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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Jugendxolitik, Zugendrecht und Zugendwohlfahrt

lichen Gesellschaft gegen gewisse Jugendliche sein müssen, wobei die wirtschaftlichen
Maßnahmen ganz anders als bisher in den Vordergrund und die des Straf¬
rechtes und des Strafprozesses mehr in den Hintergrund zu treten haben. Hierbei
ist es Aufgabe unserer Zeit, restlos zu erkennen, was es besagen will, daß unsere
Jugend eine vollständig andere als die unserer eigenen jungen Tage ist. Wir haben
jetzt einen Teil unserer Jugend in der Front, zu der auch die Pflegerinnen in den
Lazaretten gehören. Von dem anderen Teile in der Heimat braucht man nur
einige Einzelbilder zu beleuchten: die Schwerverbrecher und die Mörder, die
Wandervögel, die Hilssdienstpflichtigen, die Zuchtlosen, die Spielkinder und die
ballfähigen Töchter, die um ihre Jugend gebracht sind, die Fürsorgezöglinge usw.
Das Zeichen unserer Zeit ist, daß unsere Jugend das normale Leben nicht kennt,
daß sie keinen Maßstab für das gewöhnliche Geschehen des Alltages hat, sich nichts
mehr sagen lassen will, da sie, namentlich in Großstädten, zwar den Körper des
Kindes, aber die Wirtschaftsweise, die Erfahrungen, die Entbehrungen und die
Verantwortung des Erwachsenen hat, daß sie trotz allödem das rechte Arbeiten
vielfach verlernt und wegen des Wegfalles von bisherigen sittlichen und gesetz¬
lichen Hemmungen regellos und oft zügellos sich entwickelt. Das Recht auf Freude
nutz wieder eingesetzt werden; die Segnungen der Mutter Natur und der Kunst
sollen unseren Kindern zuteil werden; aber es nutz der Jugend auch in Fleisch
und Blut übergehen, daß der Staat Ordnung erheischt, und daß Ordnung Satzung
erfordert, Satzung aber Zwang bedeutet.

Neben die Jugendpolitik und das Jugendrecht tritt als die älteste von den
dreien die Jugendwohlfahrt. Wie der Name besagt, handelt es sich nicht nur um
das Wohlergehen der Jugend, sondern darum, daß sie wohl fährt. Wenn das
Fahren auch nicht gleich im Auto zu geschehen braucht, so soll doch etwas Besseres
als das Existenzminimum, als daS ganz Alltägliche geboten werden. Wohlfahrts-
pflege ist die freie Tätigkeit der bürgerlichen Gesellschaft zur sozialen Besserung.
Neben ihr besteht die behördliche und die sonstige öffentliche Wohlfahrt durch
Reich, Staat, Gemeinde und Kirche. Die private Wohlfahrtspflege nutz sich nun
anders als bisher innerlich und äußerlich neuordnen und zusammenschließen. Wir
sollten es durch den Krieg gelernt haben, daß Not nicht bloß Eisen bricht, sondern
auch Eisen zusammenschweißt. Innerlich soll sich die Jugendwohlfahrt dadurch,
umgestalten, daß in der Jugend neue sittliche Kräfte erzeugt und die Kinder der
handarbeitenden Bevölkerung körperlich, geistig, wirtschaftlich und sittlich gefördert
und emporgehoben werden. Die bloße Wohltätigkeit mit ihrem Almosen¬
charakter muß mehr als bisher durch die pflegerische Hilfeleistung ersetzt werden,
die ein Dienst von Person zu Person ist, und die ein Eingehen auf die Indivi¬
dualität des Pfleglings bedingt. Unsere Erzieher müssen erst selbst recht erzogen
werden; insonderheit müssen unsere Mütter, die ja die besten Kenner des Seelen¬
lebens und der Körperpflege der Jugend sind, eine eingehendere Vorbildung und
Durchbildung erfahren. Auf breiteren Grundlagen als zurzeit soll die allgemeine
Menschenliebe einsetzen. Äußerlich nutz das Nebeneinander- und Gegeneinander-
arbeiten der vielen Personenvereinigungen einem Miteinanderarbeiten Platz machen.
