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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Sind die Franzosen die echten Erben althellenischer Geistes?

ordnung dieser Formen von den Plebejern Hugo und Balzac für immer zer¬
schlagen. Aber der Stil l^ouis quirle hat seinen König und das König¬
tum überlebt. Er ist der nationale Stil Frankreichs bis zur Stunde geblieben.
Und so viele zierliche Standbilder der Heldenjungfrau Jeanne d'Arc verraten, wie
schwer, ja unmöglich es auch dem begabten französischen Künstler noch ist, eine
zur Natur gewordene Auffassungsart dort zu vermeiden, wo ihre Stelle nicht sein
kann und darf.

Wir sehen: mit dem Hellenismus, dem griechischen und noch näher dem
römischen, gehört Frankreich zusammen in den Grundzügen seiner geistigen Art,
wie sie in seiner Geschichte bisher zutage kamen, ob es nun Vorzüge sind oder
Schwächen, Eigenschaften, die Leben wecken oder Leben töten. Wer das fest-
stellt, spricht weder Lob aus noch Tadel: er anerkennt nur eine geschichtlich ge¬
wordene Lage.

Wohl aber gibt es ein Land im nördlichen Europa: dort haben Sokrates
und Platon, Homer und Pindar, Aischylos und Sophokles ihre echten Jünger
gefunden. Es ist das Land der großen Mystiker Eckart und Böhme, das Vater¬
land von Luther und Leibniz, Lessing, Klopstock und Herder, Goethe und Schiller,
Schleiermacher und Hölderlin, die Heimat von Immanuel Kant und dem deutschen
Idealismus. Wilhelm von Humboldt ist der bewußte Verkündiger dieses "Neu¬
humanismus" geworden. An den Menschheitsfragen, die von dem Geiste der
Hellenen entdeckt worden sind, haben sich deutsche Denker und Dichter rastlos
weiter erprobt, unbekümmert darum, ob die Ergebnisse nutzlos sein würden, und
unbeirrt von dem Zwang, schwere Dinge in schwerer Sprache vorzutragen.

Es gab auch in Frankreich einmal eine Zeit, wo andere Grundrichtungen
dem Denken und Schaffen die Wege wiesen als die des Hellenismus. Das war
im Hochmittelalter, im zwölften und dreizehnten Jahrhundert. Damals erstanden
in Nordfrankreich als in dem von Franken, Burgunder! und Normannen dicht
besiedelten Gebiet die gotischen Abteien und Kathedralen, Burgen und Städte,
geschmückt mit Bildwerken in Stein oder Holz und mit bunten Glasmalereien, indes
an der neugegründeten Hochschule Paris Theologen und Philosophen sich um den
Ausbau des christlichen Lehrgebäudes bemühten. Und von der Dichtung und
Musik der Minnesinger und höfischen Erzähler wurden die Taten christlicher Ritter
im Heldenkampf und Frauendienst verherrlicht und den Hörern als ein Vorbild
errichtet. Eine neue Geistigkeit suchte und fand in dem allem den Ausdruck ihres
Sehnens und Könnens. Der gotische Mensch -- so lautet ein neugeschaffener
und schon landläufiger Begriff -- hatte sich entdeckt und geoffenbart.

Es war ein sichtlicher Irrtum des Jtalieners Vasari, den Namen Gotik
für die mittelalterliche Baukunst zu prägen, die in Nordfrankreich nach der Mitte
des zwölften Jahrhunderts ihren Anfang nahm und in keinem Nachbarlande so
wie in Deutschland erfaßt und schöpferisch fortgesetzt wurde. Soviel wie Barbaren¬
kunst sollte der Name bedeuten. Und in der Tat, die gotische Kunst und gotische
Dichtung, gotische Frömmigkeit und Gelehrsamkeit sind so etwas wie Barbaren¬
kunst. Germanische Gemüts- und Geistesart zwar nicht der Goten, aber der
Franken, Burgunder! und Normannen hatte in der eben damals zur Einheit ge¬
reiften Nation die Führung übernommen. Und darum verstehen wir, daß die
herkömmliche Geschichtschreibung Frankreichs dieses ganze Zeitalter vom Einbruch
der Barbaren bis zur Selbstdarstellung des gotischen Menschen als ein bloßes
Zwischenspiel ansieht und nach wie vor gleich Boileau die Geschichte der fran¬
zösischen Dichtung mit Malherbe anheben läßt. Noch Ferdinand Brünettere, der
starke und unerschütterliche Vorläufer des heutigen Neuklassizismus, verwirft die
Heldenlieder von Karl dein Großen und seinen Getreuen als barbsrie littsraire
und will sie gern den Deutschen überlassen, von denen sie gekommen seien. Denn
er vermißt an dieser gotischen Dichtung alle Eigenschaften des echt französischen
Geistes: les plus rares qualites cle l'esprit liANLais: orclre, corte, loZiczue --
loi, reZIe, mesure -- äeeenee, äiZnite, noblesse -- art et Mut, precision et
Proportion. Und den gotischen Baustil nennt er: ce merveilleux eontresens


Sind die Franzosen die echten Erben althellenischer Geistes?

ordnung dieser Formen von den Plebejern Hugo und Balzac für immer zer¬
schlagen. Aber der Stil l^ouis quirle hat seinen König und das König¬
tum überlebt. Er ist der nationale Stil Frankreichs bis zur Stunde geblieben.
Und so viele zierliche Standbilder der Heldenjungfrau Jeanne d'Arc verraten, wie
schwer, ja unmöglich es auch dem begabten französischen Künstler noch ist, eine
zur Natur gewordene Auffassungsart dort zu vermeiden, wo ihre Stelle nicht sein
kann und darf.

