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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Das angelsächsische RiNturgefühl

sie überhaupt nicht ausgehalten. In dieser Weise drang auf den Puritanismus
die biologische Anlage der englischen Rassenart ein, so daß sie die Synthese mit
einer unerhörten Entschlossenheit durchgeführt hat.

Auf dieser Synthese beruhte also ein neuer und eigentümlicher Puritanis¬
mus und mit ihm das Urgefühl des modernen Empfindens einer angelsächsischen
Gesamtheitskultur. Sie ergab nämlich folgendes. Unvermittelt ergießt sich über
die Tätigkeitsenergie und den geschäftlichen Sinn eine religiöse Verklärung, so daß
der praktische Trieb zur Daseinsgestaltung wie von selber geheiligt erscheint: das
innere Werterlebnis als solches, die seelische Umschwingung, wird von ihm nicht
mehr gesucht und nicht mehr vermißt. Statt dessen durchsättigt dieser praktische
Trieb die religiösen Gefühle gleichzeitig mit seinen handelnden Kräften: wie er
selber geheiligt ist, so wird das Wertgefühl im Religiösen praktisch gemacht und
gleichsam technisiert. Auch von dieser Seite her schläft das eigentlich Wert¬
erzeugende, der unstillbare Zwang seelisch schassen zu müssen, vollständig ein.




Bekannte angelsächsische Züge, die wir als typisch englisch ansprechen, er¬
klären sich hieraus. So z. B. der unmetaphysische Hang zum Praktischen, jener
matter-ok-kaLt-Sinn, der sich bis in die Behandlung metaphysischer Dinge aus¬
dehnt, sowie der Kult des äußeren Erfolges und der amusische Geist. Die Angel¬
sachsen erscheinen uns heute als durchaus unkmistlerisch. Es wäre indessen ver¬
kehrt, wenn wir diese Charakterrichtung blotz als geradlinige Nationalerbschaft des
ehemaligen, echt europäischen Engländertums auffassen wollten.

Gerade das unkünstlerische Wesen des gegenwärtigen angelsächsischen Menschen
beweist unwiderleglich, wie mit der Einwirkung des Puritanismus etwas Neues
aufgetreten sein muß, wie diese Einwirkung entwicklungskräftige Fähigkeiten zer¬
störte und andere an ihrer Stelle hervorrief. Denn das alte englische Volk der
vorpuritaniscken Zeit ist vielleicht das am stärksten dramatisch begabte Volk in
Europa gewesen. Und es war stets lustig und sangesfroh und zu Possen auf¬
gelegt, eben das Volk von merr> viel Lnxisnä, das es heute nirgends mehr gibt.
Die ursprünglichen Anfänge der Bühnenkunst des Abendlandes, die in den Jahr¬
hunderten des späten Mittelalters aus kirchlichen Festspielen hervorgingen, hatten
dort ihre tiefste künstlerische Durchbildung erfahren; von den Engländern wurde
im sechzehnten Jahrhundert zum erstenmal in Europa der Stand der Schauspieler
als Berufsstand geschaffen, und im Zeitalter Shakespeares gab es neben Shake¬
speare eine ganze Generation von dramatischen Dichtern. Diese reichen Anlagen
wurden vom Puritanismus fast mit einem Schlage vernichtet. Schon im Jahre
1642 hatte er es durchsetzen können, daß eine Parlamentsakte sämtliche Theater¬
aufführungen verbot. Es muß etwas mehr und ganz etwas anderes gewesen
sein, ^is nur ein literaturgeschichtlicher Vorgang, daß sich das englische Dichtungs-
leben von diesem würgenden Griff nie wieder erholt hat.

Am stärksten arbeitete sich die Schwächung seelischer Wertkräfte in der Lebens-
sphäre des Sittlichen aus. Man bemerkt hier zunächst als zentrale Idee eine
unwidersprochene "Freiheit" der einzelnen um ihrer selbst willen, so wie sie da
sind und leben, und eine Selbstgefälligkeit in dieser Freiheit, welche bedeutet: die
gegebene Individualität erscheint ohne jede weitere Rechtfertigung durch einen
ethischen Höherwert, der von ihr erst verwirklicht werden sollte, als ethischer
Selbstzweck. Damit hört daS Ethische überhaupt auf, ein ständig von neuem aus¬
gegebenes Problem zu sein. Es stagniert. Aber streng folgerichtig verfällt es,
um sich in anarchischer Willensvereinzelnng aufzulösen, zu verschwinden und sich
ganz zu verflüchtigen. Dieser Selbstauflösung des Ethischen hätte die gewohn¬
heitsmäßige Unterwerfung unter das religiöse Gebot vielleicht doch nicht voll
standhalten können, wenn sich ihr nicht noch etwas anderes entgegengestemmt
haben würde. Denn an irgendeinem Punkte müssen die überlieferten religiösen
Vorschriften und der unbeschränkte Freiheitsgedanke in Kollision miteinander ge¬
raten; die ethische Erlebnisfähigkeit vermag aus sich selbst solche Kollisionen nicht


Das angelsächsische RiNturgefühl

sie überhaupt nicht ausgehalten. In dieser Weise drang auf den Puritanismus
die biologische Anlage der englischen Rassenart ein, so daß sie die Synthese mit
einer unerhörten Entschlossenheit durchgeführt hat.

