Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.Die deutsche Arbeiterschaft seit der Reichsgründung Gefühlsrichtungen bemerken können. Das soll uns den Blick scharf erhalten für Man hat das neue Reich -- und besonders unsere Feinde lieben das -- Trotz allen solchen Zugeständnissen übertreibt eine derartige Auffassung einen All dies aber weist in die Vergangenheit zurück. Es zeigt, daß auch das Die deutsche Arbeiterschaft seit der Reichsgründung Gefühlsrichtungen bemerken können. Das soll uns den Blick scharf erhalten für Man hat das neue Reich — und besonders unsere Feinde lieben das — Trotz allen solchen Zugeständnissen übertreibt eine derartige Auffassung einen All dies aber weist in die Vergangenheit zurück. Es zeigt, daß auch das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0275" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/332990"/> <fw type="header" place="top"> Die deutsche Arbeiterschaft seit der Reichsgründung</fw><lb/> <p xml:id="ID_896" prev="#ID_895"> Gefühlsrichtungen bemerken können. Das soll uns den Blick scharf erhalten für<lb/> die Gefahr, die noch nicht ganz gebannt ist. Und es lenkt um so mehr die Auf¬<lb/> merksamkeit auf die Kräfte, die das Gegengewicht gegen die Auswüchse dieses an<lb/> sich gesunden und echt deutschen Sondergeistes darstellen.</p><lb/> <p xml:id="ID_897"> Man hat das neue Reich — und besonders unsere Feinde lieben das —<lb/> als eine Art Erweiterung Preußens aufgefaßt. Auch das häufig gebrauchte Wort<lb/> von Preußen-Deutschland, das für die Süddeutschen keinen gerade sehr lieblichen<lb/> Klang hat, weist in diese Richtung. All diesen gefühlsmäßigen Widerständen zum<lb/> Trotz läßt sich mancherlei für eine solche Äußerung anführen. Der Baumeister<lb/> des neuen Reiches, Bismarck, war Preuße und wurzelte nicht nur fest in den<lb/> Traditionen seines Heimatstaates, sondern hat auch die Reichsgründung selber als<lb/> die Frucht einer folgerichtigen preußischen Politik erwachsen lassen, nachdem er<lb/> selber wesentlich dazu beigetragen hatte, daß der Versuch scheiterte, unmittelbar<lb/> aus den Überlieferungen des alten Reiches mit Hilfe des liberalen gemein¬<lb/> deutschen Bürgertums das neue Reich zu erwecken. Aber auch wenn man hier¬<lb/> von absieht: es ist nicht zu leugnen, daß die Reichsgründung zu etwas wie einer<lb/> Verpreußung auch des deutschen Südens geführt hat. Preußische Zucht und Ord¬<lb/> nung, preußische Strammheit und Barschheit haben sich — in abgeschwächtem<lb/> Maße natürlich — auch im deutschen Süden durchgesetzt. An der Wiege des<lb/> neuen deutschen Charakters hat der preußische Geist ohne Zweifel mit an erster<lb/> Stelle Pate gestanden.</p><lb/> <p xml:id="ID_898"> Trotz allen solchen Zugeständnissen übertreibt eine derartige Auffassung einen<lb/> richtigen Jdeenkern und vereinfacht in unbilliger Weise eine überaus verwickelte<lb/> Frage. Denn auch auf das alte überkommene Preußentum hat andererseits nicht<lb/> nur die Reichsgründung. sondern schon die Angliederung der westlichen Provinzen<lb/> eine deutlich erkennbare Rückwirkung ausgeübt. Ganz Deutschland hat sich ver-<lb/> preußt, aber auch Preußen, das noch im achtzehnten Jahrhundert nur halb als<lb/> eigentlich deutscher Staat empfunden wurde, hat sich zusehends verdeutscht. Aber<lb/> trotzdem ist es auch heute nicht im Reichsdeutschtum aufgegangen, sondern hat wie<lb/> die anderen Einzelstaaten eine klar heraustretende Eigenart auch im Rahmen des<lb/> neuen Reiches beibehalten. Und der Kaisergedanke mit seinen romantischen Er¬<lb/> innerungen an mittelalterliche Reichsherrlichkeit konnte zwar von sich aus nicht<lb/> zur Reichsgründung führen: dennoch lebte er auch über das Jahr 1848 hinaus<lb/> in den Träumen des gebildeten Bürgertums fort. Und nachdem der große preußische<lb/> Staatsmann statt durch Reden und Versammlungsbeschlüsse die deutsche Einigkeit<lb/> durch Blut und Eisen zusammengeschmiedet hatte, ging auch der alte Kaisergedanke<lb/> als lebendige Kraft in das deutsche ReichZgebilde ein. Irgendwie empfinden wir<lb/> doch alle das junge Deutsche Reich als eine Fortsetzung, als eine Erneuerung des<lb/> alten und sehen unseren Kaiser in einer Reihe mit den erlauchten Herrschern aus<lb/> dem Geschlechte der Karolinger und der Hohenstaufen, so entschieden wir ihn an¬<lb/> dererseits als Enkel und Erben des Großen Kurfürsten, des Soldatenkönigs, und<lb/> Friedrichs des Großen anerkennen und damit diese preußischen Herrscher, mögen<lb/> wir nun selber Preußen oder Bayern oder Württemberger sein, auch in irgend¬<lb/> welcher Form gefühlsmäßig als die unseren in Anspruch nehmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_899" next="#ID_900"> All dies aber weist in die Vergangenheit zurück. Es zeigt, daß auch das<lb/> junge Reich uralte Überlieferungen, tiefe geschichtliche Hintergründe hat. so sehr</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0275]
Die deutsche Arbeiterschaft seit der Reichsgründung
Gefühlsrichtungen bemerken können. Das soll uns den Blick scharf erhalten für
die Gefahr, die noch nicht ganz gebannt ist. Und es lenkt um so mehr die Auf¬
merksamkeit auf die Kräfte, die das Gegengewicht gegen die Auswüchse dieses an
sich gesunden und echt deutschen Sondergeistes darstellen.
