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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Das werdende Rußland
Ljetmcm Parvlo Skoroxadski
Georg Lleinow von

in 29. April d. I. hat ein mutiger Mann in Kijew unter Umständen,
über die wir gegenwärtig noch kein zusammenhängendes sicheres Bild
haben, die sozialistische Regierung davongejagt und sich selbst zum
Staatsoberhaupt gemacht. Kraft seiner besseren Einsicht hat er dem
Lande ein Grundgesetz gegeben, das über alle sozialistischen Theorien
hinweg an die Persönlichkeit anknüpft, die persönliche Tüchtigkeit über alle anderen
Werte stellt und das persönliche Eigentum als den Träger aller Kulturerfolge
würdigt.

Die offiziös bediente Presse hat das rationalistisch-ukrainische Moment bei
dem Staatsstreich zu unterstreichen versucht durch den Hinweis auf eine angeb¬
liche Familientradition des neuen Hetman. Es wird sogar die Behauptung auf¬
gestellt, daß einer seiner Vorfahren "der letzte Hetman der freien Republik Ukraina"
gewesen sei. Die damit angeregten Gedankengänge sind von größter aktueller
Bedeutung. Sie gipfeln in der Frage, ob die Ukraina -überhaupt losgelöst vom
übrigen Rußland bleiben kann. Von der Beantwortung dieser Frage durch das
Leben hängt die künftige Gestaltung Osteuropas und unserer Beziehungen zu den
Russen ab. Darum sei es versucht, sie hier theoretisch zu beantworten, unter Be¬
nutzung der feststehenden Daten, die uns die Geschichtsforschung über den alten
Hetman übermittelt. In manchen Analogien erkennen wir die Linien der künf¬
tigen Entwicklung und in manchen Abweichungen und Gegensätzen offenbart sich
das, was lebensfähig oder unabänderlich ist.

Führende Persönlichkeiten können bei der Masse den Eindruck Führer zu
sein überhaupt nur deshalb erwecken, weil sie sich mutig einer unsichtbaren, ihnen
selbst meist nur gefühlsmäßig bewußten Strömung überlassen. Die Kämpfe, die
sie zu führen haben und die oft den Eindruck erwecken, als würden sie gegen die
herrschende Strömung geführt, sind in den meisten Fällen doch nur ein Ringen,
um sich auf der Oberfläche des Stromes zu erhalten. Persönlichkeiten, die die
Gesamtströmung, oder wie die Wissenschaftler sagen, die Tendenz der Entwicklung
nicht in ihren Fingerspitzen fühlen, werden niemals als Führer sich durchsetzen
können, sondern im Wirbel, von dem keine Strömung frei ist, rettungslos versinken.


Grenzboten II 1918 13


Das werdende Rußland
Ljetmcm Parvlo Skoroxadski
Georg Lleinow von

in 29. April d. I. hat ein mutiger Mann in Kijew unter Umständen,
über die wir gegenwärtig noch kein zusammenhängendes sicheres Bild
haben, die sozialistische Regierung davongejagt und sich selbst zum
Staatsoberhaupt gemacht. Kraft seiner besseren Einsicht hat er dem
Lande ein Grundgesetz gegeben, das über alle sozialistischen Theorien
hinweg an die Persönlichkeit anknüpft, die persönliche Tüchtigkeit über alle anderen
Werte stellt und das persönliche Eigentum als den Träger aller Kulturerfolge
würdigt.

Die offiziös bediente Presse hat das rationalistisch-ukrainische Moment bei
dem Staatsstreich zu unterstreichen versucht durch den Hinweis auf eine angeb¬
liche Familientradition des neuen Hetman. Es wird sogar die Behauptung auf¬
gestellt, daß einer seiner Vorfahren „der letzte Hetman der freien Republik Ukraina"
gewesen sei. Die damit angeregten Gedankengänge sind von größter aktueller
Bedeutung. Sie gipfeln in der Frage, ob die Ukraina -überhaupt losgelöst vom
übrigen Rußland bleiben kann. Von der Beantwortung dieser Frage durch das
Leben hängt die künftige Gestaltung Osteuropas und unserer Beziehungen zu den
Russen ab. Darum sei es versucht, sie hier theoretisch zu beantworten, unter Be¬
nutzung der feststehenden Daten, die uns die Geschichtsforschung über den alten
Hetman übermittelt. In manchen Analogien erkennen wir die Linien der künf¬
tigen Entwicklung und in manchen Abweichungen und Gegensätzen offenbart sich
das, was lebensfähig oder unabänderlich ist.