Auf dieser Synthese beruhte also ein neuer und eigentümlicher Puritanis¬
mus und mit ihm das Urgefühl des modernen Empfindens einer angelsächsischen
Gesamtheitskultur. Sie ergab nämlich folgendes. Unvermittelt ergießt sich über
die Tätigkeitsenergie und den geschäftlichen Sinn eine religiöse Verklärung, so daß
der praktische Trieb zur Daseinsgestaltung wie von selber geheiligt erscheint: das
innere Werterlebnis als solches, die seelische Umschwingung, wird von ihm nicht
mehr gesucht und nicht mehr vermißt. Statt dessen durchsättigt dieser praktische
Trieb die religiösen Gefühle gleichzeitig mit seinen handelnden Kräften: wie er
selber geheiligt ist, so wird das Wertgefühl im Religiösen praktisch gemacht und
gleichsam technisiert. Auch von dieser Seite her schläft das eigentlich Wert¬
erzeugende, der unstillbare Zwang seelisch schassen zu müssen, vollständig ein.




Bekannte angelsächsische Züge, die wir als typisch englisch ansprechen, er¬
klären sich hieraus. So z. B. der unmetaphysische Hang zum Praktischen, jener
matter-ok-kaLt-Sinn, der sich bis in die Behandlung metaphysischer Dinge aus¬
dehnt, sowie der Kult des äußeren Erfolges und der amusische Geist. Die Angel¬
sachsen erscheinen uns heute als durchaus unkmistlerisch. Es wäre indessen ver¬
kehrt, wenn wir diese Charakterrichtung blotz als geradlinige Nationalerbschaft des
ehemaligen, echt europäischen Engländertums auffassen wollten.

Gerade das unkünstlerische Wesen des gegenwärtigen angelsächsischen Menschen
beweist unwiderleglich, wie mit der Einwirkung des Puritanismus etwas Neues
aufgetreten sein muß, wie diese Einwirkung entwicklungskräftige Fähigkeiten zer¬
störte und andere an ihrer Stelle hervorrief. Denn das alte englische Volk der
vorpuritaniscken Zeit ist vielleicht das am stärksten dramatisch begabte Volk in
Europa gewesen. Und es war stets lustig und sangesfroh und zu Possen auf¬
gelegt, eben das Volk von merr> viel Lnxisnä, das es heute nirgends mehr gibt.
Die ursprünglichen Anfänge der Bühnenkunst des Abendlandes, die in den Jahr¬
hunderten des späten Mittelalters aus kirchlichen Festspielen hervorgingen, hatten
dort ihre tiefste künstlerische Durchbildung erfahren; von den Engländern wurde
im sechzehnten Jahrhundert zum erstenmal in Europa der Stand der Schauspieler
als Berufsstand geschaffen, und im Zeitalter Shakespeares gab es neben Shake¬
speare eine ganze Generation von dramatischen Dichtern. Diese reichen Anlagen
wurden vom Puritanismus fast mit einem Schlage vernichtet. Schon im Jahre
1642 hatte er es durchsetzen können, daß eine Parlamentsakte sämtliche Theater¬
aufführungen verbot. Es muß etwas mehr und ganz etwas anderes gewesen
sein, ^is nur ein literaturgeschichtlicher Vorgang, daß sich das englische Dichtungs-
leben von diesem würgenden Griff nie wieder erholt hat.

Am stärksten arbeitete sich die Schwächung seelischer Wertkräfte in der Lebens-
sphäre des Sittlichen aus. Man bemerkt hier zunächst als zentrale Idee eine
unwidersprochene „Freiheit" der einzelnen um ihrer selbst willen, so wie sie da
sind und leben, und eine Selbstgefälligkeit in dieser Freiheit, welche bedeutet: die
gegebene Individualität erscheint ohne jede weitere Rechtfertigung durch einen
ethischen Höherwert, der von ihr erst verwirklicht werden sollte, als ethischer
Selbstzweck. Damit hört daS Ethische überhaupt auf, ein ständig von neuem aus¬
gegebenes Problem zu sein. Es stagniert. Aber streng folgerichtig verfällt es,
um sich in anarchischer Willensvereinzelnng aufzulösen, zu verschwinden und sich
ganz zu verflüchtigen. Dieser Selbstauflösung des Ethischen hätte die gewohn¬
heitsmäßige Unterwerfung unter das religiöse Gebot vielleicht doch nicht voll
standhalten können, wenn sich ihr nicht noch etwas anderes entgegengestemmt
haben würde. Denn an irgendeinem Punkte müssen die überlieferten religiösen
Vorschriften und der unbeschränkte Freiheitsgedanke in Kollision miteinander ge¬
raten; die ethische Erlebnisfähigkeit vermag aus sich selbst solche Kollisionen nicht


