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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Schwankendes im Baltikum

gemeinen vom deutschen Adel gesagt hat: "Der deutsche Junker lebt nicht wie der
russische Adlige von seinen Leuten, sondern er lebt von seinein landwirtschaftlichen
Betriebe und hat seine Leute nur soviel geknechtet, als es für den land Wirtschaft-
lichen Betrieb nötig ist." Zu Anfang der vierziger Jahre des neunzehnten Jahr-
Hunderts setzte dann von neuem eine mächtige liberale Gesetzgebung ein, die den Über¬
gang eines gewissen Teiles der gutsherrlichen Ländereien, des Bauernlandes, in
den erblichen Besitz der Bauern anbahnte, die Leistungen auf Grund freier Pacht¬
verträge normierte und Nentenbankcn errichtete, mit deren Hilfe der Prozeß der
Schaffung eines freien chemisch-lettischen Bauernwirtstandes durchgeführt worden
ist. Heute ist die Zahl der unverkauften bäuerlichen "Gesinde" eine verschwindend
geringe, höchstens in Estland ist die Entwicklung noch nicht völlig abgeschlossen. Es
ist ein gutes Zeichen für die gesunde wirtschaftliche Lage des baltischen Acker¬
baues, daß er vor dem Kriege auf ein Hektar GeWeidelandes 1141 Kilogramm
Erirag lieferte, während die gleiche Fläche im europäischen Rußland nur 785 Kilo¬
gramm lieferte. 1865/66 war der Erwerb von Rittergütern, der bisher dem Adel
vorbehalten war. freigegeben worden -- heute gibt es in allen drei Provinzen
bereits lettische und chemische Rittergutsbesitzer. Nicht zum Abschluß gekommen ist
die Regelung der Landknechte auf eigenem Boden. Aber auch dazu wäre es
zweifellos gekommen, wenn nicht Hemmungen von oben und andererseits eine
zügellose Agitation von Osten, die den sinnlosen Anspruch erhob, daß ein jeder Land
erhalten müsse -- zu wenig zum Leben, zu viel zum direkten Verhungern -- der
ruhigen Entwicklung in den Weg getreten wären. Auf diesem Wege wuchs Wohl¬
stand und Bildung der chemisch-lettischen Bevölkerung und sie begann sich aus dem
rein, agraren Zustande zu sozialen Schichtungen emporzuheben. Der Wohlstand
machte es dem Bauern möglich, in den Städten, die auch ihn lockten, Häuser zu
erwerben, wobei er durch ' sehr rührig arbeitende nationale Banken zielbewußt
unterstützt wurde. Mit dem steigenden Immobiliarbesitz in den Städten verstärkte
sich naturgemäß ihr Einfluß auf die städtische Verwaltung, die gesetzlich von den
Hausbesitzern allein ausgeübt wurde. An sich ein Vorgang, der in der Natur der
Dinge lag. Während aber bis zum Einsetzen der Rusfifizierung die deutsche Schule
ein mächtiges Mittel der freiwilligen Eindeutschung der Eingeborenen dargestellt
hatte, so daß der Aufstieg in sozial höhere Schichten zugleich unmerklich den
Übergang in das Deutschtum in sich schloß, so wurde das völlig anders, als die
zielbewußte Rusfifizierung einsetzte und der Lette und Este, vor die Wahl gestellt,
ob er sich westlicher oder östlicher Kultur anschließen sollte, für den Osten entschied,
der ihm seiner Meinung nach allein handgreifliche Vorteile, Karriere und Ämter
im Lande und im Reich gewährleistete. Die russische Regierung, deren ganze
Tendenz bewußt deutschfeindlich war, da die deutsche Gesellschaft der Provinzen
sich nach Bildung und Tradition naturgemäß der Unisormitätspolitik, d. h. der
Vernichtung des eigenen Volkstums mit allen gesetzlichen Mitteln widersetzte, baute
ihr System darauf aus, die Stärkung der Letten und Ehlen in ihren nationalen
