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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Schwankendes im Baltikum

Lehrfach. Und für diese keltisch-chemische Schule hat der Großgrundbesitz -- nobleLse
obliM! -- jährlich an oder über die Hälfte der Kosten getragen, für sie Land,
Holz und Baumaterialien hergegeben. Für diese keltisch-chemische Volksschule ist
der deutsche Großgrundbesitz, vertreten durch die baltischen Landtage, unentwegt
gegenüber den Rassifikationsbestrebungen eingetreten, wie seinerzeit unter anderem
von el ner lettischen Abordnung dem verstorbenen Livländischen Landmarschall Friedrich
Baron Meyendorff gegenüber ausdrücklich anerkannt worden ist. Nicht anders
sNht^es mit der evangelischen Kirche und ihren Dienern, den Predigern. Uner¬
müdlich haben diese für keltisch-chemische Predigt, Bibelübersetzung, 'Katechismus
und Gesangbuch gesorgt, oft sind sie in der Hingabe an ihre Gemeinden fast bis
zur Aufgabe ihres eigenen Volkstums gegangen. Ist es nicht bezeichnend, daß
der kurländischs Pastor Stender in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
sich selbst die Grabschrift setzte: "Hier liegt Stender, der LeiteI" Und wer die
weitverbreiteten, auch in Deutschland bekannten kurländischen Romane von
Th. Partenius, der einem alten kurländischen Pastorengeschlecht entstammte, kennt,
sieht auch hier eine derartig ausgesprochene Vorliebe und warme Sympathie für
die lettischen Heimatgenossen zutage treten, daß sie in deutsch-baltischen Augen die
Gerechtigkeit zu verletzen scheint. Lange Jahrhunderte waren die evangelischen
Seelsorger naturgemäß nur Deutsche, vielfach ans dem Reich als "Hofmeister"
adliger Häuser eingewanderte Theologen. Als ober im Laufe der Entwicklung
in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auch lettische und chemische
Theologen ausgebildet wurden, sind diese mehr und mehr ins Pfarramt eingerückt.
Anfänglich war dabei kein Gegensatz zu den Deutschen vorhanden, im Gegenteil,
die Jedem und Ehlen, die Prediger wurden, standen dem Deutschtum innerlich so
nahe, daß sie selbst in ihren Kirchen Deutsche wurden. Später, als unter dem
Einfluß romantischer Strömungen eine grenzenlose Überschätzung der Kulturkraft
kleiner Völkerschaften um sich griff, die von ehrgeizigen Führern aus Sonder¬
interessen genährt und von der russischen Staatsregierung nach dem Grundsatze
"violete et iinvsra" mit allen Mitteln gefördert wurde, wurde die Besetzung der
Pfarrämter von keltisch-chemischer Seite zu einer Kampfparole gemacht und viel
Unfriede in das kirchliche Gemeindeleben hineingetragen. Obwohl nun aber viel¬
fach die Wahl der Prediger gesetzmäßig den eingepfarrten Gutsbesitzern als
Patronen zustand -- ein Verhältnis, das unangefochten auch in Deutschland bis
auf den heutigen Tag vorkommt -- so haben die deutschen Patrone in sehr zahl¬
reichen Fällen freiwillig von ihrem Recht keinen Gebrauch gemacht und die Wahlen
durch die Gemeinden vornehmen lassen. Vielfach haben Patrone aber auch bei
Ausübung ihres Wahlrechtes den Wünschen der Gemeinden Rechnung getragen
und von sich aus statt Deutsche Letten und Ehlen berufen. Der estländische Land¬
tag hat kurz vor dem Kriege die völlige Verzichtleistung auf das Patronat aus¬
gesprochen. So erklärt es sich, daß tatsächlich eine sehr große Anzahl von Pfarren,
besonders in Livland, in chemisch-lettischen Händen sind, es lettische und chemische
Pröpste gibt und in einzelnen Kreisen die Deutschen fast ganz aus dem Pfarramt
verschwunden sind.

Von der agraren Entwicklung kann hier im einzelnen nicht gesprochen
werden. Tatsache ist, daß, wenn auch ein nationaler und zugleich sozialer
Gegensatz auf dem ackerbautreibenden Boden durch die Geschichte des Landes
bedingt sein mag, und wie in ganz Westeuropa auch bei uns die Hörigkeit und
Frohnde bestanden, der baltische Bauer unter dem Einfluß der Livland ergreifenden
"Aufklärung", in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine erheb¬
liche Besserung seines Loses erfuhr, ja, daß baltische Edelleute mit zu den ersten
gehörten, die ihren Bauern ihr Schicksal erleichterten. Es geschah das trotz des
heftigen Widerstandes der russischen Negierung. die davon eine Rückwirkung auf
die eigenen Bauern befürchtete. Ist die endgültige Aufhebung der Leibeigenschaft
in Rußland doch auch erst 1861 erfolgt, während die Reformen in Liv-, Est- und
Kurland 1804 einsetzten und 1816--1819 ihren vorläufigen Abschluß fanden. Es
erwies sich auch bei uns damals als richtig, was ein deutscher Historiker im all-