Ein Jugendamt, das am besten von vornherein als Jugend- und Wohlfahrtsamt
eingerichtet wird, nutz überall den örtlichen Mittelpunkt bilden. Über ihm sollte
in der Provinz, bezw. in den Einzelstaaten, ein vereinigtes Landesjugendamt und
Wohlfahrtskammer stehen, und es wird darüber eine gemeinsame Reichsspitze auf
die Dauer nicht entbehrt werden können. Ein solcher behördenartiger Aufbau
der Wohlsahrtsverwaltung -- wohlverstanden: nur dieser Verwaltung -- will die
Selbständigkeit der einzelnen Vereine, Verbände und Stiftungen nicht antasten, wohl
aber einen Meldezwang für alle Wohlfahrtsorganisationen einführen und Sorge tragen
für gemeinsame Kartotheken, Ersparnisse in der Verwaltung, vollständige Auskunfts¬
erteilung und Aufklärung, Erfassung der Tätigkeit in kleinen Gemeinden, Förderung
und Anregung gemeinsamer Wohlfahrtseinrichtungen, Ausbildung von Wohlfahrts¬
beamten, Erlaß von Normalsatzungen, gesetzgeberische Vorschläge und Beseitigung der
jetzigen Zersplitterung durch Zusammenfassung dessen, was vereinigt werden kann.


Jugendxolitik, Zugendrecht und Zugendwohlfahrt

lichen Gesellschaft gegen gewisse Jugendliche sein müssen, wobei die wirtschaftlichen
Maßnahmen ganz anders als bisher in den Vordergrund und die des Straf¬
rechtes und des Strafprozesses mehr in den Hintergrund zu treten haben. Hierbei
ist es Aufgabe unserer Zeit, restlos zu erkennen, was es besagen will, daß unsere
Jugend eine vollständig andere als die unserer eigenen jungen Tage ist. Wir haben
jetzt einen Teil unserer Jugend in der Front, zu der auch die Pflegerinnen in den
Lazaretten gehören. Von dem anderen Teile in der Heimat braucht man nur
einige Einzelbilder zu beleuchten: die Schwerverbrecher und die Mörder, die
Wandervögel, die Hilssdienstpflichtigen, die Zuchtlosen, die Spielkinder und die
ballfähigen Töchter, die um ihre Jugend gebracht sind, die Fürsorgezöglinge usw.
Das Zeichen unserer Zeit ist, daß unsere Jugend das normale Leben nicht kennt,
daß sie keinen Maßstab für das gewöhnliche Geschehen des Alltages hat, sich nichts
mehr sagen lassen will, da sie, namentlich in Großstädten, zwar den Körper des
Kindes, aber die Wirtschaftsweise, die Erfahrungen, die Entbehrungen und die
Verantwortung des Erwachsenen hat, daß sie trotz allödem das rechte Arbeiten
vielfach verlernt und wegen des Wegfalles von bisherigen sittlichen und gesetz¬
lichen Hemmungen regellos und oft zügellos sich entwickelt. Das Recht auf Freude
nutz wieder eingesetzt werden; die Segnungen der Mutter Natur und der Kunst
sollen unseren Kindern zuteil werden; aber es nutz der Jugend auch in Fleisch
und Blut übergehen, daß der Staat Ordnung erheischt, und daß Ordnung Satzung
erfordert, Satzung aber Zwang bedeutet.

Neben die Jugendpolitik und das Jugendrecht tritt als die älteste von den
dreien die Jugendwohlfahrt. Wie der Name besagt, handelt es sich nicht nur um
das Wohlergehen der Jugend, sondern darum, daß sie wohl fährt. Wenn das
Fahren auch nicht gleich im Auto zu geschehen braucht, so soll doch etwas Besseres
als das Existenzminimum, als daS ganz Alltägliche geboten werden. Wohlfahrts-
pflege ist die freie Tätigkeit der bürgerlichen Gesellschaft zur sozialen Besserung.
