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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Zugendpolitik, Zugendrecht und Zugendwohlfahrt

Staatsganze einordnen; nur dürfen wir nicht den Fehler machen, daß wir das
Individuum nicht um seiner selbst willen, sondern lediglich als ein Glied der
Gemeinschaft gelten lassen.

Hat nun die Jugendpolitik die erforderlichen zahlreichen Leitsätze aufgestellt,
so müssen diese richtunggebend nicht nur für die Verwaltung und für deren
Einrichtungen, sondern auch für das Jugendrecht werden. Es ist die Forderung
nach einem umfassenden einheitlichen Reichsjugendgesetze erhoben worden. Wie
zu erwarten war, hat sich hiergegen starker Widerstand geltend gemacht; man
befürchtet unzulässige Eingriffe in die Zuständigkeit und in die Selbständigkeit der
Einzelstaaten. Auch ein eingefleischter Partikularist wird es aber nicht verkennen
können, daß es doch eigentlich kaum eine Angelegenheit geben kann, die mehr
Reichssache wäre als die Sorge für daS heranwachsende Geschlecht, das im nächsten
Zeitalter die Geschicke des Reiches zu bestimmen hat; andererseits kann sich auch
der eifrigste Anhänger des Reichsgedankens dem nicht verschließen, daß ein
Jugendreichsgesetz, das selbstverständlich in vielen Punkten nur ein Rahmengesetz
sein kann, zahllose Einzelgesetze der Gliedstaaten des Deutschen Reiches neben sich
erfordert. Der Widerstreit der Meinungen wird also vielfach nur auf eine Frage
des Maßes hinauslaufen; an dem Verlangen nach einer Reichsgesetzgebung und
zwar nach einer einheitlichen und allgemeinen muß aber festgehalten werden. In
der Form liegt jedoch nicht das Heil. Wir können ein einheitliches Reichsjugend¬
gesetz auch dadurch erhalten, daß nach den von der Jugendpolitik aufgestellten
Richtlinien eine ganze Anzahl von Einzelgesetzen erlassen wird, die dem Drängen
des Tagesbedürfnisses gerecht werden, untereinander aber zusammenhängen und
fortlaufend ein Ganzes bilden. So könnte sehr wohl zunächst ein Gesetz für die
schulentlassenen, das dringend notwendig ist, und ein allgemeines Jugendschutz¬
gesetz ergehen. Jedenfalls muß mit dem bisherigen System gebrochen werden,
das die Gesetze nur für die Erwachsenen einrichtete und dann mit ein wenig
Ummodeln die Bestimmungen für die Jugendlichen traf. Wir dürfen nicht wie
der Hausvater handeln, der seinen eigenen Rock vom Schneider kürzen läßt und
dem Sohne zum Tragen übergibt. Die Jugend bedarf eines eigenen Rechtes,
weil die Jugendlichen anders gerichtete Wesen als die Erwachsenen sind. Das
Kind geht von seinem eigenen Ich und von den Eindrücken der umgebenden
Sinnenwelt aus; es wird vom Triebleben beherrscht und muß eigensüchtig sein,
aus dem Spiel und der Märchenwelt in die Welt der Pflicht hinübergeleitet
lediglich durch Gebot und Verbot, nicht auch durch das Erkennen von Gut und
Böse. Der Erwachsene handelt mit Verstand nach den Geboten der Vernunft und
der Sitte, er stellt sich unter das Gesetz im freien Erkennen von dessen Notwen¬
digkeit, gliedert sich in das Staatsganze ein, erkennt die Rechte des Nachbarn
neben sich an und versteht, was Moral, Religion und Menschenliebe von ihm
erfordern. Das Empfindungsleben, die Willensrichtung und der Charakter sind
bei dem hilflosen Kinde anders als beim Erwachsenen geartet. Das Verantwort¬
lichkeitsgefühl und das Rechtsempfinden entstehen nur langsam bei ihm. Der
Übergang beginnt zurzeit der Geschlechtsreife. Da die Kinder der handarbeitenden
Bevölkerung etwa zu dieser Zeit in das Erwerbsleben eintreten, und da die
Jugendlichen bei uns viel zu jung bereits dem Strafrichter verfallen, begehen wir im
allgemeinen den Irrtum, daß wir die Jugendlichen zu früh der Menschenklasse der
Erwachsenen gleichstellen. Dies darf erst dann geschehen, wenn eine weitere sittliche
Reife eingetreten ist, und der Jugendliche seine Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit,
die Pflicht des Sichunterordnens, des wechselseitigen Dienens wenigstens in den
rohesten Umrissen in Erkenntnis der Erfordernisse des wirklichen Lebens erfaßt hat.