und sozialen Instinkten zu fördern. Unter dem direkten Einfluß und der offenen
Förderung des Panslawismus ist die sogenannte junglettische und jungestnische
Bewegung entstanden. Zu einer Gefahr wurde sie aber erst, als die Staats¬
regierung sie unter ihren offenen Schutz nahm. So wuchs eine ehrgeizige
in'digere "Intelligenz" empor, Advokaten, Arzte, Beamte, auch Prediger, die im
Grunde alles, was sie besaß, der deutschen Kultur verdankte, aber von unklaren
romantischen Anschauungen über die Kulturaufgaben der Jndigenen erfüllt, einen
leidenschaftlichen Haß gegen die Deutschen auf ihr Banner schrieb. Mit der
nationalen Strömung, die einen stark demokratischen Einschlag hatte, verband sich
sehr früh eine sozialistische. Der wirtschaftliche Gegensatz zu Großgrundbesitz und
Kapital nahm unter dem Einfluß radikaler Volksschullehrer und uuter der Ein¬
wirkung russischer Hochschulen und westeuropäischer sozialdemokratischer und
revolutionärer Literatur eine immer schärfere Färbung an. Und wenn auch ein
starker Polizeidruck ein offenes Handeln der weit verzweigten und bei dem ver¬
setzten Landvolk einflußreichen Agitation hinderte, so fraß das Gift unter der


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Schwankendes im Baltikum

gemeinen vom deutschen Adel gesagt hat: „Der deutsche Junker lebt nicht wie der
russische Adlige von seinen Leuten, sondern er lebt von seinein landwirtschaftlichen
Betriebe und hat seine Leute nur soviel geknechtet, als es für den land Wirtschaft-
lichen Betrieb nötig ist." Zu Anfang der vierziger Jahre des neunzehnten Jahr-
Hunderts setzte dann von neuem eine mächtige liberale Gesetzgebung ein, die den Über¬
gang eines gewissen Teiles der gutsherrlichen Ländereien, des Bauernlandes, in
den erblichen Besitz der Bauern anbahnte, die Leistungen auf Grund freier Pacht¬
verträge normierte und Nentenbankcn errichtete, mit deren Hilfe der Prozeß der
Schaffung eines freien chemisch-lettischen Bauernwirtstandes durchgeführt worden
ist. Heute ist die Zahl der unverkauften bäuerlichen „Gesinde" eine verschwindend
geringe, höchstens in Estland ist die Entwicklung noch nicht völlig abgeschlossen. Es
ist ein gutes Zeichen für die gesunde wirtschaftliche Lage des baltischen Acker¬
baues, daß er vor dem Kriege auf ein Hektar GeWeidelandes 1141 Kilogramm
Erirag lieferte, während die gleiche Fläche im europäischen Rußland nur 785 Kilo¬
gramm lieferte. 1865/66 war der Erwerb von Rittergütern, der bisher dem Adel
vorbehalten war. freigegeben worden — heute gibt es in allen drei Provinzen
bereits lettische und chemische Rittergutsbesitzer. Nicht zum Abschluß gekommen ist
die Regelung der Landknechte auf eigenem Boden. Aber auch dazu wäre es
zweifellos gekommen, wenn nicht Hemmungen von oben und andererseits eine
zügellose Agitation von Osten, die den sinnlosen Anspruch erhob, daß ein jeder Land
erhalten müsse — zu wenig zum Leben, zu viel zum direkten Verhungern — der
ruhigen Entwicklung in den Weg getreten wären. Auf diesem Wege wuchs Wohl¬
stand und Bildung der chemisch-lettischen Bevölkerung und sie begann sich aus dem
rein, agraren Zustande zu sozialen Schichtungen emporzuheben. Der Wohlstand
machte es dem Bauern möglich, in den Städten, die auch ihn lockten, Häuser zu
erwerben, wobei er durch ' sehr rührig arbeitende nationale Banken zielbewußt
unterstützt wurde. Mit dem steigenden Immobiliarbesitz in den Städten verstärkte
sich naturgemäß ihr Einfluß auf die städtische Verwaltung, die gesetzlich von den