Wir sehen: mit dem Hellenismus, dem griechischen und noch näher dem
römischen, gehört Frankreich zusammen in den Grundzügen seiner geistigen Art,
wie sie in seiner Geschichte bisher zutage kamen, ob es nun Vorzüge sind oder
Schwächen, Eigenschaften, die Leben wecken oder Leben töten. Wer das fest-
stellt, spricht weder Lob aus noch Tadel: er anerkennt nur eine geschichtlich ge¬
wordene Lage.

Wohl aber gibt es ein Land im nördlichen Europa: dort haben Sokrates
und Platon, Homer und Pindar, Aischylos und Sophokles ihre echten Jünger
gefunden. Es ist das Land der großen Mystiker Eckart und Böhme, das Vater¬
land von Luther und Leibniz, Lessing, Klopstock und Herder, Goethe und Schiller,
Schleiermacher und Hölderlin, die Heimat von Immanuel Kant und dem deutschen
Idealismus. Wilhelm von Humboldt ist der bewußte Verkündiger dieses „Neu¬
humanismus" geworden. An den Menschheitsfragen, die von dem Geiste der
Hellenen entdeckt worden sind, haben sich deutsche Denker und Dichter rastlos
weiter erprobt, unbekümmert darum, ob die Ergebnisse nutzlos sein würden, und
unbeirrt von dem Zwang, schwere Dinge in schwerer Sprache vorzutragen.

Es gab auch in Frankreich einmal eine Zeit, wo andere Grundrichtungen
dem Denken und Schaffen die Wege wiesen als die des Hellenismus. Das war
im Hochmittelalter, im zwölften und dreizehnten Jahrhundert. Damals erstanden
in Nordfrankreich als in dem von Franken, Burgunder! und Normannen dicht
besiedelten Gebiet die gotischen Abteien und Kathedralen, Burgen und Städte,
geschmückt mit Bildwerken in Stein oder Holz und mit bunten Glasmalereien, indes
an der neugegründeten Hochschule Paris Theologen und Philosophen sich um den
Ausbau des christlichen Lehrgebäudes bemühten. Und von der Dichtung und
Musik der Minnesinger und höfischen Erzähler wurden die Taten christlicher Ritter
im Heldenkampf und Frauendienst verherrlicht und den Hörern als ein Vorbild
errichtet. Eine neue Geistigkeit suchte und fand in dem allem den Ausdruck ihres
Sehnens und Könnens. Der gotische Mensch — so lautet ein neugeschaffener
und schon landläufiger Begriff — hatte sich entdeckt und geoffenbart.

Es war ein sichtlicher Irrtum des Jtalieners Vasari, den Namen Gotik
für die mittelalterliche Baukunst zu prägen, die in Nordfrankreich nach der Mitte
des zwölften Jahrhunderts ihren Anfang nahm und in keinem Nachbarlande so
wie in Deutschland erfaßt und schöpferisch fortgesetzt wurde. Soviel wie Barbaren¬
kunst sollte der Name bedeuten. Und in der Tat, die gotische Kunst und gotische
Dichtung, gotische Frömmigkeit und Gelehrsamkeit sind so etwas wie Barbaren¬
kunst. Germanische Gemüts- und Geistesart zwar nicht der Goten, aber der
Franken, Burgunder! und Normannen hatte in der eben damals zur Einheit ge¬
reiften Nation die Führung übernommen. Und darum verstehen wir, daß die
herkömmliche Geschichtschreibung Frankreichs dieses ganze Zeitalter vom Einbruch
der Barbaren bis zur Selbstdarstellung des gotischen Menschen als ein bloßes
Zwischenspiel ansieht und nach wie vor gleich Boileau die Geschichte der fran¬
zösischen Dichtung mit Malherbe anheben läßt. Noch Ferdinand Brünettere, der
starke und unerschütterliche Vorläufer des heutigen Neuklassizismus, verwirft die
Heldenlieder von Karl dein Großen und seinen Getreuen als barbsrie littsraire
und will sie gern den Deutschen überlassen, von denen sie gekommen seien. Denn
er vermißt an dieser gotischen Dichtung alle Eigenschaften des echt französischen
Geistes: les plus rares qualites cle l'esprit liANLais: orclre, corte, loZiczue —
loi, reZIe, mesure — äeeenee, äiZnite, noblesse — art et Mut, precision et
Proportion. Und den gotischen Baustil nennt er: ce merveilleux eontresens