Wir müssen uns dessen inne bleiben, daß wir es in dem Kinde zunächst nur
mit einem Naturmenschen zu tun haben, und daß dessen Umbildung in einen
Kulturträger einen gar langen Weg erheischt. Alle gesetzgeberischen Matznahmen
müssen hierbei Abschichtungen für die drei Stufen des Kleinkinderalters, des Kindes-
alters und der schulentlassenen eintreten lassen und werden dann zum Teil Matz¬
nahmen zugunsten der Jugend, zum anderen Teile solche zugunsten der bürger-


Grenzb"ten III 1918 14
Zugendpolitik, Zugendrecht und Zugendwohlfahrt

Staatsganze einordnen; nur dürfen wir nicht den Fehler machen, daß wir das
Individuum nicht um seiner selbst willen, sondern lediglich als ein Glied der
Gemeinschaft gelten lassen.

Hat nun die Jugendpolitik die erforderlichen zahlreichen Leitsätze aufgestellt,
so müssen diese richtunggebend nicht nur für die Verwaltung und für deren
Einrichtungen, sondern auch für das Jugendrecht werden. Es ist die Forderung
nach einem umfassenden einheitlichen Reichsjugendgesetze erhoben worden. Wie
zu erwarten war, hat sich hiergegen starker Widerstand geltend gemacht; man
befürchtet unzulässige Eingriffe in die Zuständigkeit und in die Selbständigkeit der
Einzelstaaten. Auch ein eingefleischter Partikularist wird es aber nicht verkennen
können, daß es doch eigentlich kaum eine Angelegenheit geben kann, die mehr
Reichssache wäre als die Sorge für daS heranwachsende Geschlecht, das im nächsten
Zeitalter die Geschicke des Reiches zu bestimmen hat; andererseits kann sich auch
der eifrigste Anhänger des Reichsgedankens dem nicht verschließen, daß ein
Jugendreichsgesetz, das selbstverständlich in vielen Punkten nur ein Rahmengesetz
sein kann, zahllose Einzelgesetze der Gliedstaaten des Deutschen Reiches neben sich
erfordert. Der Widerstreit der Meinungen wird also vielfach nur auf eine Frage
des Maßes hinauslaufen; an dem Verlangen nach einer Reichsgesetzgebung und
zwar nach einer einheitlichen und allgemeinen muß aber festgehalten werden. In
der Form liegt jedoch nicht das Heil. Wir können ein einheitliches Reichsjugend¬
gesetz auch dadurch erhalten, daß nach den von der Jugendpolitik aufgestellten
Richtlinien eine ganze Anzahl von Einzelgesetzen erlassen wird, die dem Drängen
des Tagesbedürfnisses gerecht werden, untereinander aber zusammenhängen und
fortlaufend ein Ganzes bilden. So könnte sehr wohl zunächst ein Gesetz für die
schulentlassenen, das dringend notwendig ist, und ein allgemeines Jugendschutz¬
gesetz ergehen. Jedenfalls muß mit dem bisherigen System gebrochen werden,
das die Gesetze nur für die Erwachsenen einrichtete und dann mit ein wenig
Ummodeln die Bestimmungen für die Jugendlichen traf. Wir dürfen nicht wie
der Hausvater handeln, der seinen eigenen Rock vom Schneider kürzen läßt und
dem Sohne zum Tragen übergibt. Die Jugend bedarf eines eigenen Rechtes,
weil die Jugendlichen anders gerichtete Wesen als die Erwachsenen sind. Das
Kind geht von seinem eigenen Ich und von den Eindrücken der umgebenden
Sinnenwelt aus; es wird vom Triebleben beherrscht und muß eigensüchtig sein,
aus dem Spiel und der Märchenwelt in die Welt der Pflicht hinübergeleitet
lediglich durch Gebot und Verbot, nicht auch durch das Erkennen von Gut und
Böse. Der Erwachsene handelt mit Verstand nach den Geboten der Vernunft und
der Sitte, er stellt sich unter das Gesetz im freien Erkennen von dessen Notwen¬
digkeit, gliedert sich in das Staatsganze ein, erkennt die Rechte des Nachbarn
neben sich an und versteht, was Moral, Religion und Menschenliebe von ihm
erfordern. Das Empfindungsleben, die Willensrichtung und der Charakter sind
bei dem hilflosen Kinde anders als beim Erwachsenen geartet. Das Verantwort¬
lichkeitsgefühl und das Rechtsempfinden entstehen nur langsam bei ihm. Der
Übergang beginnt zurzeit der Geschlechtsreife. Da die Kinder der handarbeitenden
Bevölkerung etwa zu dieser Zeit in das Erwerbsleben eintreten, und da die
Jugendlichen bei uns viel zu jung bereits dem Strafrichter verfallen, begehen wir im
allgemeinen den Irrtum, daß wir die Jugendlichen zu früh der Menschenklasse der
Erwachsenen gleichstellen. Dies darf erst dann geschehen, wenn eine weitere sittliche
Reife eingetreten ist, und der Jugendliche seine Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit,
die Pflicht des Sichunterordnens, des wechselseitigen Dienens wenigstens in den
rohesten Umrissen in Erkenntnis der Erfordernisse des wirklichen Lebens erfaßt hat.