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[0151] Das angelsächsische RiNturgefühl sie überhaupt nicht ausgehalten. In dieser Weise drang auf den Puritanismus die biologische Anlage der englischen Rassenart ein, so daß sie die Synthese mit einer unerhörten Entschlossenheit durchgeführt hat. Auf dieser Synthese beruhte also ein neuer und eigentümlicher Puritanis¬ mus und mit ihm das Urgefühl des modernen Empfindens einer angelsächsischen Gesamtheitskultur. Sie ergab nämlich folgendes. Unvermittelt ergießt sich über die Tätigkeitsenergie und den geschäftlichen Sinn eine religiöse Verklärung, so daß der praktische Trieb zur Daseinsgestaltung wie von selber geheiligt erscheint: das innere Werterlebnis als solches, die seelische Umschwingung, wird von ihm nicht mehr gesucht und nicht mehr vermißt. Statt dessen durchsättigt dieser praktische Trieb die religiösen Gefühle gleichzeitig mit seinen handelnden Kräften: wie er selber geheiligt ist, so wird das Wertgefühl im Religiösen praktisch gemacht und gleichsam technisiert. Auch von dieser Seite her schläft das eigentlich Wert¬ erzeugende, der unstillbare Zwang seelisch schassen zu müssen, vollständig ein. Bekannte angelsächsische Züge, die wir als typisch englisch ansprechen, er¬ klären sich hieraus. So z. B. der unmetaphysische Hang zum Praktischen, jener matter-ok-kaLt-Sinn, der sich bis in die Behandlung metaphysischer Dinge aus¬ dehnt, sowie der Kult des äußeren Erfolges und der amusische Geist. Die Angel¬ sachsen erscheinen uns heute als durchaus unkmistlerisch. Es wäre indessen ver¬ kehrt, wenn wir diese Charakterrichtung blotz als geradlinige Nationalerbschaft des ehemaligen, echt europäischen Engländertums auffassen wollten. Gerade das unkünstlerische Wesen des gegenwärtigen angelsächsischen Menschen beweist unwiderleglich, wie mit der Einwirkung des Puritanismus etwas Neues aufgetreten sein muß, wie diese Einwirkung entwicklungskräftige Fähigkeiten zer¬ störte und andere an ihrer Stelle hervorrief. Denn das alte englische Volk der vorpuritaniscken Zeit ist vielleicht das am stärksten dramatisch begabte Volk in Europa gewesen. Und es war stets lustig und sangesfroh und zu Possen auf¬ gelegt, eben das Volk von merr> viel Lnxisnä, das es heute nirgends mehr gibt. Die ursprünglichen Anfänge der Bühnenkunst des Abendlandes, die in den Jahr¬ hunderten des späten Mittelalters aus kirchlichen Festspielen hervorgingen, hatten dort ihre tiefste künstlerische Durchbildung erfahren; von den Engländern wurde im sechzehnten Jahrhundert zum erstenmal in Europa der Stand der Schauspieler als Berufsstand geschaffen, und im Zeitalter Shakespeares gab es neben Shake¬ speare eine ganze Generation von dramatischen Dichtern. Diese reichen Anlagen wurden vom Puritanismus fast mit einem Schlage vernichtet. Schon im Jahre 1642 hatte er es durchsetzen können, daß eine Parlamentsakte sämtliche Theater¬ aufführungen verbot. Es muß etwas mehr und ganz etwas anderes gewesen sein, ^is nur ein literaturgeschichtlicher Vorgang, daß sich das englische Dichtungs- leben von diesem würgenden Griff nie wieder erholt hat. Am stärksten arbeitete sich die Schwächung seelischer Wertkräfte in der Lebens- sphäre des Sittlichen aus. Man bemerkt hier zunächst als zentrale Idee eine unwidersprochene „Freiheit" der einzelnen um ihrer selbst willen, so wie sie da sind und leben, und eine Selbstgefälligkeit in dieser Freiheit, welche bedeutet: die gegebene Individualität erscheint ohne jede weitere Rechtfertigung durch einen ethischen Höherwert, der von ihr erst verwirklicht werden sollte, als ethischer Selbstzweck. Damit hört daS Ethische überhaupt auf, ein ständig von neuem aus¬ gegebenes Problem zu sein. Es stagniert. Aber streng folgerichtig verfällt es, um sich in anarchischer Willensvereinzelnng aufzulösen, zu verschwinden und sich ganz zu verflüchtigen. Dieser Selbstauflösung des Ethischen hätte die gewohn¬ heitsmäßige Unterwerfung unter das religiöse Gebot vielleicht doch nicht voll standhalten können, wenn sich ihr nicht noch etwas anderes entgegengestemmt haben würde. Denn an irgendeinem Punkte müssen die überlieferten religiösen Vorschriften und der unbeschränkte Freiheitsgedanke in Kollision miteinander ge¬ raten; die ethische Erlebnisfähigkeit vermag aus sich selbst solche Kollisionen nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/151>, abgerufen am 23.07.2024.