
Vor allem die von ihm im Landtage im Sommer 1917 vor spärlich besetzten


Grenzboten IV 1918 10
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[0133] Äraßburger Lrief Überschätzung unselbständiger Volkssplitter, die der deutsche Partikularismus und das deutsche Weltbürgertum mit einer gewissen Selbstgefälligkeit zur „elsaß- lothrtngi>eyer Nation" emporgehoben haben, mttsprichl, vapor kann und soll an dieser Stelle noch nicht gesprochen werden. Aber charakteristisch für die „Anfänge einer parlamentarischen Regierung" nicht nur im Reichslande, fondern auch im Reiche selbst ist es doch, daß diese nach bestem Wissen und Gewissen vereinbarte Erklärung im deutschen Parlament nicht abgegeben werde. Der erwählte Sprecher des elsässischen Zentrums hat dafür vielmehr ohne Vorwissen seiner Landsleute, aber scheinbar in ihrem Namen dem Reiche selbst den Fehdehandschuh hingeworfen und eine internationale Regelung verlangt, die nach Lage der Dinge bereits einer Option sür Frankreich gleichkommt. Gerade zusammengehalten mit der oben erwähnten „Erklärung" ist die Rede des Abgeordneten Ricklin bezeichnend genug, um sie nochmals hier abzudrucken, trotzdem sie ja, wie daS Wolffburecm melden mußte, in Berlin bereits „lebhafteste Bestürzung" hervorrief. " „Der Reichskanzler, so heißt es hier, „hat in seiner gestrigen Riede mit¬ geteilt, daß ein Elsässer zum Statthalter und ebenfalls ein Elsässer zum Staats¬ sekretär ernannt worden sei. Er fügte hinzu, daß er annehme, daß der neue Statthalter bald ein Negierungsprogramm aufstellen werde. Der Reichskanzler hat es unterlassen, auch nur mit einem einzigen Worte darauf hinzuweisen, waS die deutsche Regierung von der Einführung der Reform in Elsaß - Lothringen erwartet oder Mas sie damit bezweckt. Es wird aber die Annahme berechtigt sein, daß sie mit dieser Aktion eine Einwirkung auf die Stimmung der Elsaß- Lothringer im deutsch-völkischen Sinne erwartet. Wir halten es für unsere Gewissenspflicht, dem deutschen Volke die volle Wahrheit zu sagen, um keine trügerischen Hoffnungen aufkommen zu lassen. Diese Wahrheit lautet: All das, was hier in Berlin und von der neuen Regierung in Straßburg unternommen werden wird, wird in dem nunmehrigen Stadium, in das die elsaß-lothringische Frage eingetreten ist, keine wesentliche Einwirkung auf die Stimmung in Elsaß- Lothringen lausüben können. Durch Annahme der vierzehn Punkte Wilsons ist die elsaß-lothringische Frage zu einer internationalen Frage geworden, deren Lösung dem Friedenskongreß übertragen ist. Die vom Reichskanzler gebrauchten Worte, daß die Rechtsfragen nicht halt an unseren Landesgrenzen machen und auch Probleme innerhalb des Reichs¬ gebiets berühren, stützen unsere Ausfassung. Da wir sicher annehmen, daß dem von einem sehr großen Teile Elsaß-Lothringens beanspruchten Recht, selbst über ihr politisches Schicksal zu entscheiden, Rechnung getragen werden wird, müssen wir jetzt alles unterlassen, Mas der freien Willensäußerung in Elsaß-Lothringen vorgreifen könnte. Em Eingreifen in die Verfafsungsentwicklung, die man bei uns vor hat, schließt aber eine solche Präjudizierung der freien Willensäußerung ein. Jedenfalls ist sie geeignet, die öffentliche Meinung zu verwirren. Nachdem die elsaß-lothringische Frage auf das internationale Gebiet übergegangen ist, halten wir unser empfangenes Mandat, dem Lande politische Autonomie zu geben, für überholt." Man sieht: die vorbereitete Erklärung des elsaß-lothringischen Zentrums und die Rede Ricklins decken sich beim besten Willen nicht. Man stände vor einem Rätsel, wenn nicht die Persönlichkeit des Sprechers im Reichstag eine nur zu ansprechende Lösung gäbe. AIs Abgeordneter des heute in französischer Hand befindlichen Sundgau- Städtchens Dammerkirch war Dr. Ricklin, alter Korpsstudent und Kantonalarzt seines Heimatorts, nach Herkunft, Erziehung und Charakter seit ^ langem der geborene Vermittler zwischen den verschiedenen politischen Schattierungen, die das elsässer Zentrum im Reichstage wie vor allem im Straßburger Landtage zeigte. Aber wie das bei weichen, egoistischen Vermittlernaturen nur zu leicht der Fall ist: in Wirklichkeit wurde er von keiner Seite, weder von den zum Reich schielenden Umerelsässern, noch von den frcmzöselnden, ausgesprochenen Nationalisten aus dem Oberelsaß und ans Lothringen für vollwertig angesehen. Vor allem die von ihm im Landtage im Sommer 1917 vor spärlich besetzten Grenzboten IV 1918 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/133>, abgerufen am 24.11.2024.