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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Die Einheit misercr Nntionalbildung

humanen Bildungsideal ihr gemeinsames Ziel haben. Freilich wäre auch sonst
eine innere Annäherung der verschiedenen Schulgattungen anzustreben. Dem
Gymnasium müßten die Naturwissenschaften, insbesondere auch die Biologie wich¬
tiger, d. h. eindrucksvoller werden -- was ohne Vermehrung der Stundenzahl
sehr wohl zu erreichen ist. Vor allem aber müßten die "realen" Anstalten --
dieser häßliche und irreführende None! -- ihren Schülern tiefere Einblicke in
den Geist des klassischen Altertums eröffnen. Es ist an der Zeit, daß dem Vor¬
urteile, wir Hütten zwei Kategorien von Sckulen: ideal und real gerichtete, der
Boden entzogen wird. Wahre Bildung ist ideal und real zugleich, oder sie ist
überhaupt keine Bildung. Eine stärkere Berücksichtigung der antiken Kultur an
den Nealanstalten fordert wiederum keine Veränderung des Lehrplanes. Es ist
ein großer Irrtum, zu glauben, daß alles, was die Schule bietet, im systematischen
Lehrgang und methodischen Zusammenhange "durchgenommen" werden müsse.
Man vergißt, daß gerade der einzelne, aus dem gewöhnlichen Vorlaufe heraus¬
fallende Eindruck wie alles Neue sich besonders scharf einprägt und zum Erlebnis
wird. Solchen pädagogischen "Impressionismus" sollte man mehr pflegen. Durch
einzelne wirkungsvolle Vorträge über Sokrates, Plato, Sophokles, griechische Lyrik,
bildende Kunst'und Weltanschauung -- sei es des Lehrers oder eines begabten
Schülers -- würde vielleicht mehr erreicht, als wenn man daraus einen "Lehr¬
stoff" machte. So könnte mancher Realgymnasiast oder Oberrealschüler vielleicht
von der Antigone, einem Abschnitt des Phädon oder des Symposion mehr Gewinn
haben als ein Gymnasiast, der sich auf den Dornenpfaden der griechischen Gram¬
matik gar nicht bis zum genußreichen Verständnis der schwierigen Werke durch¬
zuarbeiten vermag. Jedenfalls würden sich auf diese Weise die verschiedenen
Bildungswege, statt immer weiter auseinander zu führen, wieder etwas nähern.

Das gemeinsame Bildungsideal aber, das uns hier vorschwebt, wird nicht
nur ein Bindeglied zwischen den verschiedenen Schulgattungen sein, sondern auch
innerhalb des Unterrichts selbst die so sehr vermißte Einheit fördern können. An
Stelle des Enzyklopädischen, das unserem Schulbetriebe immer noch anhaftet, wäre
hier ein trotz seiner umfassenden Weite dennoch geschlossenes Geistesgebiet gegeben,
in das sich das Denken der Jugend jahrelang einleben könnte, eine Lebens- und
Weltauffassung, die nicht Erzeugnis reiner Denkbcwegung, sondern dem Ringen
mit der Wirklichkeit des Lebens selbst entwachsen ist. Namentlich würde auch die
philosophische Belehrung, die sonst so leicht in der Lust schwebt, hier ihren natür¬
lichen Anknüpfungspunkt finden. Die Geisteswelt Schillers und Goethes ist ohne
jede philosophische Kenntnis überhaupt nicht zu verstehen, zum mindesten Goethe
nicht ohne Spinoza. Schiller nicht ohne Kant. Ferner müßten Betrachtungen
über Kunst und Ästhetik von hier ausgehen. Statt Lessings Schriften, die in¬
haltlich heute ganz veraltet sind und nur von einem auf dem Gebiete der Ästhetik
sehr bewanderten Lehrer ohne Schaden behandelt werden können, müßten die
Ansichten Goethes und Schillers zugrunde gelegt werden, die in wesentlichen
Punkten noch in voller Geltung sind. Übrigens sollten gerade die Nealanstalten
darauf Wert legen, das System ihrer Einzelwissenschaftcn, in denen die praktisch
reale Richtung sich leicht vordrängen kann, philosophisch zu begründen und zu
überbauen.

