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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Regierung und Parlament in Deutschland

dem "ehrlichen" Republikaner und Monarchisten, wo die verschiedene Auffassung
deutscher und englischer Regierungsweise sehr hübsch durchgefochten wird.

Nie darf man auch vergessen, daß notwendige Mißverständnisse im Ethos
der Völker begründet sind. Was der Deutsche als Fehler empfindet, gilt dem
Engländer als Vorzug, und umgekehrt, beispielsweise der Streit, ob das Ver¬
fassungsrecht zu kodifizieren sei oder nicht.

Diese Erkenntnis von der Relativität aller Urteile über Regierungssysteme
soll ja nun keinesfalls einer vergleichenden Betrachtung sowie daraus geschöpftem
Anlaß zu Wertung und eventueller Nachahmung fremder Einrichtungen einen
Riegel vorschieben. Rathenau macht einmal die feine Bemerkung, daß die Ver¬
fassungsformen im allgemeinen reifen, indem sie sich "von ihren Ursprüngen hin¬
wegbegeben", die Republik also durch Entradikalisierung die Monarchie, durch
Zugeständnisse an den genossenschaftlichen Faktor im Staatsleben. Dieser Be¬
obachtung liegt das -- man möchte sagen -- Naturgesetz von der gegenseitigen
Anpassung der Staatsformen zugrunde. Es ist ja keine Frage mehr, daß das
englische und deutsche System einander ähnlicher geworden sind, nicht zum letzten
Grade infolge der Einwirkung des Krieges. Auf beiden Seiten hat die Bewegung
sich gegen die wunden Punkte gerichtet. Während unsere "Neuorientierung"
nach dem Pole eines verstärkten parlamentarischen Einflusses hin gravitierte --
aus dieser Richtung kann die politische Magnetnadel durch Vorgänge, wie wir sie
beim Rücktritt von Kühlmanns erleben, nur vorübergehend abgelenkt werden --
"bureaukratisierte" sich das englische Kabinett durch Aufnahme von Fachleuten, so
die empfindlichen Nachteile der "Dilettantenregierung" zu beheben versuchend.
Dieses beim Feinde trotz alles Naserümpfens über unsere "Unfreiheit" deutlich
erkennbare Streben, eigene Mängel eingestandenermaßen oder nicht nach dem ver¬
haßten deutschen Muster zu verbessern, muß natürlich auch auf unserer Seite im
gegebenen Falle freie Bahn finden. Denn wir würden uns durch chinesenhafte
Abschließung nur selber schaden. Wohl aber ist es ein ganz erheblicher Unter¬
schied, wie man diese Korrekturen durchführt, ob man dazu mit fliegenden Fahnen
ins gegnerische Lager übergehen muß. Die Parlamentaristen halten es für
unvermeidlich. Wir möchten dahinter vorläufig noch ein Fragezeichen machen..

