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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Reform des Wahlverfahrens

fähigen Männern eine Auswahl zu treffen, sondern muß für den einen, den die
Parteileitung gerade in meinem Wahlkreis aufzustellen beliebt hat, stimmen; wenn
ich einen anderen Namen aus meinen Stimmzettel schreibe, so ist das wirkungslos
und kommt praktisch einem Verzicht aus mein Wahlrecht gleich. Vielleicht stellt
die Parteileitung den Mann meines Vertrauens in einem anderen Wahlkreis auf,
vielleicht auch nicht, und in letzterem Fall wird ihm der Zugang zum Parlament
verschlossen, wiewohl vielleicht tausende von Wählern gerade so wie ich in ihm
den würdigsten Vertreter sehen; tausende von Wählern, die aber, weil über das
ganze Land verstreut, in keinem einzelnen Wahlkreis die lokale Majorität besitzen
und daher nirgends mit Erfolg ihren Kandidaten aufstellen können. Und selbst
wenn sie dieselbe besäßen, wäre es zweifelhaft, ob es einer improvisierten Ver¬
einigung von Wählern gelingen würde, der altorganisierten Macht der Partei und
ihrem eingespielten Wahlwerbeapparat gegenüber durchzudringen. Denn Tatsache
ist, daß die großen Parteileitungen sast überall das Monopol der Kandidatenauf¬
stellung besitzen, daß sie in weitgehendsten Maße vermöge der in ihrer Hand ver¬
einigten Agitationsmittel die Wähler beherrschen und kommandieren und den¬
jenigen Politikern, die ihnen nicht passen, die Pforten der Volksvertretung
verschließen. Ich brauche bloß die Namen des Freisinnigen Naumann, des Kon¬
servativen Grafen Posadowsky. des Sozialdemokraten Bernstein zu nennen und
an die Hemmnisse zu erinnern, welche diese Männer, obgleich bereits anerkannte
politische Führer, auf dem Weg ins Parlament fanden, weil sie sich nicht be¬
dingungslos in ein Parteischema fügen wollten. Ein über oder zwischen den
Parteien stehender politischer Kopf, wenn er nicht etwa zugleich eine lokale Größe
ist, hat keine Aussicht gewählt zu werden.

Es ist also eine doppelte Ungerechtigkeit, an welcher das gewöhnliche Mehr¬
heitswahlverfahren krankt: erstens eine solche gegenüber den Parteien, da von den
mehreren, die sich im Wahlkreis gegenüberstehen und Kandidaten aufstellen, nur
eine den Sieg davonträgt und den Abgeordnetensitz erhält, und zweitens gegen¬
über den Wählern und Kandidaten innerhalb der Partei, welche dem Belieben der
Parteileitung ausgeliefert werden, die, vermöge ihres Monopoles der Kandidaten¬
benennung. Wählern und zu Wählenden ihren Willen vorschreibt. Die erstere
Ungerechtigkeit wird durch die Verhältniswahl wirksam bekämpft. Sie läßt eine
größere Anzahl von Sitzen in einem einzigen großen Wahlkreis vergeben und
verteilt diese auf die einzelnen Parteien derart, daß sie von jeder Parteiliste der
Reihe nach so viele Bewerber zu Abgeordneten beruft, als der Gesamtzahl der
auf die Parteiliste entfallenden Stimmen entspricht. So verhilft sie wenigstens
jeder größeren Partei zu einer angemessenen Vertretung.

Die zweite Ungerechtigkeit aber wird durch die Verhältniswahl keineswegs
beseitigt, im Gegenteil vielleicht eher verschlimmert. Denn je größer der Wahlkreis
ist. um so größer und komplizierter ist der Apparat, dessen es bedarf, um ihn mit
Erfolg zu bearbeiten, um so weniger Aussicht hat eine sich neu bildende, unab¬
hängige Wählergruppe, neben den großen, altbefestigten Parteien sich durchzusetzen.
Diese Bevormundung der Wähler und Kandidaten durch die Parteileitung ist von
den Anhängern der Verhältniswahl selber als die große Schattenseite ihres Systems
empfunden worden, und sie haben seit lange auf Mittel gesonnen, um den
einzelnen Wähler von der Bindung an die Parteiliste frei zu machen. Ein solches
Mittel besteht zum Beispiel darin, daß man den Wähler erstens für eine Partei¬
liste und zweitens für einen bestimmten Namen innerhalb dieser Liste sich erklären
läßt, und dann die Reihenfolge, nach der die Parteikandidaten zu Abgeordneten
berufen werden, nach der Zahl der den einzelnen Parteikandidaten zugefallenen
persönlichen Stimmen feststellt ohne Rücksicht auf die von der Parteileitung fest¬
gesetzte Rangordnung. Oder man gestattet dem Wähler, auf der Parteiliste Ände-
rungen vorzunehmen, einzelne Kandidaten zu streichen, hinzuzufügen, zu bevor¬
zugen. Endlich gestattet man kleinen Parteien, sich mit anderen derart zu verbinden,
daß ihre Stimmen, falls sie zur Erlangung eines eigenen Vertreters nicht aus¬
reichen, wenigstens einer nahestehenden Partei zugute kommen.