Schwankendes im Baltikum

Lehrfach. Und für diese keltisch-chemische Schule hat der Großgrundbesitz — nobleLse
obliM! — jährlich an oder über die Hälfte der Kosten getragen, für sie Land,
Holz und Baumaterialien hergegeben. Für diese keltisch-chemische Volksschule ist
der deutsche Großgrundbesitz, vertreten durch die baltischen Landtage, unentwegt
gegenüber den Rassifikationsbestrebungen eingetreten, wie seinerzeit unter anderem
von el ner lettischen Abordnung dem verstorbenen Livländischen Landmarschall Friedrich
Baron Meyendorff gegenüber ausdrücklich anerkannt worden ist. Nicht anders
sNht^es mit der evangelischen Kirche und ihren Dienern, den Predigern. Uner¬
müdlich haben diese für keltisch-chemische Predigt, Bibelübersetzung, 'Katechismus
und Gesangbuch gesorgt, oft sind sie in der Hingabe an ihre Gemeinden fast bis
zur Aufgabe ihres eigenen Volkstums gegangen. Ist es nicht bezeichnend, daß
der kurländischs Pastor Stender in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
sich selbst die Grabschrift setzte: „Hier liegt Stender, der LeiteI" Und wer die
weitverbreiteten, auch in Deutschland bekannten kurländischen Romane von
Th. Partenius, der einem alten kurländischen Pastorengeschlecht entstammte, kennt,
sieht auch hier eine derartig ausgesprochene Vorliebe und warme Sympathie für
die lettischen Heimatgenossen zutage treten, daß sie in deutsch-baltischen Augen die
Gerechtigkeit zu verletzen scheint. Lange Jahrhunderte waren die evangelischen
Seelsorger naturgemäß nur Deutsche, vielfach ans dem Reich als „Hofmeister"
adliger Häuser eingewanderte Theologen. Als ober im Laufe der Entwicklung
in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auch lettische und chemische
Theologen ausgebildet wurden, sind diese mehr und mehr ins Pfarramt eingerückt.
Anfänglich war dabei kein Gegensatz zu den Deutschen vorhanden, im Gegenteil,
die Jedem und Ehlen, die Prediger wurden, standen dem Deutschtum innerlich so
nahe, daß sie selbst in ihren Kirchen Deutsche wurden. Später, als unter dem
Einfluß romantischer Strömungen eine grenzenlose Überschätzung der Kulturkraft
kleiner Völkerschaften um sich griff, die von ehrgeizigen Führern aus Sonder¬
interessen genährt und von der russischen Staatsregierung nach dem Grundsatze
„violete et iinvsra" mit allen Mitteln gefördert wurde, wurde die Besetzung der
Pfarrämter von keltisch-chemischer Seite zu einer Kampfparole gemacht und viel
Unfriede in das kirchliche Gemeindeleben hineingetragen. Obwohl nun aber viel¬
fach die Wahl der Prediger gesetzmäßig den eingepfarrten Gutsbesitzern als
Patronen zustand — ein Verhältnis, das unangefochten auch in Deutschland bis
auf den heutigen Tag vorkommt — so haben die deutschen Patrone in sehr zahl¬
reichen Fällen freiwillig von ihrem Recht keinen Gebrauch gemacht und die Wahlen
durch die Gemeinden vornehmen lassen. Vielfach haben Patrone aber auch bei
Ausübung ihres Wahlrechtes den Wünschen der Gemeinden Rechnung getragen
und von sich aus statt Deutsche Letten und Ehlen berufen. Der estländische Land¬
tag hat kurz vor dem Kriege die völlige Verzichtleistung auf das Patronat aus¬
gesprochen. So erklärt es sich, daß tatsächlich eine sehr große Anzahl von Pfarren,
besonders in Livland, in chemisch-lettischen Händen sind, es lettische und chemische
Pröpste gibt und in einzelnen Kreisen die Deutschen fast ganz aus dem Pfarramt
verschwunden sind.

Von der agraren Entwicklung kann hier im einzelnen nicht gesprochen
werden. Tatsache ist, daß, wenn auch ein nationaler und zugleich sozialer
Gegensatz auf dem ackerbautreibenden Boden durch die Geschichte des Landes
bedingt sein mag, und wie in ganz Westeuropa auch bei uns die Hörigkeit und
Frohnde bestanden, der baltische Bauer unter dem Einfluß der Livland ergreifenden
„Aufklärung", in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine erheb¬
liche Besserung seines Loses erfuhr, ja, daß baltische Edelleute mit zu den ersten
gehörten, die ihren Bauern ihr Schicksal erleichterten. Es geschah das trotz des
heftigen Widerstandes der russischen Negierung. die davon eine Rückwirkung auf
die eigenen Bauern befürchtete. Ist die endgültige Aufhebung der Leibeigenschaft
in Rußland doch auch erst 1861 erfolgt, während die Reformen in Liv-, Est- und
Kurland 1804 einsetzten und 1816—1819 ihren vorläufigen Abschluß fanden. Es
erwies sich auch bei uns damals als richtig, was ein deutscher Historiker im all-


