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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Reform des Mcihlvcrfahrens

Frage der Wahlberechtigung ist eine rein politische; sie soll uns hier nicht be¬
schäftigen. Die Frage des Wahlverfahrens ist zunächst eine technische, ihre bessere
oder schlechtere Lösung aber von größter politischer Tragweite.

Weiches ist das Problem, das hier vorliegt? Offenbar dieses, jedem Wähler
oder genauer jeder Wahlstimme im Parlament die ihr zukommende Vertretung
zu verschaffen. Dazu ist zweierlei nötig: erstens, daß j,der Wähler den Mann
seines Vertrauens zum Abgeordneten wählen kann und durch ihn im Parlament
vertreten wird' zweitens, daß das Gewicht, mit dein er dort vertreten wird, für
jeden Wähler dasselbe sei. Würden nämlich ein von vielen Wählern entsendeter
Abgeordneter und einer, den nur wenige erkoren haben, im Parlament gleiche
berech'igt nebeneinander sitzen, so wären offenbar die wenigen Wähler Verhältnis-
mäßig wirksamer vertreten als die vielen.

Man hat zur Beseitigung dieser Ungleichheit vorgeschlagen, daß bei der
Abstimmung im Parlament das Gewicht, das der einzelne Vertreter in die Wag-
schale zu werfen hat, nach der Zahl der Wähler, die ihn erkoren haben, abgestuft
werde, man hat sogar die Konstruktion von Abstimmungsmaschinen, welche solche
Abstufung mechanisch bewirken, geplant. Aber eine parlamentarische Körperschaft,
in welcher Siimmenkrösusse und Stimmenbeitler nebeneinander sitzen, ist ein
psychologisches Unding und, wie die Menschen nun einmal sind, ist ein erfreu¬
liches Zusammenarbeiten in ein und demselben Kollegium nur unter gleich-
beiechtigien Vertretern möglich.

Wir müssen also >:n ein anderes Auskunftsmittel denken, um jeden: Wähler
den ihm zukommenden Einfluß im Parlament zu verschaffen. Dies Mittel besteht
darin, daß diejenigen Kandidaten, welche viele Stimmen bekommen haben, an
jene, welche weniger erhielten, Stimmen abtreten, natürlich nickt nach eigener
Willkür, sondern gemäß einer vorher vom Wähler gebilligten Liste. Zu diesem
Zweck bezeichnet der Wähler auf seinem Stimmzettel nicht nur seinen eigent¬
lichen Kandidaten, sondern gleichzeitig mehrere Ersatzkandidaten. Er gibt durch
eine solche Liste von Erkorenen seinem Anderenfallswillen Ausdruck: falls der
mir in erster Linie genehme Kandidat A meine Stimme nicht brauchen kann,-
weil er bereits ohnehin Stimmen genug hat oder weil er zu wenig hat.
um überhaupt in Frage zu kommen, soll meine Stimme auf den Kandidaten B,
und gegebenenfalls von diesem weiter auf den C und so fort übertragen werden.

Das gewöhnliche Mehrheitswahlverfahren weiß nichts von solcher Anderenfalls-
stimmgebung. Die Folge ist, daß meine Stimme, wenn der .Kandidat, dem ich
sie gegeben habe, unterliegt, völlig verloren ist, daß ich meines Rechtes auf Ver¬
tretung im Parlament beraubt werde. Andererseits bin ich zum mindesten nur
ungenügend und mit zu geringem Gewicht vertreten, wenn mein Kandidat er¬
heblich mehr Stimmen erhalten hat, als im Durchschnitt zum Erwähltwerden er¬
forderlich ist oder umgekehrt mit zu großem Gewicht, wenn er mit schwacher
Stimm, nmehrheit durchdringt. Solche Ungerechtigkeit ist nun nicht etwa eine
Ausnahme, welche bloß vereinzelte Wähler trifft, sondern geradezu die Regel und
Norm. Bei dur bisherigen Reichstagswahlen z. B. pflegt die Hälfte der Wähler
und oft mehr als die Hälfte ganz unvertreten zu bleiben. Denn wenn drei an-
nähernd gleich starke Parteien im Wahlkreis um den einen Sitz kämpfen,,, so kann
nur ein Drittel der Wähler zu seine"" Recht gelangen. Dieser schwere Uvelstcmd
und all seine unerfreulichen Folgen: Stichwahlen und Stichwahlunmoral, Kom¬
promißkandidaturen, Wahlenihaltung und Verbitterung der um ihr Recht Be¬
trogenen u. s. f. sind in letzter Zeit soviel besprochen worden, daß wir nicht weiter
dabei zu verweilen brauchen.