Vergegenwärtige man sich die Lage: soweit es sich nicht um fanatische
und unbelehrbare Dogmatiker handelt, setzt man bei uns die eigentümlich
"deutsche" Form des kommenden Parlamentarismus voraus, weil man vernünftig
genug ist, die z. T. stark abweichenden heimischen Zustände nicht in die spanischen
Stiefel des fremden Rechtes zu pressen. Nachteile und Gefahren des neuen
Systems werden, meist unwillig und verhüllt, zugegeben mit der tröstlichen Ver¬
sicherung, daß es bei den Deutschen -- hier verändert sich plötzlich die Wertung
ihrer politischen Fähigkeiten! -- schon nicht so schlimm werden könnte. Auch die
Verfechter des "Volksstaates" beeilen sich zu versichern, daß sie ein "Schatten¬
kaisertum" beileibe nicht wollen. Auf der anderen Seite müssen sie zugeben, daß
der Gegner die von uns sehnlichst erstrebte Position z. T. schon aufgegeben hat
und im Begriffe ist, sich unter recht veränderten Umständen einzuschanzen. Gerade
Gegner des bureaukratischen Systems verkünden den unaufhaltsamen Siegeszug
der Bureaukratisierung durch die Welt. Sie wollen ihn durch das Gegenmittel
der parlamentarischen Geschäftsführung aufhalten. Aber, wenn nun hier der
Wurm schon sitzt, den es zu bekämpfen gilt? Daß auch die Parteien -- vor allem
die sozialdemokratische -- immer mehr büreaukratische Züge annehmen, geben jene
selbst zu. Aber die Krankheit geht viel weiter, sie hat auch die höchsten Spitzen
im parlamentarischen Staate ergriffen. Gerade an jener Stelle, wo angeblich die
verantwortlichen, freien und wahren "Politiker", d. h. Nichtbureaukraten, schalten,
äußert die Abhängigkeit vom Bureau, vom "Tschinownik" ihre bleierne Wirkung,
auch in England geht der Geist der Holsteins um, nur unter dem Namen eines
Hardinge oder Nicolson. Es ist dieselbe Erscheinung des maßgebenden Einflusses
unverantwortlicher Stellen, die tausend unsichtbare, aber um so zähere Fesseln
dem "leitenden" Staatsmanne anlegen, wie sie schon Hardenberg in den Kabinetts


Regierung und Parlament in Deutschland

dem „ehrlichen" Republikaner und Monarchisten, wo die verschiedene Auffassung
deutscher und englischer Regierungsweise sehr hübsch durchgefochten wird.

Nie darf man auch vergessen, daß notwendige Mißverständnisse im Ethos
der Völker begründet sind. Was der Deutsche als Fehler empfindet, gilt dem
Engländer als Vorzug, und umgekehrt, beispielsweise der Streit, ob das Ver¬
fassungsrecht zu kodifizieren sei oder nicht.

Diese Erkenntnis von der Relativität aller Urteile über Regierungssysteme
soll ja nun keinesfalls einer vergleichenden Betrachtung sowie daraus geschöpftem
Anlaß zu Wertung und eventueller Nachahmung fremder Einrichtungen einen
Riegel vorschieben. Rathenau macht einmal die feine Bemerkung, daß die Ver¬
fassungsformen im allgemeinen reifen, indem sie sich „von ihren Ursprüngen hin¬
wegbegeben", die Republik also durch Entradikalisierung die Monarchie, durch
Zugeständnisse an den genossenschaftlichen Faktor im Staatsleben. Dieser Be¬
obachtung liegt das — man möchte sagen — Naturgesetz von der gegenseitigen
Anpassung der Staatsformen zugrunde. Es ist ja keine Frage mehr, daß das
englische und deutsche System einander ähnlicher geworden sind, nicht zum letzten
Grade infolge der Einwirkung des Krieges. Auf beiden Seiten hat die Bewegung
sich gegen die wunden Punkte gerichtet. Während unsere „Neuorientierung"
nach dem Pole eines verstärkten parlamentarischen Einflusses hin gravitierte —
aus dieser Richtung kann die politische Magnetnadel durch Vorgänge, wie wir sie
beim Rücktritt von Kühlmanns erleben, nur vorübergehend abgelenkt werden —
„bureaukratisierte" sich das englische Kabinett durch Aufnahme von Fachleuten, so
die empfindlichen Nachteile der „Dilettantenregierung" zu beheben versuchend.
Dieses beim Feinde trotz alles Naserümpfens über unsere „Unfreiheit" deutlich
erkennbare Streben, eigene Mängel eingestandenermaßen oder nicht nach dem ver¬
haßten deutschen Muster zu verbessern, muß natürlich auch auf unserer Seite im
gegebenen Falle freie Bahn finden. Denn wir würden uns durch chinesenhafte
Abschließung nur selber schaden. Wohl aber ist es ein ganz erheblicher Unter¬
schied, wie man diese Korrekturen durchführt, ob man dazu mit fliegenden Fahnen
ins gegnerische Lager übergehen muß. Die Parlamentaristen halten es für
unvermeidlich. Wir möchten dahinter vorläufig noch ein Fragezeichen machen..