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[0142] Schwankendes im Baltikum Lehrfach. Und für diese keltisch-chemische Schule hat der Großgrundbesitz — nobleLse obliM! — jährlich an oder über die Hälfte der Kosten getragen, für sie Land, Holz und Baumaterialien hergegeben. Für diese keltisch-chemische Volksschule ist der deutsche Großgrundbesitz, vertreten durch die baltischen Landtage, unentwegt gegenüber den Rassifikationsbestrebungen eingetreten, wie seinerzeit unter anderem von el ner lettischen Abordnung dem verstorbenen Livländischen Landmarschall Friedrich Baron Meyendorff gegenüber ausdrücklich anerkannt worden ist. Nicht anders sNht^es mit der evangelischen Kirche und ihren Dienern, den Predigern. Uner¬ müdlich haben diese für keltisch-chemische Predigt, Bibelübersetzung, 'Katechismus und Gesangbuch gesorgt, oft sind sie in der Hingabe an ihre Gemeinden fast bis zur Aufgabe ihres eigenen Volkstums gegangen. Ist es nicht bezeichnend, daß der kurländischs Pastor Stender in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sich selbst die Grabschrift setzte: „Hier liegt Stender, der LeiteI" Und wer die weitverbreiteten, auch in Deutschland bekannten kurländischen Romane von Th. Partenius, der einem alten kurländischen Pastorengeschlecht entstammte, kennt, sieht auch hier eine derartig ausgesprochene Vorliebe und warme Sympathie für die lettischen Heimatgenossen zutage treten, daß sie in deutsch-baltischen Augen die Gerechtigkeit zu verletzen scheint. Lange Jahrhunderte waren die evangelischen Seelsorger naturgemäß nur Deutsche, vielfach ans dem Reich als „Hofmeister" adliger Häuser eingewanderte Theologen. Als ober im Laufe der Entwicklung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auch lettische und chemische Theologen ausgebildet wurden, sind diese mehr und mehr ins Pfarramt eingerückt. Anfänglich war dabei kein Gegensatz zu den Deutschen vorhanden, im Gegenteil, die Jedem und Ehlen, die Prediger wurden, standen dem Deutschtum innerlich so nahe, daß sie selbst in ihren Kirchen Deutsche wurden. Später, als unter dem Einfluß romantischer Strömungen eine grenzenlose Überschätzung der Kulturkraft kleiner Völkerschaften um sich griff, die von ehrgeizigen Führern aus Sonder¬ interessen genährt und von der russischen Staatsregierung nach dem Grundsatze „violete et iinvsra" mit allen Mitteln gefördert wurde, wurde die Besetzung der Pfarrämter von keltisch-chemischer Seite zu einer Kampfparole gemacht und viel Unfriede in das kirchliche Gemeindeleben hineingetragen. Obwohl nun aber viel¬ fach die Wahl der Prediger gesetzmäßig den eingepfarrten Gutsbesitzern als Patronen zustand — ein Verhältnis, das unangefochten auch in Deutschland bis auf den heutigen Tag vorkommt — so haben die deutschen Patrone in sehr zahl¬ reichen Fällen freiwillig von ihrem Recht keinen Gebrauch gemacht und die Wahlen durch die Gemeinden vornehmen lassen. Vielfach haben Patrone aber auch bei Ausübung ihres Wahlrechtes den Wünschen der Gemeinden Rechnung getragen und von sich aus statt Deutsche Letten und Ehlen berufen. Der estländische Land¬ tag hat kurz vor dem Kriege die völlige Verzichtleistung auf das Patronat aus¬ gesprochen. So erklärt es sich, daß tatsächlich eine sehr große Anzahl von Pfarren, besonders in Livland, in chemisch-lettischen Händen sind, es lettische und chemische Pröpste gibt und in einzelnen Kreisen die Deutschen fast ganz aus dem Pfarramt verschwunden sind. Von der agraren Entwicklung kann hier im einzelnen nicht gesprochen werden. Tatsache ist, daß, wenn auch ein nationaler und zugleich sozialer Gegensatz auf dem ackerbautreibenden Boden durch die Geschichte des Landes bedingt sein mag, und wie in ganz Westeuropa auch bei uns die Hörigkeit und Frohnde bestanden, der baltische Bauer unter dem Einfluß der Livland ergreifenden „Aufklärung", in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine erheb¬ liche Besserung seines Loses erfuhr, ja, daß baltische Edelleute mit zu den ersten gehörten, die ihren Bauern ihr Schicksal erleichterten. Es geschah das trotz des heftigen Widerstandes der russischen Negierung. die davon eine Rückwirkung auf die eigenen Bauern befürchtete. Ist die endgültige Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland doch auch erst 1861 erfolgt, während die Reformen in Liv-, Est- und Kurland 1804 einsetzten und 1816—1819 ihren vorläufigen Abschluß fanden. Es erwies sich auch bei uns damals als richtig, was ein deutscher Historiker im all-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/142>, abgerufen am 29.06.2024.