Freilich nun das Leterum Lensco. das heute allen Erwägungen über Schul¬
fragen beigefügt werden muß: Vorbedingung für jede Umwandlung des bisherigen
Verfahrens ist eine geeignetere Vorbildung der Lehrer. Deutschlehrer, die wesentlich
"germanistisch" vorbereitet und Goethe und Schiller nur vom philologischen Stand¬
punkt aus näher getreten sind, werden niemals fähig sein, die Persönlichkeit der
Dichter, geschweige denn ihre Lebensgestaltung und ihre geistige Welt zu verstehen.
Es müßte demnach von jedem, der Deutsch in den Oberklassen geben will, ein
gewisses Maß philosophischer Kenntnisse gefordert werden, und War nicht einer
jener beliebten "Überblicke" über Logik und Psychologie, sondern ein wirklicher
Einblick in die philosophischen Ideen, die als ein wesentliches Element unsere
neuere Dichtung von Lessing und Herder bis zu Hebbel durchströmen. Deutsche


Die Einheit misercr Nntionalbildung

humanen Bildungsideal ihr gemeinsames Ziel haben. Freilich wäre auch sonst
eine innere Annäherung der verschiedenen Schulgattungen anzustreben. Dem
Gymnasium müßten die Naturwissenschaften, insbesondere auch die Biologie wich¬
tiger, d. h. eindrucksvoller werden — was ohne Vermehrung der Stundenzahl
sehr wohl zu erreichen ist. Vor allem aber müßten die „realen" Anstalten —
dieser häßliche und irreführende None! — ihren Schülern tiefere Einblicke in
den Geist des klassischen Altertums eröffnen. Es ist an der Zeit, daß dem Vor¬
urteile, wir Hütten zwei Kategorien von Sckulen: ideal und real gerichtete, der
Boden entzogen wird. Wahre Bildung ist ideal und real zugleich, oder sie ist
überhaupt keine Bildung. Eine stärkere Berücksichtigung der antiken Kultur an
den Nealanstalten fordert wiederum keine Veränderung des Lehrplanes. Es ist
ein großer Irrtum, zu glauben, daß alles, was die Schule bietet, im systematischen
Lehrgang und methodischen Zusammenhange „durchgenommen" werden müsse.
Man vergißt, daß gerade der einzelne, aus dem gewöhnlichen Vorlaufe heraus¬
fallende Eindruck wie alles Neue sich besonders scharf einprägt und zum Erlebnis
wird. Solchen pädagogischen „Impressionismus" sollte man mehr pflegen. Durch
einzelne wirkungsvolle Vorträge über Sokrates, Plato, Sophokles, griechische Lyrik,
bildende Kunst'und Weltanschauung — sei es des Lehrers oder eines begabten
Schülers — würde vielleicht mehr erreicht, als wenn man daraus einen „Lehr¬
stoff" machte. So könnte mancher Realgymnasiast oder Oberrealschüler vielleicht
von der Antigone, einem Abschnitt des Phädon oder des Symposion mehr Gewinn
haben als ein Gymnasiast, der sich auf den Dornenpfaden der griechischen Gram¬
matik gar nicht bis zum genußreichen Verständnis der schwierigen Werke durch¬
zuarbeiten vermag. Jedenfalls würden sich auf diese Weise die verschiedenen
Bildungswege, statt immer weiter auseinander zu führen, wieder etwas nähern.

