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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Englands Bild in den Augen der deutschen AlaMcr

Wenn sich hier Schiller, wie auch Goethe, mit der englischen Seeherrschaft
als etwas Gegebenen still abfindet, so spricht die wirtschaftliche Lage Deutschlands
mit, die eine solche Interesselosigkeit begünstigte; und die politische Lage, die durch
Deutschlands Zerrissenheit bedingt war, konnte keines Deutschen Teilnahme er¬
wecken, der sich nicht sähig fühlte, ein neues Deutschland zu schaffen. Nur aus
geistigem Gebiete, so schließt Schillers Gedicht, ist deutscher Kraft noch ungehemmte
Auswirkung gegönnt:

Jean Paul drückte es ironisch aus, den anderen großen Nationen seien
Erde und Wasser als Herrschaftsbereichs gegeben, den deutschen -- die Luft, und
wurde so ungeahnterweise Prophet unserer Zeit, doch in anderem Sinne.

Daß hinter Englands Kriegen ebenso wie hinter denen Frankreichs die nackte
Machtpolitik steht, erkannte Schiller wohl, und die viel zitierten Worte der 1800/1
verfaßten "Jungfrau von Orleans" rissen den Schleier auch von der damaligen
Politik Englands:

Dennoch scheint Schiller trotz des Gefühls der deutschen moralischen Über¬
legenheit es schmerzlich empfunden zu haben, daß Deutschland im Rat der Völker
nichts bedeutete, und so setzt er sich mit dieser Frage eingehend in einem Gedicht-
Plan "Gedicht zur Jahrhundertwende" (1800) auseinander. Er tröstet sich zunächst
mit der Zukunft: "Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des
deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit:

Aber jener Tag liegt Schillers Zeit noch fern, und er wiederholt die Frage:
Darf der Deutsche in dem Augenblick ohne Beschämung stolz sein Haupt erheben,

"Ja, er darf's", antwortet der Dichter, denn Deutschlands Größe ist eine
sittliche Größe, unabhängig vom politischen Geschick der Nation.

Doch daß die Fähigkeit zur Machtentwicklung nach außen eigentlich zum
Leben der großen Völker gehört, hat Schiller an Frankreich und England gelernt,
in denen er einst die Heimstätten der Freiheit sah; das war Schillers Bekehrung
vom Weltbürgertum zum Nationalgedanken.




Englands Bild in den Augen der deutschen AlaMcr

Wenn sich hier Schiller, wie auch Goethe, mit der englischen Seeherrschaft
als etwas Gegebenen still abfindet, so spricht die wirtschaftliche Lage Deutschlands
mit, die eine solche Interesselosigkeit begünstigte; und die politische Lage, die durch
Deutschlands Zerrissenheit bedingt war, konnte keines Deutschen Teilnahme er¬
wecken, der sich nicht sähig fühlte, ein neues Deutschland zu schaffen. Nur aus
geistigem Gebiete, so schließt Schillers Gedicht, ist deutscher Kraft noch ungehemmte
Auswirkung gegönnt:

Jean Paul drückte es ironisch aus, den anderen großen Nationen seien
Erde und Wasser als Herrschaftsbereichs gegeben, den deutschen — die Luft, und
wurde so ungeahnterweise Prophet unserer Zeit, doch in anderem Sinne.

Daß hinter Englands Kriegen ebenso wie hinter denen Frankreichs die nackte
Machtpolitik steht, erkannte Schiller wohl, und die viel zitierten Worte der 1800/1
verfaßten „Jungfrau von Orleans" rissen den Schleier auch von der damaligen
Politik Englands:

Dennoch scheint Schiller trotz des Gefühls der deutschen moralischen Über¬
legenheit es schmerzlich empfunden zu haben, daß Deutschland im Rat der Völker
nichts bedeutete, und so setzt er sich mit dieser Frage eingehend in einem Gedicht-
Plan „Gedicht zur Jahrhundertwende" (1800) auseinander. Er tröstet sich zunächst
mit der Zukunft: „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des
deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit:

Aber jener Tag liegt Schillers Zeit noch fern, und er wiederholt die Frage:
Darf der Deutsche in dem Augenblick ohne Beschämung stolz sein Haupt erheben,

„Ja, er darf's", antwortet der Dichter, denn Deutschlands Größe ist eine
sittliche Größe, unabhängig vom politischen Geschick der Nation.

Doch daß die Fähigkeit zur Machtentwicklung nach außen eigentlich zum
Leben der großen Völker gehört, hat Schiller an Frankreich und England gelernt,
in denen er einst die Heimstätten der Freiheit sah; das war Schillers Bekehrung
vom Weltbürgertum zum Nationalgedanken.




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[0243] Englands Bild in den Augen der deutschen AlaMcr Wenn sich hier Schiller, wie auch Goethe, mit der englischen Seeherrschaft als etwas Gegebenen still abfindet, so spricht die wirtschaftliche Lage Deutschlands mit, die eine solche Interesselosigkeit begünstigte; und die politische Lage, die durch Deutschlands Zerrissenheit bedingt war, konnte keines Deutschen Teilnahme er¬ wecken, der sich nicht sähig fühlte, ein neues Deutschland zu schaffen. Nur aus geistigem Gebiete, so schließt Schillers Gedicht, ist deutscher Kraft noch ungehemmte Auswirkung gegönnt: Jean Paul drückte es ironisch aus, den anderen großen Nationen seien Erde und Wasser als Herrschaftsbereichs gegeben, den deutschen — die Luft, und wurde so ungeahnterweise Prophet unserer Zeit, doch in anderem Sinne. Daß hinter Englands Kriegen ebenso wie hinter denen Frankreichs die nackte Machtpolitik steht, erkannte Schiller wohl, und die viel zitierten Worte der 1800/1 verfaßten „Jungfrau von Orleans" rissen den Schleier auch von der damaligen Politik Englands: Dennoch scheint Schiller trotz des Gefühls der deutschen moralischen Über¬ legenheit es schmerzlich empfunden zu haben, daß Deutschland im Rat der Völker nichts bedeutete, und so setzt er sich mit dieser Frage eingehend in einem Gedicht- Plan „Gedicht zur Jahrhundertwende" (1800) auseinander. Er tröstet sich zunächst mit der Zukunft: „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit: Aber jener Tag liegt Schillers Zeit noch fern, und er wiederholt die Frage: Darf der Deutsche in dem Augenblick ohne Beschämung stolz sein Haupt erheben, „Ja, er darf's", antwortet der Dichter, denn Deutschlands Größe ist eine sittliche Größe, unabhängig vom politischen Geschick der Nation. Doch daß die Fähigkeit zur Machtentwicklung nach außen eigentlich zum Leben der großen Völker gehört, hat Schiller an Frankreich und England gelernt, in denen er einst die Heimstätten der Freiheit sah; das war Schillers Bekehrung vom Weltbürgertum zum Nationalgedanken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/243>, abgerufen am 22.07.2024.