Ein zweiter Übelstand aber wird bei diesen Erörterungen meist ganz ver¬
gessen. Angenommen, meine Partei siegt, bin ich dann wirklich so wie ich sollte
im Parlament vertreten, d. h. durch den Mann meines höchsten Vertrauens oder,
wenn dies nicht angeht, dann wenigstens durch den, der mir in zweiter oder
dritter Linie als dieses Postens würdig erscheint? Weit entfernt: ich habe ja gar
nicht die Möglichkeit, unter den verschiedenen meiner Partei zugehörigen Parlaments-


Reform des Mcihlvcrfahrens

Frage der Wahlberechtigung ist eine rein politische; sie soll uns hier nicht be¬
schäftigen. Die Frage des Wahlverfahrens ist zunächst eine technische, ihre bessere
oder schlechtere Lösung aber von größter politischer Tragweite.

Weiches ist das Problem, das hier vorliegt? Offenbar dieses, jedem Wähler
oder genauer jeder Wahlstimme im Parlament die ihr zukommende Vertretung
zu verschaffen. Dazu ist zweierlei nötig: erstens, daß j,der Wähler den Mann
seines Vertrauens zum Abgeordneten wählen kann und durch ihn im Parlament
vertreten wird' zweitens, daß das Gewicht, mit dein er dort vertreten wird, für
jeden Wähler dasselbe sei. Würden nämlich ein von vielen Wählern entsendeter
Abgeordneter und einer, den nur wenige erkoren haben, im Parlament gleiche
berech'igt nebeneinander sitzen, so wären offenbar die wenigen Wähler Verhältnis-
mäßig wirksamer vertreten als die vielen.

Man hat zur Beseitigung dieser Ungleichheit vorgeschlagen, daß bei der
Abstimmung im Parlament das Gewicht, das der einzelne Vertreter in die Wag-
schale zu werfen hat, nach der Zahl der Wähler, die ihn erkoren haben, abgestuft
werde, man hat sogar die Konstruktion von Abstimmungsmaschinen, welche solche
Abstufung mechanisch bewirken, geplant. Aber eine parlamentarische Körperschaft,
in welcher Siimmenkrösusse und Stimmenbeitler nebeneinander sitzen, ist ein
psychologisches Unding und, wie die Menschen nun einmal sind, ist ein erfreu¬
liches Zusammenarbeiten in ein und demselben Kollegium nur unter gleich-
beiechtigien Vertretern möglich.

Wir müssen also >:n ein anderes Auskunftsmittel denken, um jeden: Wähler
den ihm zukommenden Einfluß im Parlament zu verschaffen. Dies Mittel besteht
darin, daß diejenigen Kandidaten, welche viele Stimmen bekommen haben, an
jene, welche weniger erhielten, Stimmen abtreten, natürlich nickt nach eigener
Willkür, sondern gemäß einer vorher vom Wähler gebilligten Liste. Zu diesem
Zweck bezeichnet der Wähler auf seinem Stimmzettel nicht nur seinen eigent¬
lichen Kandidaten, sondern gleichzeitig mehrere Ersatzkandidaten. Er gibt durch
eine solche Liste von Erkorenen seinem Anderenfallswillen Ausdruck: falls der
mir in erster Linie genehme Kandidat A meine Stimme nicht brauchen kann,-
weil er bereits ohnehin Stimmen genug hat oder weil er zu wenig hat.
um überhaupt in Frage zu kommen, soll meine Stimme auf den Kandidaten B,
und gegebenenfalls von diesem weiter auf den C und so fort übertragen werden.

