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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Regierung und Parlament in Deutschland

erlitten, das Parteisystem ist die Wurzel alles Wels". Trotzdem, die Bilanz ist
nicht gleich, der äußerliche Erfolg ist auf feiten unserer Gegner. Und selbst,
wenn die Fehler sich aufwogen, würde das keinesfalls die Dringlichkeit der Reform
abschwächen.

Der Weg ist erkannt, er ist auch beschritten. Unsere Kabinette spiegeln den
wachsenden Einfluß des Parlaments, und auch das Kapitel "Diplomatie" liegt
aufgeschlagen im Buche des Staates, um von neuem überarbeitet zu werden. Die
Frage ist nur, ob die Bewegung Stetigkeit besitzt und der ehrliche Reformeifer
nicht im Sande verläuft. Gerade der aufrichtige Freund preußisch-deutscher Tra¬
ditionen darf am wenigsten wünschen, daß die Negierung Hertling-Payer-Friedberg
ein politisches Kriegsersatzmittel bleibt, daß die noch von Kühlmann einberufene
Kommission zur Neugestaltung des auswärtigen Dienstes das Schicksal so vieler
Vorgängerinnen selig verblichenen Angedenkens teilt.

Entscheidend ist der in der Wilhelmstraße herrschende Geist. Trotz vieler
Einzelforderungen, wie sie die hochinteressante Denkschrift der Hamburger Aus¬
landsfirmen für die Nachgeordneten Stellen unseres diplomatischen und konsula¬
rischen Dienstes entwickelt, Aufgaben, die ganz unabhängig von der Frage des
Reaierungssystems als solchem in Angriff genommen werden müssen, auf das Ver¬
halten der Zentralstelle kommt alles an, und hier müßte allerdings die Zaghaftigkeit
und Unsicherheit, die Herrschaft der Ideologen, Theoretiker und Juristen, kurzum
der heillose Bureaukratismus seinen Platz dem politischen Tatmenschen und ge¬
borenen Führer räumen, wie ihn das britische "toreiZn villae" trotz aller auch
dort begegnenden Menschlichkeiten in bisher noch unerreichter Weise züchtet.

Ob die Blutmischung mit dem Parlamentariertum bei uns die gleichen Er¬
gebnisse zeitigen wird, ist vorerst nur Hoffnung und Vermutung. Billigerweise
wird man den Erfolg abwarten und den Beteiligten Zeit zum Einleben in die
neuen Produktionsverhältnisse zugestehen müssen. Indem das Parlament durch
seine Führer zur Mitverantwortung an den Geschicken des Staates herangezogen
wird, gibt man ihm die Möglichkeit, eine Arena politischer Talente zu werden.
Es ist anzunehmen, daß dann allmählich die Scheu vor der Verantwortung,
der parlamentarische "Kretinismus", wie Marx die besonders in den Reihen seiner
Partei stark grassierende Krankheit genannt hat, schwindet. Aber der Zweck wäre
doch nur vorübergehend erreicht, wenn bei Übernahme eines Ministerpostens der
bisherige Abgeordnete die Fühlung mit seiner Partei verlöre. Das hieße erst die
neuen Kräfte und Säfte sorgsam in die Spitzen des staatlichen Organismus empor¬
steigen zu lassen, um diese dann abzubrechen und so ihrer lebenspendenden Wurzeln
zu berauben, aus denen sie ja gerade die Fähigkeit gewinnen sollen, die politischen
Stürme und Wetter zu bestehen! Auch von den Parteien ihrerseits wird Ver¬
ständnis für die neuen Verhältnisse verlangt. Was sich jetzt die Reichstagsfraktion
des Zentrums gegenüber der Regierung Hertling und die Nationalliberalen (in
vermindertem Maße) gegenüber Friedberg geleistet haben, ist noch mehr als jenes
"Mitgehen bis zur Tür", wie man in Schweden das Verhältnis zwischen dem
parlamentarischen Minister und seiner Partei kennzeichnet, und stimmt für die
Zukunft unseres Parlamentarismus nicht gerade optimistisch.

Geschähe weiter nichts als ein Hinübernehmen von Vertrauensmännern der
Fraktionen in die Regierung, so würde ja bloß der eine oder andere durch den
Vorhang vom parlamentarischen Zuschauerraum auf die Regierungsbühne wechseln
und der Vorhang schlüge hinter ihm zusammen. Manchmal könnte man bei den
Schicksalen der Friedberg und Payer mutatis lnutsnäis an das alte Mirabeausche
Wort erinnert werden, daß Jakobiner als Minister keine Jakobinerminister mehr
sind. Aber gerade jene Scheidewand, das unselige Erbe des deutsch-rechtlichen
Konstitutionalismus, der von Anbeginn die Sphären der Regierung und der
gesinnungstüchtigen Opposition ängstlich auseinanderhielt, gilt es zu beseitigen.
In Preußen ist die Möglichkeit der Personalunion gegeben, im Reiche bekanntlich
nicht (Art. 9 R. V.). Die Schwierigkeit liegt in beiden Fällen darin, den richtigen
Mittelweg zu finden, der sowohl den krampfhaften Unfall der Ministrablen nach


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erlitten, das Parteisystem ist die Wurzel alles Wels". Trotzdem, die Bilanz ist
nicht gleich, der äußerliche Erfolg ist auf feiten unserer Gegner. Und selbst,
wenn die Fehler sich aufwogen, würde das keinesfalls die Dringlichkeit der Reform
abschwächen.