Vergegenwärtige man sich die Lage: soweit es sich nicht um fanatische
und unbelehrbare Dogmatiker handelt, setzt man bei uns die eigentümlich
„deutsche" Form des kommenden Parlamentarismus voraus, weil man vernünftig
genug ist, die z. T. stark abweichenden heimischen Zustände nicht in die spanischen
Stiefel des fremden Rechtes zu pressen. Nachteile und Gefahren des neuen
Systems werden, meist unwillig und verhüllt, zugegeben mit der tröstlichen Ver¬
sicherung, daß es bei den Deutschen — hier verändert sich plötzlich die Wertung
ihrer politischen Fähigkeiten! — schon nicht so schlimm werden könnte. Auch die
Verfechter des „Volksstaates" beeilen sich zu versichern, daß sie ein „Schatten¬
kaisertum" beileibe nicht wollen. Auf der anderen Seite müssen sie zugeben, daß
der Gegner die von uns sehnlichst erstrebte Position z. T. schon aufgegeben hat
und im Begriffe ist, sich unter recht veränderten Umständen einzuschanzen. Gerade
Gegner des bureaukratischen Systems verkünden den unaufhaltsamen Siegeszug
der Bureaukratisierung durch die Welt. Sie wollen ihn durch das Gegenmittel
der parlamentarischen Geschäftsführung aufhalten. Aber, wenn nun hier der
Wurm schon sitzt, den es zu bekämpfen gilt? Daß auch die Parteien — vor allem
die sozialdemokratische — immer mehr büreaukratische Züge annehmen, geben jene
selbst zu. Aber die Krankheit geht viel weiter, sie hat auch die höchsten Spitzen
im parlamentarischen Staate ergriffen. Gerade an jener Stelle, wo angeblich die
verantwortlichen, freien und wahren „Politiker", d. h. Nichtbureaukraten, schalten,
äußert die Abhängigkeit vom Bureau, vom „Tschinownik" ihre bleierne Wirkung,
auch in England geht der Geist der Holsteins um, nur unter dem Namen eines
Hardinge oder Nicolson. Es ist dieselbe Erscheinung des maßgebenden Einflusses
unverantwortlicher Stellen, die tausend unsichtbare, aber um so zähere Fesseln
dem „leitenden" Staatsmanne anlegen, wie sie schon Hardenberg in den Kabinetts