Das gewöhnliche Mehrheitswahlverfahren weiß nichts von solcher Anderenfalls-
stimmgebung. Die Folge ist, daß meine Stimme, wenn der .Kandidat, dem ich
sie gegeben habe, unterliegt, völlig verloren ist, daß ich meines Rechtes auf Ver¬
tretung im Parlament beraubt werde. Andererseits bin ich zum mindesten nur
ungenügend und mit zu geringem Gewicht vertreten, wenn mein Kandidat er¬
heblich mehr Stimmen erhalten hat, als im Durchschnitt zum Erwähltwerden er¬
forderlich ist oder umgekehrt mit zu großem Gewicht, wenn er mit schwacher
Stimm, nmehrheit durchdringt. Solche Ungerechtigkeit ist nun nicht etwa eine
Ausnahme, welche bloß vereinzelte Wähler trifft, sondern geradezu die Regel und
Norm. Bei dur bisherigen Reichstagswahlen z. B. pflegt die Hälfte der Wähler
und oft mehr als die Hälfte ganz unvertreten zu bleiben. Denn wenn drei an-
nähernd gleich starke Parteien im Wahlkreis um den einen Sitz kämpfen,,, so kann
nur ein Drittel der Wähler zu seine»» Recht gelangen. Dieser schwere Uvelstcmd
und all seine unerfreulichen Folgen: Stichwahlen und Stichwahlunmoral, Kom¬
promißkandidaturen, Wahlenihaltung und Verbitterung der um ihr Recht Be¬
trogenen u. s. f. sind in letzter Zeit soviel besprochen worden, daß wir nicht weiter
dabei zu verweilen brauchen.

Ein zweiter Übelstand aber wird bei diesen Erörterungen meist ganz ver¬
gessen. Angenommen, meine Partei siegt, bin ich dann wirklich so wie ich sollte
im Parlament vertreten, d. h. durch den Mann meines höchsten Vertrauens oder,
wenn dies nicht angeht, dann wenigstens durch den, der mir in zweiter oder
dritter Linie als dieses Postens würdig erscheint? Weit entfernt: ich habe ja gar
nicht die Möglichkeit, unter den verschiedenen meiner Partei zugehörigen Parlaments-