Reform des Wahlverfahrens

fähigen Männern eine Auswahl zu treffen, sondern muß für den einen, den die
Parteileitung gerade in meinem Wahlkreis aufzustellen beliebt hat, stimmen; wenn
ich einen anderen Namen aus meinen Stimmzettel schreibe, so ist das wirkungslos
und kommt praktisch einem Verzicht aus mein Wahlrecht gleich. Vielleicht stellt
die Parteileitung den Mann meines Vertrauens in einem anderen Wahlkreis auf,
vielleicht auch nicht, und in letzterem Fall wird ihm der Zugang zum Parlament
verschlossen, wiewohl vielleicht tausende von Wählern gerade so wie ich in ihm
den würdigsten Vertreter sehen; tausende von Wählern, die aber, weil über das
ganze Land verstreut, in keinem einzelnen Wahlkreis die lokale Majorität besitzen
und daher nirgends mit Erfolg ihren Kandidaten aufstellen können. Und selbst
wenn sie dieselbe besäßen, wäre es zweifelhaft, ob es einer improvisierten Ver¬
einigung von Wählern gelingen würde, der altorganisierten Macht der Partei und
ihrem eingespielten Wahlwerbeapparat gegenüber durchzudringen. Denn Tatsache
ist, daß die großen Parteileitungen sast überall das Monopol der Kandidatenauf¬
stellung besitzen, daß sie in weitgehendsten Maße vermöge der in ihrer Hand ver¬
einigten Agitationsmittel die Wähler beherrschen und kommandieren und den¬
jenigen Politikern, die ihnen nicht passen, die Pforten der Volksvertretung
verschließen. Ich brauche bloß die Namen des Freisinnigen Naumann, des Kon¬
servativen Grafen Posadowsky. des Sozialdemokraten Bernstein zu nennen und
an die Hemmnisse zu erinnern, welche diese Männer, obgleich bereits anerkannte
politische Führer, auf dem Weg ins Parlament fanden, weil sie sich nicht be¬
dingungslos in ein Parteischema fügen wollten. Ein über oder zwischen den
Parteien stehender politischer Kopf, wenn er nicht etwa zugleich eine lokale Größe
ist, hat keine Aussicht gewählt zu werden.

Es ist also eine doppelte Ungerechtigkeit, an welcher das gewöhnliche Mehr¬
heitswahlverfahren krankt: erstens eine solche gegenüber den Parteien, da von den
mehreren, die sich im Wahlkreis gegenüberstehen und Kandidaten aufstellen, nur
eine den Sieg davonträgt und den Abgeordnetensitz erhält, und zweitens gegen¬
über den Wählern und Kandidaten innerhalb der Partei, welche dem Belieben der
Parteileitung ausgeliefert werden, die, vermöge ihres Monopoles der Kandidaten¬
benennung. Wählern und zu Wählenden ihren Willen vorschreibt. Die erstere
Ungerechtigkeit wird durch die Verhältniswahl wirksam bekämpft. Sie läßt eine
größere Anzahl von Sitzen in einem einzigen großen Wahlkreis vergeben und
verteilt diese auf die einzelnen Parteien derart, daß sie von jeder Parteiliste der
Reihe nach so viele Bewerber zu Abgeordneten beruft, als der Gesamtzahl der
auf die Parteiliste entfallenden Stimmen entspricht. So verhilft sie wenigstens
jeder größeren Partei zu einer angemessenen Vertretung.

Die zweite Ungerechtigkeit aber wird durch die Verhältniswahl keineswegs
beseitigt, im Gegenteil vielleicht eher verschlimmert. Denn je größer der Wahlkreis
ist. um so größer und komplizierter ist der Apparat, dessen es bedarf, um ihn mit
Erfolg zu bearbeiten, um so weniger Aussicht hat eine sich neu bildende, unab¬
hängige Wählergruppe, neben den großen, altbefestigten Parteien sich durchzusetzen.
Diese Bevormundung der Wähler und Kandidaten durch die Parteileitung ist von
den Anhängern der Verhältniswahl selber als die große Schattenseite ihres Systems
empfunden worden, und sie haben seit lange auf Mittel gesonnen, um den
einzelnen Wähler von der Bindung an die Parteiliste frei zu machen. Ein solches
Mittel besteht zum Beispiel darin, daß man den Wähler erstens für eine Partei¬
liste und zweitens für einen bestimmten Namen innerhalb dieser Liste sich erklären
läßt, und dann die Reihenfolge, nach der die Parteikandidaten zu Abgeordneten
berufen werden, nach der Zahl der den einzelnen Parteikandidaten zugefallenen
persönlichen Stimmen feststellt ohne Rücksicht auf die von der Parteileitung fest¬
gesetzte Rangordnung. Oder man gestattet dem Wähler, auf der Parteiliste Ände-
rungen vorzunehmen, einzelne Kandidaten zu streichen, hinzuzufügen, zu bevor¬
zugen. Endlich gestattet man kleinen Parteien, sich mit anderen derart zu verbinden,
daß ihre Stimmen, falls sie zur Erlangung eines eigenen Vertreters nicht aus¬
reichen, wenigstens einer nahestehenden Partei zugute kommen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/240>, abgerufen am 01.07.2024.