Hausbesitzern allein ausgeübt wurde. An sich ein Vorgang, der in der Natur der
Dinge lag. Während aber bis zum Einsetzen der Rusfifizierung die deutsche Schule
ein mächtiges Mittel der freiwilligen Eindeutschung der Eingeborenen dargestellt
hatte, so daß der Aufstieg in sozial höhere Schichten zugleich unmerklich den
Übergang in das Deutschtum in sich schloß, so wurde das völlig anders, als die
zielbewußte Rusfifizierung einsetzte und der Lette und Este, vor die Wahl gestellt,
ob er sich westlicher oder östlicher Kultur anschließen sollte, für den Osten entschied,
der ihm seiner Meinung nach allein handgreifliche Vorteile, Karriere und Ämter
im Lande und im Reich gewährleistete. Die russische Regierung, deren ganze
Tendenz bewußt deutschfeindlich war, da die deutsche Gesellschaft der Provinzen
sich nach Bildung und Tradition naturgemäß der Unisormitätspolitik, d. h. der
Vernichtung des eigenen Volkstums mit allen gesetzlichen Mitteln widersetzte, baute
ihr System darauf aus, die Stärkung der Letten und Ehlen in ihren nationalen
und sozialen Instinkten zu fördern. Unter dem direkten Einfluß und der offenen
Förderung des Panslawismus ist die sogenannte junglettische und jungestnische
Bewegung entstanden. Zu einer Gefahr wurde sie aber erst, als die Staats¬
regierung sie unter ihren offenen Schutz nahm. So wuchs eine ehrgeizige
in'digere „Intelligenz" empor, Advokaten, Arzte, Beamte, auch Prediger, die im
Grunde alles, was sie besaß, der deutschen Kultur verdankte, aber von unklaren
romantischen Anschauungen über die Kulturaufgaben der Jndigenen erfüllt, einen
leidenschaftlichen Haß gegen die Deutschen auf ihr Banner schrieb. Mit der
nationalen Strömung, die einen stark demokratischen Einschlag hatte, verband sich
sehr früh eine sozialistische. Der wirtschaftliche Gegensatz zu Großgrundbesitz und
Kapital nahm unter dem Einfluß radikaler Volksschullehrer und uuter der Ein¬
wirkung russischer Hochschulen und westeuropäischer sozialdemokratischer und
revolutionärer Literatur eine immer schärfere Färbung an. Und wenn auch ein
starker Polizeidruck ein offenes Handeln der weit verzweigten und bei dem ver¬
setzten Landvolk einflußreichen Agitation hinderte, so fraß das Gift unter der


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[0143] Schwankendes im Baltikum gemeinen vom deutschen Adel gesagt hat: „Der deutsche Junker lebt nicht wie der russische Adlige von seinen Leuten, sondern er lebt von seinein landwirtschaftlichen Betriebe und hat seine Leute nur soviel geknechtet, als es für den land Wirtschaft- lichen Betrieb nötig ist." Zu Anfang der vierziger Jahre des neunzehnten Jahr- Hunderts setzte dann von neuem eine mächtige liberale Gesetzgebung ein, die den Über¬ gang eines gewissen Teiles der gutsherrlichen Ländereien, des Bauernlandes, in den erblichen Besitz der Bauern anbahnte, die Leistungen auf Grund freier Pacht¬ verträge normierte und Nentenbankcn errichtete, mit deren Hilfe der Prozeß der Schaffung eines freien chemisch-lettischen Bauernwirtstandes durchgeführt worden ist. Heute ist die Zahl der unverkauften bäuerlichen „Gesinde" eine verschwindend geringe, höchstens in Estland ist die Entwicklung noch nicht völlig abgeschlossen. Es ist ein gutes Zeichen für die gesunde wirtschaftliche Lage des baltischen Acker¬ baues, daß er vor dem Kriege auf ein Hektar GeWeidelandes 1141 Kilogramm Erirag lieferte, während die gleiche Fläche im europäischen Rußland nur 785 Kilo¬ gramm lieferte. 