Wir müssen uns dessen inne bleiben, daß wir es in dem Kinde zunächst nur
mit einem Naturmenschen zu tun haben, und daß dessen Umbildung in einen
Kulturträger einen gar langen Weg erheischt. Alle gesetzgeberischen Matznahmen
müssen hierbei Abschichtungen für die drei Stufen des Kleinkinderalters, des Kindes-
alters und der schulentlassenen eintreten lassen und werden dann zum Teil Matz¬
nahmen zugunsten der Jugend, zum anderen Teile solche zugunsten der bürger-


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[0181] Zugendpolitik, Zugendrecht und Zugendwohlfahrt Staatsganze einordnen; nur dürfen wir nicht den Fehler machen, daß wir das Individuum nicht um seiner selbst willen, sondern lediglich als ein Glied der Gemeinschaft gelten lassen. Hat nun die Jugendpolitik die erforderlichen zahlreichen Leitsätze aufgestellt, so müssen diese richtunggebend nicht nur für die Verwaltung und für deren Einrichtungen, sondern auch für das Jugendrecht werden. Es ist die Forderung nach einem umfassenden einheitlichen Reichsjugendgesetze erhoben worden. Wie zu erwarten war, hat sich hiergegen starker Widerstand geltend gemacht; man befürchtet unzulässige Eingriffe in die Zuständigkeit und in die Selbständigkeit der Einzelstaaten. Auch ein eingefleischter Partikularist wird es aber nicht verkennen können, daß es doch eigentlich kaum eine Angelegenheit geben kann, die mehr Reichssache wäre als die Sorge für daS heranwachsende Geschlecht, das im nächsten Zeitalter die Geschicke des Reiches zu bestimmen hat; andererseits kann sich auch der eifrigste Anhänger des Reichsgedankens dem nicht verschließen, daß ein Jugendreichsgesetz, das selbstverständlich in vielen Punkten nur ein Rahmengesetz sein kann, zahllose Einzelgesetze der Gliedstaaten des Deutschen Reiches neben sich erfordert. Der Widerstreit der Meinungen wird also vielfach nur auf eine Frage des Maßes hinauslaufen; an dem Verlangen nach einer Reichsgesetzgebung und zwar nach einer einheitlichen und allgemeinen muß aber festgehalten werden. In der Form liegt jedoch nicht das Heil. Wir können ein einheitliches Reichsjugend¬ gesetz auch dadurch erhalten, daß nach den von der Jugendpolitik aufgestellten Richtlinien eine ganze Anzahl von Einzelgesetzen erlassen wird, die dem Drängen des Tagesbedürfnisses gerecht werden, untereinander aber zusammenhängen und fortlaufend ein Ganzes bilden. So könnte sehr wohl zunächst ein Gesetz für die schulentlassenen, das dringend notwendig ist, und ein allgemeines Jugendschutz¬ gesetz