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[0136] Sind die Franzosen die echten Erben althellenischer Geistes? ordnung dieser Formen von den Plebejern Hugo und Balzac für immer zer¬ schlagen. Aber der Stil l^ouis quirle hat seinen König und das König¬ tum überlebt. Er ist der nationale Stil Frankreichs bis zur Stunde geblieben. Und so viele zierliche Standbilder der Heldenjungfrau Jeanne d'Arc verraten, wie schwer, ja unmöglich es auch dem begabten französischen Künstler noch ist, eine zur Natur gewordene Auffassungsart dort zu vermeiden, wo ihre Stelle nicht sein kann und darf. Wir sehen: mit dem Hellenismus, dem griechischen und noch näher dem römischen, gehört Frankreich zusammen in den Grundzügen seiner geistigen Art, wie sie in seiner Geschichte bisher zutage kamen, ob es nun Vorzüge sind oder Schwächen, Eigenschaften, die Leben wecken oder Leben töten. Wer das fest- stellt, spricht weder Lob aus noch Tadel: er anerkennt nur eine geschichtlich ge¬ wordene Lage. Wohl aber gibt es ein Land im nördlichen Europa: dort haben Sokrates und Platon, Homer und Pindar, Aischylos und Sophokles ihre echten Jünger gefunden. Es ist das Land der großen Mystiker Eckart und Böhme, das Vater¬ land von Luther und Leibniz, Lessing, Klopstock und Herder, Goethe und Schiller, Schleiermacher und Hölderlin, die Heimat von Immanuel Kant und dem deutschen Idealismus. Wilhelm von Humboldt ist der bewußte Verkündiger dieses „Neu¬ humanismus" geworden. An den Menschheitsfragen, die von dem Geiste der Hellenen entdeckt worden sind, haben sich deutsche Denker und Dichter rastlos weiter erprobt, unbekümmert darum, ob die Ergebnisse nutzlos sein würden, und unbeirrt von dem Zwang, schwere Dinge in schwerer Sprache vorzutragen. Es gab auch in Frankreich einmal eine Zeit, wo andere Grundrichtungen dem Denken und Schaffen die Wege wiesen als die des Hellenismus. Das war im Hochmittelalter, im zwölften und dreizehnten Jahrhundert. Damals erstanden in Nordfrankreich als in dem von Franken, Burgunder! und Normannen dicht besiedelten Gebiet die gotischen Abteien und Kathedralen, Burgen und Städte, geschmückt mit Bildwerken in Stein oder Holz und mit bunten Glasmalereien, indes an der neugegründeten Hochschule Paris Theologen und Philosophen sich um den Ausbau des christlichen Lehrgebäudes bemühten. Und von der Dichtung und Musik der Minnesinger und höfischen Erzähler wurden die Taten christlicher Ritter im Heldenkampf und Frauendienst verherrlicht und den Hörern als ein Vorbild errichtet. Eine neue Geistigkeit suchte und fand in dem allem den Ausdruck ihres Sehnens und Könnens. Der gotische Mensch — so lautet ein neugeschaffener und schon landläufiger Begriff — hatte sich entdeckt und geoffenbart. Es war ein sichtlicher Irrtum des Jtalieners Vasari, den Namen Gotik für die mittelalterliche Baukunst zu prägen, die in Nordfrankreich nach der Mitte des zwölften Jahrhunderts ihren Anfang nahm und in keinem Nachbarlande so wie in Deutschland erfaßt und schöpferisch fortgesetzt wurde. Soviel wie Barbaren¬ kunst sollte der Name bedeuten. Und in der Tat, die gotische Kunst und gotische Dichtung, gotische Frömmigkeit und Gelehrsamkeit sind so etwas wie Barbaren¬ kunst. Germanische Gemüts- und Geistesart zwar nicht der Goten, aber der Franken, Burgunder! und Normannen hatte in der eben damals zur Einheit ge¬ reiften Nation die Führung übernommen. Und darum verstehen wir, daß die herkömmliche Geschichtschreibung Frankreichs dieses ganze Zeitalter vom Einbruch der Barbaren bis zur Selbstdarstellung des gotischen Menschen als ein bloßes Zwischenspiel ansieht und nach wie vor gleich Boileau die Geschichte der fran¬ zösischen Dichtung mit Malherbe anheben läßt. Noch Ferdinand Brünettere, der starke und unerschütterliche Vorläufer des heutigen Neuklassizismus, verwirft die Heldenlieder von Karl dein Großen und seinen Getreuen als barbsrie littsraire und will sie gern den Deutschen überlassen, von denen sie gekommen seien. Denn er vermißt an dieser gotischen Dichtung alle Eigenschaften des echt französischen Geistes: les plus rares qualites cle l'esprit liANLais: orclre, corte, loZiczue — loi, reZIe, mesure — äeeenee, äiZnite, noblesse — art et Mut, precision et Proportion. Und den gotischen Baustil nennt er: ce merveilleux eontresens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/136>, abgerufen am 22.07.2024.