Führende Persönlichkeiten können bei der Masse den Eindruck Führer zu
sein überhaupt nur deshalb erwecken, weil sie sich mutig einer unsichtbaren, ihnen
selbst meist nur gefühlsmäßig bewußten Strömung überlassen. Die Kämpfe, die
sie zu führen haben und die oft den Eindruck erwecken, als würden sie gegen die
herrschende Strömung geführt, sind in den meisten Fällen doch nur ein Ringen,
um sich auf der Oberfläche des Stromes zu erhalten. Persönlichkeiten, die die
Gesamtströmung, oder wie die Wissenschaftler sagen, die Tendenz der Entwicklung
nicht in ihren Fingerspitzen fühlen, werden niemals als Führer sich durchsetzen
können, sondern im Wirbel, von dem keine Strömung frei ist, rettungslos versinken.


Grenzboten II 1918 13
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[0181] [Abbildung] Das werdende Rußland Ljetmcm Parvlo Skoroxadski Georg Lleinow von in 29. April d. I. hat ein mutiger Mann in Kijew unter Umständen, über die wir gegenwärtig noch kein zusammenhängendes sicheres Bild haben, die sozialistische Regierung davongejagt und sich selbst zum Staatsoberhaupt gemacht. Kraft seiner besseren Einsicht hat er dem Lande ein Grundgesetz gegeben, das über alle sozialistischen Theorien hinweg an die Persönlichkeit anknüpft, die persönliche Tüchtigkeit über alle anderen Werte stellt und das persönliche Eigentum als den Träger aller Kulturerfolge würdigt. Die offiziös bediente Presse hat das rationalistisch-ukrainische Moment bei dem Staatsstreich zu unterstreichen versucht durch den Hinweis auf eine angeb¬ liche Familientradition des neuen Hetman. Es wird sogar die Behauptung auf¬ gestellt, daß einer seiner Vorfahren „der letzte Hetman der freien Republik Ukraina" gewesen sei. Die damit angeregten Gedankengänge sind von größter aktueller Bedeutung. Sie gipfeln in der Frage, ob die Ukraina -überhaupt losgelöst vom übrigen Rußland bleiben kann. Von der Beantwortung dieser Frage durch das Leben hängt die künftige Gestaltung Osteuropas und unserer Beziehungen zu den Russen ab. Darum sei es versucht, sie hier theoretisch zu beantworten, unter Be¬ nutzung der feststehenden Daten, die uns die Geschichtsforschung über den alten Hetman übermittelt. In manchen Analogien erkennen wir die Linien der künf¬ tigen Entwicklung und in manchen Abweichungen und Gegensätzen offenbart sich das, was lebensfähig oder unabänderlich ist. Führende Persönlichkeiten können bei der Masse den Eindruck Führer zu sein überhaupt nur deshalb erwecken, weil sie sich mutig einer unsichtbaren, ihnen selbst meist nur gefühlsmäßig bewußten Strömung überlassen. Die Kämpfe, die sie zu führen haben und die oft den Eindruck erwecken, als würden sie gegen die herrschende Strömung geführt, sind in den meisten Fällen doch nur ein Ringen, um sich auf der Oberfläche des Stromes zu erhalten. Persönlichkeiten, die die Gesamtströmung, oder wie die Wissenschaftler sagen, die Tendenz der Entwicklung nicht in ihren Fingerspitzen fühlen, werden niemals als Führer sich durchsetzen können, sondern im Wirbel, von dem keine Strömung frei ist, rettungslos versinken. Grenzboten II 1918 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/181>, abgerufen am 23.07.2024.