Neben ihr besteht die behördliche und die sonstige öffentliche Wohlfahrt durch
Reich, Staat, Gemeinde und Kirche. Die private Wohlfahrtspflege nutz sich nun
anders als bisher innerlich und äußerlich neuordnen und zusammenschließen. Wir
sollten es durch den Krieg gelernt haben, daß Not nicht bloß Eisen bricht, sondern
auch Eisen zusammenschweißt. Innerlich soll sich die Jugendwohlfahrt dadurch,
umgestalten, daß in der Jugend neue sittliche Kräfte erzeugt und die Kinder der
handarbeitenden Bevölkerung körperlich, geistig, wirtschaftlich und sittlich gefördert
und emporgehoben werden. Die bloße Wohltätigkeit mit ihrem Almosen¬
charakter muß mehr als bisher durch die pflegerische Hilfeleistung ersetzt werden,
die ein Dienst von Person zu Person ist, und die ein Eingehen auf die Indivi¬
dualität des Pfleglings bedingt. Unsere Erzieher müssen erst selbst recht erzogen
werden; insonderheit müssen unsere Mütter, die ja die besten Kenner des Seelen¬
lebens und der Körperpflege der Jugend sind, eine eingehendere Vorbildung und
Durchbildung erfahren. Auf breiteren Grundlagen als zurzeit soll die allgemeine
Menschenliebe einsetzen. Äußerlich nutz das Nebeneinander- und Gegeneinander-
arbeiten der vielen Personenvereinigungen einem Miteinanderarbeiten Platz machen.
Ein Jugendamt, das am besten von vornherein als Jugend- und Wohlfahrtsamt
eingerichtet wird, nutz überall den örtlichen Mittelpunkt bilden. Über ihm sollte
in der Provinz, bezw. in den Einzelstaaten, ein vereinigtes Landesjugendamt und
Wohlfahrtskammer stehen, und es wird darüber eine gemeinsame Reichsspitze auf
die Dauer nicht entbehrt werden können. Ein solcher behördenartiger Aufbau
der Wohlsahrtsverwaltung — wohlverstanden: nur dieser Verwaltung — will die
Selbständigkeit der einzelnen Vereine, Verbände und Stiftungen nicht antasten, wohl
aber einen Meldezwang für alle Wohlfahrtsorganisationen einführen und Sorge tragen
für gemeinsame Kartotheken, Ersparnisse in der Verwaltung, vollständige Auskunfts¬
erteilung und Aufklärung, Erfassung der Tätigkeit in kleinen Gemeinden, Förderung
und Anregung gemeinsamer Wohlfahrtseinrichtungen, Ausbildung von Wohlfahrts¬
beamten, Erlaß von Normalsatzungen, gesetzgeberische Vorschläge und Beseitigung der
jetzigen Zersplitterung durch Zusammenfassung dessen, was vereinigt werden kann.


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[0182] Jugendxolitik, Zugendrecht und Zugendwohlfahrt lichen Gesellschaft gegen gewisse Jugendliche sein müssen, wobei die wirtschaftlichen Maßnahmen ganz anders als bisher in den Vordergrund und die des Straf¬ rechtes und des Strafprozesses mehr in den Hintergrund zu treten haben. Hierbei ist es Aufgabe unserer Zeit, restlos zu erkennen, was es besagen will, daß unsere Jugend eine vollständig andere als die unserer eigenen jungen Tage ist. Wir haben jetzt einen Teil unserer Jugend in der Front, zu der auch die Pflegerinnen in den Lazaretten gehören. Von dem anderen Teile in der Heimat braucht man nur einige Einzelbilder zu beleuchten: die Schwerverbrecher und die Mörder, die Wandervögel, die Hilssdienstpflichtigen, die Zuchtlosen, die Spielkinder und die ballfähigen Töchter, die um ihre Jugend gebracht sind, die Fürsorgezöglinge usw. Das Zeichen unserer Zeit ist, daß unsere Jugend das normale Leben nicht kennt, daß sie keinen Maßstab für das gewöhnliche Geschehen des Alltages hat, sich nichts mehr sagen lassen will, da sie, namentlich in Großstädten, zwar den Körper