ergehen. Jedenfalls muß mit dem bisherigen System gebrochen werden, das die Gesetze nur für die Erwachsenen einrichtete und dann mit ein wenig Ummodeln die Bestimmungen für die Jugendlichen traf. Wir dürfen nicht wie der Hausvater handeln, der seinen eigenen Rock vom Schneider kürzen läßt und dem Sohne zum Tragen übergibt. Die Jugend bedarf eines eigenen Rechtes, weil die Jugendlichen anders gerichtete Wesen als die Erwachsenen sind. Das Kind geht von seinem eigenen Ich und von den Eindrücken der umgebenden Sinnenwelt aus; es wird vom Triebleben beherrscht und muß eigensüchtig sein, aus dem Spiel und der Märchenwelt in die Welt der Pflicht hinübergeleitet lediglich durch Gebot und Verbot, nicht auch durch das Erkennen von Gut und Böse. Der Erwachsene handelt mit Verstand nach den Geboten der Vernunft und der Sitte, er stellt sich unter das Gesetz im freien Erkennen von dessen Notwen¬ digkeit, gliedert sich in das Staatsganze ein, erkennt die Rechte des Nachbarn neben sich an und versteht, was Moral, Religion und Menschenliebe von ihm erfordern. Das Empfindungsleben, die Willensrichtung und der Charakter sind bei dem hilflosen Kinde anders als beim Erwachsenen geartet. Das Verantwort¬ lichkeitsgefühl und das Rechtsempfinden entstehen nur langsam bei ihm. Der Übergang beginnt zurzeit der Geschlechtsreife. Da die Kinder der handarbeitenden Bevölkerung etwa zu dieser Zeit in das Erwerbsleben eintreten, und da die Jugendlichen bei uns viel zu jung bereits dem Strafrichter verfallen, begehen wir im allgemeinen den Irrtum, daß wir die Jugendlichen zu früh der Menschenklasse der Erwachsenen gleichstellen. Dies darf erst dann geschehen, wenn eine weitere sittliche Reife eingetreten ist, und der Jugendliche seine Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit, die Pflicht des Sichunterordnens, des wechselseitigen Dienens wenigstens in den rohesten Umrissen in Erkenntnis der Erfordernisse des wirklichen Lebens erfaßt hat. Wir müssen uns dessen inne bleiben, daß wir es in dem Kinde zunächst nur mit einem Naturmenschen zu tun haben, und daß dessen Umbildung in einen Kulturträger einen gar langen Weg erheischt. Alle gesetzgeberischen Matznahmen müssen hierbei Abschichtungen für die drei Stufen des Kleinkinderalters, des Kindes- alters und der schulentlassenen eintreten lassen und werden dann zum Teil Matz¬ nahmen zugunsten der Jugend, zum anderen Teile solche zugunsten der bürger- Grenzb«ten III 1918 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/181>, abgerufen am 29.06.2024.