1865/66 war der Erwerb von Rittergütern, der bisher dem Adel vorbehalten war. freigegeben worden — heute gibt es in allen drei Provinzen bereits lettische und chemische Rittergutsbesitzer. Nicht zum Abschluß gekommen ist die Regelung der Landknechte auf eigenem Boden. Aber auch dazu wäre es zweifellos gekommen, wenn nicht Hemmungen von oben und andererseits eine zügellose Agitation von Osten, die den sinnlosen Anspruch erhob, daß ein jeder Land erhalten müsse — zu wenig zum Leben, zu viel zum direkten Verhungern — der ruhigen Entwicklung in den Weg getreten wären. Auf diesem Wege wuchs Wohl¬ stand und Bildung der chemisch-lettischen Bevölkerung und sie begann sich aus dem rein, agraren Zustande zu sozialen Schichtungen emporzuheben. Der Wohlstand machte es dem Bauern möglich, in den Städten, die auch ihn lockten, Häuser zu erwerben, wobei er durch ' sehr rührig arbeitende nationale Banken zielbewußt unterstützt wurde. Mit dem steigenden Immobiliarbesitz in den Städten verstärkte sich naturgemäß ihr Einfluß auf die städtische Verwaltung, die gesetzlich von den Hausbesitzern allein ausgeübt wurde. An sich ein Vorgang, der in der Natur der Dinge lag. Während aber bis zum Einsetzen der Rusfifizierung die deutsche Schule ein mächtiges Mittel der freiwilligen Eindeutschung der Eingeborenen dargestellt hatte, so daß der Aufstieg in sozial höhere Schichten zugleich unmerklich den Übergang in das Deutschtum in sich schloß, so wurde das völlig anders, als die zielbewußte Rusfifizierung einsetzte und der Lette und Este, vor die Wahl gestellt, ob er sich westlicher oder östlicher Kultur anschließen sollte, für den Osten entschied, der ihm seiner Meinung nach allein handgreifliche Vorteile, Karriere und Ämter im Lande und im Reich gewährleistete. Die russische Regierung, deren ganze Tendenz bewußt deutschfeindlich war, da die deutsche Gesellschaft der Provinzen sich nach Bildung und Tradition naturgemäß der Unisormitätspolitik, d. h. der Vernichtung des eigenen Volkstums mit allen gesetzlichen Mitteln widersetzte, baute ihr System darauf aus, die Stärkung der Letten und Ehlen in ihren nationalen und sozialen Instinkten zu fördern. Unter dem direkten Einfluß und der offenen Förderung des Panslawismus ist die sogenannte junglettische und jungestnische Bewegung entstanden. Zu einer Gefahr wurde sie aber erst, als die Staats¬ regierung sie unter ihren offenen Schutz nahm. So wuchs eine ehrgeizige in'digere „Intelligenz" empor, Advokaten, Arzte, Beamte, auch Prediger, die im Grunde alles, was sie besaß, der deutschen Kultur verdankte, aber von unklaren romantischen Anschauungen über die Kulturaufgaben der Jndigenen erfüllt, einen leidenschaftlichen Haß gegen die Deutschen auf ihr Banner schrieb. Mit der nationalen Strömung, die einen stark demokratischen Einschlag hatte, verband sich sehr früh eine sozialistische. Der wirtschaftliche Gegensatz zu Großgrundbesitz und Kapital nahm unter dem Einfluß radikaler Volksschullehrer und uuter der Ein¬ wirkung russischer Hochschulen und westeuropäischer sozialdemokratischer und revolutionärer Literatur eine immer schärfere Färbung an. Und wenn auch ein starker Polizeidruck ein offenes Handeln der weit verzweigten und bei dem ver¬ setzten Landvolk einflußreichen Agitation hinderte, so fraß das Gift unter der 11*

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/143>, abgerufen am 01.07.2024.