Das gemeinsame Bildungsideal aber, das uns hier vorschwebt, wird nicht
nur ein Bindeglied zwischen den verschiedenen Schulgattungen sein, sondern auch
innerhalb des Unterrichts selbst die so sehr vermißte Einheit fördern können. An
Stelle des Enzyklopädischen, das unserem Schulbetriebe immer noch anhaftet, wäre
hier ein trotz seiner umfassenden Weite dennoch geschlossenes Geistesgebiet gegeben,
in das sich das Denken der Jugend jahrelang einleben könnte, eine Lebens- und
Weltauffassung, die nicht Erzeugnis reiner Denkbcwegung, sondern dem Ringen
mit der Wirklichkeit des Lebens selbst entwachsen ist. Namentlich würde auch die
philosophische Belehrung, die sonst so leicht in der Lust schwebt, hier ihren natür¬
lichen Anknüpfungspunkt finden. Die Geisteswelt Schillers und Goethes ist ohne
jede philosophische Kenntnis überhaupt nicht zu verstehen, zum mindesten Goethe
nicht ohne Spinoza. Schiller nicht ohne Kant. Ferner müßten Betrachtungen
über Kunst und Ästhetik von hier ausgehen. Statt Lessings Schriften, die in¬
haltlich heute ganz veraltet sind und nur von einem auf dem Gebiete der Ästhetik
sehr bewanderten Lehrer ohne Schaden behandelt werden können, müßten die
Ansichten Goethes und Schillers zugrunde gelegt werden, die in wesentlichen
Punkten noch in voller Geltung sind. Übrigens sollten gerade die Nealanstalten
darauf Wert legen, das System ihrer Einzelwissenschaftcn, in denen die praktisch
reale Richtung sich leicht vordrängen kann, philosophisch zu begründen und zu
überbauen.

Freilich nun das Leterum Lensco. das heute allen Erwägungen über Schul¬
fragen beigefügt werden muß: Vorbedingung für jede Umwandlung des bisherigen
Verfahrens ist eine geeignetere Vorbildung der Lehrer. Deutschlehrer, die wesentlich
„germanistisch" vorbereitet und Goethe und Schiller nur vom philologischen Stand¬
punkt aus näher getreten sind, werden niemals fähig sein, die Persönlichkeit der
Dichter, geschweige denn ihre Lebensgestaltung und ihre geistige Welt zu verstehen.
Es müßte demnach von jedem, der Deutsch in den Oberklassen geben will, ein
gewisses Maß philosophischer Kenntnisse gefordert werden, und War nicht einer
jener beliebten „Überblicke" über Logik und Psychologie, sondern ein wirklicher
Einblick in die philosophischen Ideen, die als ein wesentliches Element unsere
neuere Dichtung von Lessing und Herder bis zu Hebbel durchströmen. Deutsche