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[0097] Regierung und Parlament in Deutschland dem „ehrlichen" Republikaner und Monarchisten, wo die verschiedene Auffassung deutscher und englischer Regierungsweise sehr hübsch durchgefochten wird. Nie darf man auch vergessen, daß notwendige Mißverständnisse im Ethos der Völker begründet sind. Was der Deutsche als Fehler empfindet, gilt dem Engländer als Vorzug, und umgekehrt, beispielsweise der Streit, ob das Ver¬ fassungsrecht zu kodifizieren sei oder nicht. Diese Erkenntnis von der Relativität aller Urteile über Regierungssysteme soll ja nun keinesfalls einer vergleichenden Betrachtung sowie daraus geschöpftem Anlaß zu Wertung und eventueller Nachahmung fremder Einrichtungen einen Riegel vorschieben. Rathenau macht einmal die feine Bemerkung, daß die Ver¬ fassungsformen im allgemeinen reifen, indem sie sich „von ihren Ursprüngen hin¬ wegbegeben", die Republik also durch Entradikalisierung die Monarchie, durch Zugeständnisse an den genossenschaftlichen Faktor im Staatsleben. Dieser Be¬ obachtung liegt das — man möchte sagen — Naturgesetz von der gegenseitigen Anpassung der Staatsformen zugrunde. Es ist ja keine Frage mehr, daß das englische und deutsche System einander ähnlicher geworden sind, nicht zum letzten Grade infolge der Einwirkung des Krieges. Auf beiden Seiten hat die Bewegung sich gegen die wunden Punkte gerichtet. Während unsere „Neuorientierung" nach dem Pole eines verstärkten parlamentarischen Einflusses hin gravitierte — aus dieser Richtung kann die politische Magnetnadel durch Vorgänge, wie wir sie beim Rücktritt von Kühlmanns erleben, nur vorübergehend abgelenkt werden — „bureaukratisierte" sich das englische Kabinett durch Aufnahme von Fachleuten, so die empfindlichen Nachteile der „Dilettantenregierung" zu beheben versuchend. Dieses beim Feinde trotz alles Naserümpfens über unsere „Unfreiheit" deutlich erkennbare Streben, eigene Mängel eingestandenermaßen oder nicht nach dem ver¬ haßten deutschen Muster zu verbessern, muß natürlich auch auf unserer Seite im gegebenen Falle freie Bahn finden. Denn wir würden uns durch chinesenhafte Abschließung nur selber schaden. Wohl aber ist es ein ganz erheblicher Unter¬ schied, wie man diese Korrekturen durchführt, ob man dazu mit fliegenden Fahnen ins gegnerische Lager übergehen muß. Die Parlamentaristen halten es für unvermeidlich. Wir möchten dahinter vorläufig noch ein Fragezeichen machen.. Vergegenwärtige man sich die Lage: soweit es sich nicht um fanatische und unbelehrbare Dogmatiker handelt, setzt man bei uns die eigentümlich „deutsche" Form des kommenden Parlamentarismus voraus, weil man vernünftig genug ist, die z. T. stark abweichenden heimischen Zustände nicht in die spanischen Stiefel des fremden Rechtes zu pressen. Nachteile und Gefahren des neuen Systems werden, meist unwillig und verhüllt, zugegeben mit der tröstlichen Ver¬ sicherung, daß es bei den Deutschen — hier verändert sich plötzlich die Wertung ihrer politischen Fähigkeiten! — schon nicht so schlimm werden könnte. Auch die Verfechter des „Volksstaates" beeilen sich zu versichern, daß sie ein „Schatten¬ kaisertum" beileibe nicht wollen. Auf der anderen Seite müssen sie zugeben, daß der Gegner die von uns sehnlichst erstrebte Position z. T. schon aufgegeben hat und im Begriffe ist, sich unter recht veränderten Umständen einzuschanzen. Gerade Gegner des bureaukratischen Systems verkünden den unaufhaltsamen Siegeszug der Bureaukratisierung durch die Welt. Sie wollen ihn durch das Gegenmittel der parlamentarischen Geschäftsführung aufhalten. Aber, wenn nun hier der Wurm schon sitzt, den es zu bekämpfen gilt? Daß auch die Parteien — vor allem die sozialdemokratische — immer mehr büreaukratische Züge annehmen, geben jene selbst zu. Aber die Krankheit geht viel weiter, sie hat auch die höchsten Spitzen im parlamentarischen Staate ergriffen. Gerade an jener Stelle, wo angeblich die verantwortlichen, freien und wahren „Politiker", d. h. Nichtbureaukraten, schalten, äußert die Abhängigkeit vom Bureau, vom „Tschinownik" ihre bleierne Wirkung, auch in England geht der Geist der Holsteins um, nur unter dem Namen eines Hardinge oder Nicolson. Es ist dieselbe Erscheinung des maßgebenden Einflusses unverantwortlicher Stellen, die tausend unsichtbare, aber um so zähere Fesseln dem „leitenden" Staatsmanne anlegen, wie sie schon Hardenberg in den Kabinetts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/97>, abgerufen am 03.07.2024.