des Kindes, aber die Wirtschaftsweise, die Erfahrungen, die Entbehrungen und die Verantwortung des Erwachsenen hat, daß sie trotz allödem das rechte Arbeiten vielfach verlernt und wegen des Wegfalles von bisherigen sittlichen und gesetz¬ lichen Hemmungen regellos und oft zügellos sich entwickelt. Das Recht auf Freude nutz wieder eingesetzt werden; die Segnungen der Mutter Natur und der Kunst sollen unseren Kindern zuteil werden; aber es nutz der Jugend auch in Fleisch und Blut übergehen, daß der Staat Ordnung erheischt, und daß Ordnung Satzung erfordert, Satzung aber Zwang bedeutet. Neben die Jugendpolitik und das Jugendrecht tritt als die älteste von den dreien die Jugendwohlfahrt. Wie der Name besagt, handelt es sich nicht nur um das Wohlergehen der Jugend, sondern darum, daß sie wohl fährt. Wenn das Fahren auch nicht gleich im Auto zu geschehen braucht, so soll doch etwas Besseres als das Existenzminimum, als daS ganz Alltägliche geboten werden. Wohlfahrts- pflege ist die freie Tätigkeit der bürgerlichen Gesellschaft zur sozialen Besserung. Neben ihr besteht die behördliche und die sonstige öffentliche Wohlfahrt durch Reich, Staat, Gemeinde und Kirche. Die private Wohlfahrtspflege nutz sich nun anders als bisher innerlich und äußerlich neuordnen und zusammenschließen. Wir sollten es durch den Krieg gelernt haben, daß Not nicht bloß Eisen bricht, sondern auch Eisen zusammenschweißt. Innerlich soll sich die Jugendwohlfahrt dadurch, umgestalten, daß in der Jugend neue sittliche Kräfte erzeugt und die Kinder der handarbeitenden Bevölkerung körperlich, geistig, wirtschaftlich und sittlich gefördert und emporgehoben werden. Die bloße Wohltätigkeit mit ihrem Almosen¬ charakter muß mehr als bisher durch die pflegerische Hilfeleistung ersetzt werden, die ein Dienst von Person zu Person ist, und die ein Eingehen auf die Indivi¬ dualität des Pfleglings bedingt. Unsere Erzieher müssen erst selbst recht erzogen werden; insonderheit müssen unsere Mütter, die ja die besten Kenner des Seelen¬ lebens und der Körperpflege der Jugend sind, eine eingehendere Vorbildung und Durchbildung erfahren. Auf breiteren Grundlagen als zurzeit soll die allgemeine Menschenliebe einsetzen. Äußerlich nutz das Nebeneinander- und Gegeneinander- arbeiten der vielen Personenvereinigungen einem Miteinanderarbeiten Platz machen. Ein Jugendamt, das am besten von vornherein als Jugend- und Wohlfahrtsamt eingerichtet wird, nutz überall den örtlichen Mittelpunkt bilden. Über ihm sollte in der Provinz, bezw. in den Einzelstaaten, ein vereinigtes Landesjugendamt und Wohlfahrtskammer stehen, und es wird darüber eine gemeinsame Reichsspitze auf die Dauer nicht entbehrt werden können. Ein solcher behördenartiger Aufbau der Wohlsahrtsverwaltung — wohlverstanden: nur dieser Verwaltung — will die Selbständigkeit der einzelnen Vereine, Verbände und Stiftungen nicht antasten, wohl aber einen Meldezwang für alle Wohlfahrtsorganisationen einführen und Sorge tragen für gemeinsame Kartotheken, Ersparnisse in der Verwaltung, vollständige Auskunfts¬ erteilung und Aufklärung, Erfassung der Tätigkeit in kleinen Gemeinden, Förderung und Anregung gemeinsamer Wohlfahrtseinrichtungen, Ausbildung von Wohlfahrts¬ beamten, Erlaß von Normalsatzungen, gesetzgeberische Vorschläge und Beseitigung der jetzigen Zersplitterung durch Zusammenfassung dessen, was vereinigt werden kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/182>, abgerufen am 22.07.2024.