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[0032] Die Einheit misercr Nntionalbildung humanen Bildungsideal ihr gemeinsames Ziel haben. Freilich wäre auch sonst eine innere Annäherung der verschiedenen Schulgattungen anzustreben. Dem Gymnasium müßten die Naturwissenschaften, insbesondere auch die Biologie wich¬ tiger, d. h. eindrucksvoller werden — was ohne Vermehrung der Stundenzahl sehr wohl zu erreichen ist. Vor allem aber müßten die „realen" Anstalten — dieser häßliche und irreführende None! — ihren Schülern tiefere Einblicke in den Geist des klassischen Altertums eröffnen. Es ist an der Zeit, daß dem Vor¬ urteile, wir Hütten zwei Kategorien von Sckulen: ideal und real gerichtete, der Boden entzogen wird. Wahre Bildung ist ideal und real zugleich, oder sie ist überhaupt keine Bildung. Eine stärkere Berücksichtigung der antiken Kultur an den Nealanstalten fordert wiederum keine Veränderung des Lehrplanes. Es ist ein großer Irrtum, zu glauben, daß alles, was die Schule bietet, im systematischen Lehrgang und methodischen Zusammenhange „durchgenommen" werden müsse. Man vergißt, daß gerade der einzelne, aus dem gewöhnlichen Vorlaufe heraus¬ fallende Eindruck wie alles Neue sich besonders scharf einprägt und zum Erlebnis wird. Solchen pädagogischen „Impressionismus" sollte man mehr pflegen. Durch einzelne wirkungsvolle Vorträge über Sokrates, Plato, Sophokles, griechische Lyrik, bildende Kunst'und Weltanschauung — sei es des Lehrers oder eines begabten Schülers — würde vielleicht mehr erreicht, als wenn man daraus einen „Lehr¬ stoff" machte. So könnte mancher Realgymnasiast oder Oberrealschüler vielleicht von der Antigone, einem Abschnitt des Phädon oder des Symposion mehr Gewinn haben als ein Gymnasiast, der sich auf den Dornenpfaden der griechischen Gram¬ matik gar nicht bis zum genußreichen Verständnis der schwierigen Werke durch¬ zuarbeiten vermag. Jedenfalls würden sich auf diese Weise die verschiedenen Bildungswege, statt immer weiter auseinander zu führen, wieder etwas nähern. Das gemeinsame Bildungsideal aber, das uns hier vorschwebt, wird nicht nur ein Bindeglied zwischen den verschiedenen Schulgattungen sein, sondern auch innerhalb des Unterrichts selbst die so sehr vermißte Einheit fördern können. An Stelle des Enzyklopädischen, das unserem Schulbetriebe immer noch anhaftet, wäre hier ein trotz seiner umfassenden Weite dennoch geschlossenes Geistesgebiet gegeben, in das sich das Denken der Jugend jahrelang einleben könnte, eine Lebens- und Weltauffassung, die nicht Erzeugnis reiner Denkbcwegung, sondern dem Ringen mit der Wirklichkeit des Lebens selbst entwachsen ist. Namentlich würde auch die philosophische Belehrung, die sonst so leicht in der Lust schwebt, hier ihren natür¬ lichen Anknüpfungspunkt finden. Die Geisteswelt Schillers und Goethes ist ohne jede philosophische Kenntnis überhaupt nicht zu verstehen, zum mindesten Goethe nicht ohne Spinoza. Schiller nicht ohne Kant. Ferner müßten Betrachtungen über Kunst und Ästhetik von hier ausgehen. Statt Lessings Schriften, die in¬ haltlich heute ganz veraltet sind und nur von einem auf dem Gebiete der Ästhetik sehr bewanderten Lehrer ohne Schaden behandelt werden können, müßten die Ansichten Goethes und Schillers zugrunde gelegt werden, die in wesentlichen Punkten noch in voller Geltung sind. Übrigens sollten gerade die Nealanstalten darauf Wert legen, das System ihrer Einzelwissenschaftcn, in denen die praktisch reale Richtung sich leicht vordrängen kann, philosophisch zu begründen und zu überbauen. Freilich nun das Leterum Lensco. das heute allen Erwägungen über Schul¬ fragen beigefügt werden muß: Vorbedingung für jede Umwandlung des bisherigen Verfahrens ist eine geeignetere Vorbildung der Lehrer. Deutschlehrer, die wesentlich „germanistisch" vorbereitet und Goethe und Schiller nur vom philologischen Stand¬ punkt aus näher getreten sind, werden niemals fähig sein, die Persönlichkeit der Dichter, geschweige denn ihre Lebensgestaltung und ihre geistige Welt zu verstehen. Es müßte demnach von jedem, der Deutsch in den Oberklassen geben will, ein gewisses Maß philosophischer Kenntnisse gefordert werden, und War nicht einer jener beliebten „Überblicke" über Logik und Psychologie, sondern ein wirklicher Einblick in die philosophischen Ideen, die als ein wesentliches Element unsere neuere Dichtung von Lessing und Herder bis zu Hebbel durchströmen. Deutsche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/32>, abgerufen am 22.07.2024.