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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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vor hundert Jahren

die städtischen Behörden und eine ganze Anzahl Einwohner Eisenachs sowie
von auswärts gekommene Festgäste Platz finden mußten. Arndts Bundeslied
"Sind wir vereint zur guten Stunde", das Stiftungslied der Jenaer Burschen¬
schaft, und andere vaterländische Gesänge ertönten während der Tafel. Gegen
2 Uhr war das Mahl beendet. Wie in der Festordnung bestimmt, zogen die
Burschen sofort nach Eisenach zurück, zusammen mit dem Eisenacher Landsturm
in die Stadtkirche zum Festgottesdienst. Nach dessen Beendigung stellten sich
Studenten und Landsturm auf dem Marktplatz auf. Gemeinsame Lieder er¬
tönten. Berliner und Jenaer Turner verkürzten die Zeit bis zur einbrechenden
Dämmerung mit Spielen und Übungen.

Um 6 Uhr sammelten sich die Burschen aufs neue zum Fackelzug auf den
Wartenberg, eine abgeplattete Kuppe hart nordwestlich der Stadt, von der man
einen wundervollen Blick hinüber zur Wartburg und zum Burschenschaftsdenkmal
auf der Göpelskuppe genießt. Bei sternklaren Himmel zog sich die lange
Reihe der Paare den Berg hinauf. Helians loderte bereits das Oktoberfeuer,
zu dem Großherzog Karl August bereitwillig das Holz aus den Staatsforsten
gestiftet hatte. Gleichzeitig grüßte von der Schanze der Wartburg ein zweites
"Freuden- und Siegesfeuer", um das sich der Eisenacher Landsturm Scharte.
Schneidend kalt blies der Herbstwind in die Flammen.

Ein Vaterlandslied des Jenaer Burschen Ludwig Rödiger, eines Lieblings-
schülers des Philosophen Fries, eröffnete die Feier. Dann sprach der Dichter
selbst über den ewig jugendlichen Geist der Wahrheit und der Schönheit, dessen
Walten in der Erinnerung an Luther und an die Totenopfer der jüngsten
Vergangenheit aufs neue lebendig ward und fortwirken möge. Zürnend und
mahnend fand er Worte, die wie Donnerschläge hineinfallen mußten in die
dumpfe Schwüle, die sich vergiftend über das deutsche Volk gelagert hatte:
Worte, die zum Teil fast auch für unsere Zeit, für die unfrohen Monate des
inneren Haders, gesprochen sind.

"In der Not", rief der Jüngling, "versprach man uns ein Vaterland zu
geben, ein einiges Vaterland der Gerechtigkeit. Doch fast will es scheinen, als
sei das Volk glühend erwacht, die Herrlichen gefallen, damit hochmütige Jdee-
losigkeit ein Freudenmahl halte von dem letzten Bissen des Landes. Nur eins hat
das deutsche Volk gewonnen, die Kraft des Selbstvertrauens. Wer bluten darf für das
Vaterland, der darf auch davon reden, wie er ihm am besten diene im Frieden."

"Dem Geist der Tugend und der Schönheit wollen wir einen gedeihlichen
Boden erfechten in allen Gauen des Vaterlandes, wo der Blitzstrahl des Gottes
der Gerechtigkeit das längst ahnende Volk getroffen hat und aufgeweckt mit
jugendlicher Begeisterung, wo ihm so viele tausend Heldengeister sich blutig
opferten, wo ihm auf den Bergaltären die Flammen der Sehnsucht entgegenbrennen."

Aber er will ein Vaterland haben, und wir haben keins; er kann nur
dauernd unter einem einigen und starken Brudervolke wohnen: und noch find
wir schmählich getrennt und zerrissen.


vor hundert Jahren

die städtischen Behörden und eine ganze Anzahl Einwohner Eisenachs sowie
von auswärts gekommene Festgäste Platz finden mußten. Arndts Bundeslied
»Sind wir vereint zur guten Stunde", das Stiftungslied der Jenaer Burschen¬
schaft, und andere vaterländische Gesänge ertönten während der Tafel. Gegen
2 Uhr war das Mahl beendet. Wie in der Festordnung bestimmt, zogen die
Burschen sofort nach Eisenach zurück, zusammen mit dem Eisenacher Landsturm
in die Stadtkirche zum Festgottesdienst. Nach dessen Beendigung stellten sich
Studenten und Landsturm auf dem Marktplatz auf. Gemeinsame Lieder er¬
tönten. Berliner und Jenaer Turner verkürzten die Zeit bis zur einbrechenden
Dämmerung mit Spielen und Übungen.

Um 6 Uhr sammelten sich die Burschen aufs neue zum Fackelzug auf den
Wartenberg, eine abgeplattete Kuppe hart nordwestlich der Stadt, von der man
einen wundervollen Blick hinüber zur Wartburg und zum Burschenschaftsdenkmal
auf der Göpelskuppe genießt. Bei sternklaren Himmel zog sich die lange
Reihe der Paare den Berg hinauf. Helians loderte bereits das Oktoberfeuer,
zu dem Großherzog Karl August bereitwillig das Holz aus den Staatsforsten
gestiftet hatte. Gleichzeitig grüßte von der Schanze der Wartburg ein zweites
„Freuden- und Siegesfeuer", um das sich der Eisenacher Landsturm Scharte.
Schneidend kalt blies der Herbstwind in die Flammen.

Ein Vaterlandslied des Jenaer Burschen Ludwig Rödiger, eines Lieblings-
schülers des Philosophen Fries, eröffnete die Feier. Dann sprach der Dichter
selbst über den ewig jugendlichen Geist der Wahrheit und der Schönheit, dessen
Walten in der Erinnerung an Luther und an die Totenopfer der jüngsten
Vergangenheit aufs neue lebendig ward und fortwirken möge. Zürnend und
mahnend fand er Worte, die wie Donnerschläge hineinfallen mußten in die
dumpfe Schwüle, die sich vergiftend über das deutsche Volk gelagert hatte:
Worte, die zum Teil fast auch für unsere Zeit, für die unfrohen Monate des
inneren Haders, gesprochen sind.

„In der Not", rief der Jüngling, „versprach man uns ein Vaterland zu
geben, ein einiges Vaterland der Gerechtigkeit. Doch fast will es scheinen, als
sei das Volk glühend erwacht, die Herrlichen gefallen, damit hochmütige Jdee-
losigkeit ein Freudenmahl halte von dem letzten Bissen des Landes. Nur eins hat
das deutsche Volk gewonnen, die Kraft des Selbstvertrauens. Wer bluten darf für das
Vaterland, der darf auch davon reden, wie er ihm am besten diene im Frieden."

„Dem Geist der Tugend und der Schönheit wollen wir einen gedeihlichen
Boden erfechten in allen Gauen des Vaterlandes, wo der Blitzstrahl des Gottes
der Gerechtigkeit das längst ahnende Volk getroffen hat und aufgeweckt mit
jugendlicher Begeisterung, wo ihm so viele tausend Heldengeister sich blutig
opferten, wo ihm auf den Bergaltären die Flammen der Sehnsucht entgegenbrennen."

Aber er will ein Vaterland haben, und wir haben keins; er kann nur
dauernd unter einem einigen und starken Brudervolke wohnen: und noch find
wir schmählich getrennt und zerrissen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/87>, abgerufen am 06.10.2024.