Der Weg ist erkannt, er ist auch beschritten. Unsere Kabinette spiegeln den
wachsenden Einfluß des Parlaments, und auch das Kapitel „Diplomatie" liegt
aufgeschlagen im Buche des Staates, um von neuem überarbeitet zu werden. Die
Frage ist nur, ob die Bewegung Stetigkeit besitzt und der ehrliche Reformeifer
nicht im Sande verläuft. Gerade der aufrichtige Freund preußisch-deutscher Tra¬
ditionen darf am wenigsten wünschen, daß die Negierung Hertling-Payer-Friedberg
ein politisches Kriegsersatzmittel bleibt, daß die noch von Kühlmann einberufene
Kommission zur Neugestaltung des auswärtigen Dienstes das Schicksal so vieler
Vorgängerinnen selig verblichenen Angedenkens teilt.

Entscheidend ist der in der Wilhelmstraße herrschende Geist. Trotz vieler
Einzelforderungen, wie sie die hochinteressante Denkschrift der Hamburger Aus¬
landsfirmen für die Nachgeordneten Stellen unseres diplomatischen und konsula¬
rischen Dienstes entwickelt, Aufgaben, die ganz unabhängig von der Frage des
Reaierungssystems als solchem in Angriff genommen werden müssen, auf das Ver¬
halten der Zentralstelle kommt alles an, und hier müßte allerdings die Zaghaftigkeit
und Unsicherheit, die Herrschaft der Ideologen, Theoretiker und Juristen, kurzum
der heillose Bureaukratismus seinen Platz dem politischen Tatmenschen und ge¬
borenen Führer räumen, wie ihn das britische „toreiZn villae" trotz aller auch
dort begegnenden Menschlichkeiten in bisher noch unerreichter Weise züchtet.

Ob die Blutmischung mit dem Parlamentariertum bei uns die gleichen Er¬
gebnisse zeitigen wird, ist vorerst nur Hoffnung und Vermutung. Billigerweise
wird man den Erfolg abwarten und den Beteiligten Zeit zum Einleben in die
neuen Produktionsverhältnisse zugestehen müssen. Indem das Parlament durch
seine Führer zur Mitverantwortung an den Geschicken des Staates herangezogen
wird, gibt man ihm die Möglichkeit, eine Arena politischer Talente zu werden.
Es ist anzunehmen, daß dann allmählich die Scheu vor der Verantwortung,
der parlamentarische „Kretinismus", wie Marx die besonders in den Reihen seiner
Partei stark grassierende Krankheit genannt hat, schwindet. Aber der Zweck wäre
doch nur vorübergehend erreicht, wenn bei Übernahme eines Ministerpostens der
bisherige Abgeordnete die Fühlung mit seiner Partei verlöre. Das hieße erst die
neuen Kräfte und Säfte sorgsam in die Spitzen des staatlichen Organismus empor¬
steigen zu lassen, um diese dann abzubrechen und so ihrer lebenspendenden Wurzeln
zu berauben, aus denen sie ja gerade die Fähigkeit gewinnen sollen, die politischen
Stürme und Wetter zu bestehen! Auch von den Parteien ihrerseits wird Ver¬
ständnis für die neuen Verhältnisse verlangt. Was sich jetzt die Reichstagsfraktion
des Zentrums gegenüber der Regierung Hertling und die Nationalliberalen (in
vermindertem Maße) gegenüber Friedberg geleistet haben, ist noch mehr als jenes
„Mitgehen bis zur Tür", wie man in Schweden das Verhältnis zwischen dem
parlamentarischen Minister und seiner Partei kennzeichnet, und stimmt für die
Zukunft unseres Parlamentarismus nicht gerade optimistisch.

Geschähe weiter nichts als ein Hinübernehmen von Vertrauensmännern der
Fraktionen in die Regierung, so würde ja bloß der eine oder andere durch den
Vorhang vom parlamentarischen Zuschauerraum auf die Regierungsbühne wechseln
und der Vorhang schlüge hinter ihm zusammen. Manchmal könnte man bei den
Schicksalen der Friedberg und Payer mutatis lnutsnäis an das alte Mirabeausche
Wort erinnert werden, daß Jakobiner als Minister keine Jakobinerminister mehr
sind. Aber gerade jene Scheidewand, das unselige Erbe des deutsch-rechtlichen
Konstitutionalismus, der von Anbeginn die Sphären der Regierung und der
gesinnungstüchtigen Opposition ängstlich auseinanderhielt, gilt es zu beseitigen.
In Preußen ist die Möglichkeit der Personalunion gegeben, im Reiche bekanntlich
nicht (Art. 9 R. V.). Die Schwierigkeit liegt in beiden Fällen darin, den richtigen
Mittelweg zu finden, der sowohl den krampfhaften Unfall der Ministrablen nach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/99>, abgerufen am 28.06.2024.