Man hat das neue Reich — und besonders unsere Feinde lieben das —
als eine Art Erweiterung Preußens aufgefaßt. Auch das häufig gebrauchte Wort
von Preußen-Deutschland, das für die Süddeutschen keinen gerade sehr lieblichen
Klang hat, weist in diese Richtung. All diesen gefühlsmäßigen Widerständen zum
Trotz läßt sich mancherlei für eine solche Äußerung anführen. Der Baumeister
des neuen Reiches, Bismarck, war Preuße und wurzelte nicht nur fest in den
Traditionen seines Heimatstaates, sondern hat auch die Reichsgründung selber als
die Frucht einer folgerichtigen preußischen Politik erwachsen lassen, nachdem er
selber wesentlich dazu beigetragen hatte, daß der Versuch scheiterte, unmittelbar
aus den Überlieferungen des alten Reiches mit Hilfe des liberalen gemein¬
deutschen Bürgertums das neue Reich zu erwecken. Aber auch wenn man hier¬
von absieht: es ist nicht zu leugnen, daß die Reichsgründung zu etwas wie einer
Verpreußung auch des deutschen Südens geführt hat. Preußische Zucht und Ord¬
nung, preußische Strammheit und Barschheit haben sich — in abgeschwächtem
Maße natürlich — auch im deutschen Süden durchgesetzt. An der Wiege des
neuen deutschen Charakters hat der preußische Geist ohne Zweifel mit an erster
Stelle Pate gestanden.
Trotz allen solchen Zugeständnissen übertreibt eine derartige Auffassung einen
richtigen Jdeenkern und vereinfacht in unbilliger Weise eine überaus verwickelte
Frage. Denn auch auf das alte überkommene Preußentum hat andererseits nicht
nur die Reichsgründung. sondern schon die Angliederung der westlichen Provinzen
eine deutlich erkennbare Rückwirkung ausgeübt. Ganz Deutschland hat sich ver-
preußt, aber auch Preußen, das noch im achtzehnten Jahrhundert nur halb als
eigentlich deutscher Staat empfunden wurde, hat sich zusehends verdeutscht. Aber
trotzdem ist es auch heute nicht im Reichsdeutschtum aufgegangen, sondern hat wie
die anderen Einzelstaaten eine klar heraustretende Eigenart auch im Rahmen des
neuen Reiches beibehalten. Und der Kaisergedanke mit seinen romantischen Er¬
innerungen an mittelalterliche Reichsherrlichkeit konnte zwar von sich aus nicht
zur Reichsgründung führen: dennoch lebte er auch über das Jahr 1848 hinaus
in den Träumen des gebildeten Bürgertums fort. Und nachdem der große preußische
Staatsmann statt durch Reden und Versammlungsbeschlüsse die deutsche Einigkeit
durch Blut und Eisen zusammengeschmiedet hatte, ging auch der alte Kaisergedanke
als lebendige Kraft in das deutsche ReichZgebilde ein. Irgendwie empfinden wir
doch alle das junge Deutsche Reich als eine Fortsetzung, als eine Erneuerung des
alten und sehen unseren Kaiser in einer Reihe mit den erlauchten Herrschern aus
dem Geschlechte der Karolinger und der Hohenstaufen, so entschieden wir ihn an¬
dererseits als Enkel und Erben des Großen Kurfürsten, des Soldatenkönigs, und
Friedrichs des Großen anerkennen und damit diese preußischen Herrscher, mögen
wir nun selber Preußen oder Bayern oder Württemberger sein, auch in irgend¬
welcher Form gefühlsmäßig als die unseren in Anspruch nehmen.
All dies aber weist in die Vergangenheit zurück. Es zeigt, daß auch das
junge Reich uralte Überlieferungen, tiefe geschichtliche Hintergründe hat. so sehr
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