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[0239] Reform des Mcihlvcrfahrens Frage der Wahlberechtigung ist eine rein politische; sie soll uns hier nicht be¬ schäftigen. Die Frage des Wahlverfahrens ist zunächst eine technische, ihre bessere oder schlechtere Lösung aber von größter politischer Tragweite. Weiches ist das Problem, das hier vorliegt? Offenbar dieses, jedem Wähler oder genauer jeder Wahlstimme im Parlament die ihr zukommende Vertretung zu verschaffen. Dazu ist zweierlei nötig: erstens, daß j,der Wähler den Mann seines Vertrauens zum Abgeordneten wählen kann und durch ihn im Parlament vertreten wird' zweitens, daß das Gewicht, mit dein er dort vertreten wird, für jeden Wähler dasselbe sei. Würden nämlich ein von vielen Wählern entsendeter Abgeordneter und einer, den nur wenige erkoren haben, im Parlament gleiche berech'igt nebeneinander sitzen, so wären offenbar die wenigen Wähler Verhältnis- mäßig wirksamer vertreten als die vielen. Man hat zur Beseitigung dieser Ungleichheit vorgeschlagen, daß bei der Abstimmung im Parlament das Gewicht, das der einzelne Vertreter in die Wag- schale zu werfen hat, nach der Zahl der Wähler, die ihn erkoren haben, abgestuft werde, man hat sogar die Konstruktion von Abstimmungsmaschinen, welche solche Abstufung mechanisch bewirken, geplant. Aber eine parlamentarische Körperschaft, in welcher Siimmenkrösusse und Stimmenbeitler nebeneinander sitzen, ist ein psychologisches Unding und, wie die Menschen nun einmal sind, ist ein erfreu¬ liches Zusammenarbeiten in ein und demselben Kollegium nur unter gleich- beiechtigien Vertretern möglich. Wir müssen also >:n ein anderes Auskunftsmittel denken, um jeden: Wähler den ihm zukommenden Einfluß im Parlament zu verschaffen. Dies Mittel besteht darin, daß diejenigen Kandidaten, welche viele Stimmen bekommen haben, an jene, welche weniger erhielten, Stimmen abtreten, natürlich nickt nach eigener Willkür, sondern gemäß einer vorher vom Wähler gebilligten Liste. Zu diesem Zweck bezeichnet der Wähler auf seinem Stimmzettel nicht nur seinen eigent¬ lichen Kandidaten, sondern gleichzeitig mehrere Ersatzkandidaten. Er gibt durch eine solche Liste von Erkorenen seinem Anderenfallswillen Ausdruck: falls der mir in erster Linie genehme Kandidat A meine Stimme nicht brauchen kann,- weil er bereits ohnehin Stimmen genug hat oder weil er zu wenig hat. um überhaupt in Frage zu kommen, soll meine Stimme auf den Kandidaten B, und gegebenenfalls von diesem weiter auf den C und so fort übertragen werden. Das gewöhnliche Mehrheitswahlverfahren weiß nichts von solcher Anderenfalls- stimmgebung. Die Folge ist, daß meine Stimme, wenn der .Kandidat, dem ich sie gegeben habe, unterliegt, völlig verloren ist, daß ich meines Rechtes auf Ver¬ tretung im Parlament beraubt werde. Andererseits bin ich zum mindesten nur ungenügend und mit zu geringem Gewicht vertreten, wenn mein Kandidat er¬ heblich mehr Stimmen erhalten hat, als im Durchschnitt zum Erwähltwerden er¬ forderlich ist oder umgekehrt mit zu großem Gewicht, wenn er mit schwacher Stimm, nmehrheit durchdringt. Solche Ungerechtigkeit ist nun nicht etwa eine Ausnahme, welche bloß vereinzelte Wähler trifft, sondern geradezu die Regel und Norm. Bei dur bisherigen Reichstagswahlen z. B. pflegt die Hälfte der Wähler und oft mehr als die Hälfte ganz unvertreten zu bleiben. Denn wenn drei an- nähernd gleich starke Parteien im Wahlkreis um den einen Sitz kämpfen,,, so kann nur ein Drittel der Wähler zu seine»» Recht gelangen. Dieser schwere Uvelstcmd und all seine unerfreulichen Folgen: Stichwahlen und Stichwahlunmoral, Kom¬ promißkandidaturen, Wahlenihaltung und Verbitterung der um ihr Recht Be¬ trogenen u. s. f. sind in letzter Zeit soviel besprochen worden, daß wir nicht weiter dabei zu verweilen brauchen. Ein zweiter Übelstand aber wird bei diesen Erörterungen meist ganz ver¬ gessen. Angenommen, meine Partei siegt, bin ich dann wirklich so wie ich sollte im Parlament vertreten, d. h. durch den Mann meines höchsten Vertrauens oder, wenn dies nicht angeht, dann wenigstens durch den, der mir in zweiter oder dritter Linie als dieses Postens würdig erscheint? Weit entfernt: ich habe ja gar nicht die Möglichkeit, unter den verschiedenen meiner Partei zugehörigen Parlaments-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/239>, abgerufen am 29.06.2024.