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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Das mitteleuropäische Ariegsziel

Millionen Volksgenossen drüben wären die Opfer wert! Denk man aber so
in den Kreisen, die berufen sind, den Aufbau Mitteleuropas vorzubereiten?
Leider stecken wir viel zu tief in einem politischen Denken, das sich zu sehr um
Absatzmärkte und Flottenstützpunkte, zu.wenig um das Wohl und Wehe der
uns auf Erden geschenkten deutschen Menschen sorgt!

Unseren Beziehungen zu Österreich-Ungarn ist auch die Tatsache nicht
günstig, daß seit Gründung des neuen Reiches das Schwergewicht unserer wirt¬
schaftlichen Interessen und unserer politischen Macht in Norddeutschland liegt.
Die preußische Landwirtschaft, die Schwerindustrie, die hanseatischen Kaufleute
kennen Österreich verhältnismäßig wenig und sehen meist in ihrem unmittel¬
baren Wirkungskreis selten Grund, sich um die Zustände der Donaumonarchie
zu kümmern. Das Gesicht unserer nationalen Expansion war seit Jahrzehnten
der Nordsee und dem Atlantischen Ozean zugekehrt. Und für die allgemeine
Stimmung unserer Gebildeten ist es bedeutungsvoll, daß die politische Romantik
unserer Zeit ebenfalls nach Norden wies. Jede Zeit hat ihre politische Ro¬
mantik, auch wenn sie grundsätzlich "realpolitisch" sein will. Früher war diese
Romantik unseres Volkes nach Süden gerichtet, hohenstaufisch und voll von den
Traditionen des Heiligen Römischen Reiches. Darnach aber kam die nordische
Rassenromantik; wir fühlten uns als Germanen und suchten die Heimat
deutschen Wesens im Norden. Das hat unsere historische Bildung tief be¬
einflußt und mit der historischen auch die politische. Manchen Historikern schien
Heinrich der Löwe ein größerer Nationalheld zu sein als Barbarossa, die nord¬
ostdeutsche Kolonisation wichtiger als die Römerzuge, die Hanseatengeschichte
bedeutender als die der Augsburger und Nürnberger Welschlandfahrer. So
folgte das historische Interesse dem Aufstieg der politischen Macht Norddeutsch¬
lands. Osterreichische Geschichte wurde auf unseren Schulen nur im Rahmen
'der preußischen berücksichtigt. Was man so wenig kennt, dessen historischen und
politischen Wert kann man nicht wahrhaft ermessen. Es fehlt in unserem Ver¬
hältnis zu Osterreich noch zu sehr an der Liebe. Sind wir doch ernstlich im¬
stande, uns unter den Volksgenossen von Tirol und Böhmen im "Ausland"
zu fühlen. Auch der Krieg hat die Verständnislosigkeit in weiten reichsdeutschen
Kreisen noch nicht überwunden, man würde sich sonst etwas mehr Mühe geben,
die wahren Gründe des Versagens mancher österreichisch-ungarischer Truppen¬
teile in dem bösen Willen vieler Slawen und den unendlichen Schwierigkeiten
der Vorbereitung der Mobilmachung wegen der kurzsichtigen Nationalitätenpolitik
in den Parlamenten zu erkennen. Fast ein Jahrzehnt hat z. B. die Hart¬
näckigkeit der Magyaren seinerzeit notwendige Armeereformen verzögert.

AIs Haupthemmungen des mitteleuropäischen Gedankens in Reichsdeutsch¬
land bezeichne ich also den Materialismus unseres politischen Denkens und den
Mangel an verständnisvoller Liebe für die österreichischen Volksgenossen. An
der Überwindung dieser Hemmungen müssen wir arbeiten. Die Schöpfung
Mitteleuropas müßte von unserer populären Kriegszielagitation als wichtigster


Das mitteleuropäische Ariegsziel

Millionen Volksgenossen drüben wären die Opfer wert! Denk man aber so
in den Kreisen, die berufen sind, den Aufbau Mitteleuropas vorzubereiten?
Leider stecken wir viel zu tief in einem politischen Denken, das sich zu sehr um
Absatzmärkte und Flottenstützpunkte, zu.wenig um das Wohl und Wehe der
uns auf Erden geschenkten deutschen Menschen sorgt!

Unseren Beziehungen zu Österreich-Ungarn ist auch die Tatsache nicht
günstig, daß seit Gründung des neuen Reiches das Schwergewicht unserer wirt¬
schaftlichen Interessen und unserer politischen Macht in Norddeutschland liegt.
Die preußische Landwirtschaft, die Schwerindustrie, die hanseatischen Kaufleute
kennen Österreich verhältnismäßig wenig und sehen meist in ihrem unmittel¬
baren Wirkungskreis selten Grund, sich um die Zustände der Donaumonarchie
zu kümmern. Das Gesicht unserer nationalen Expansion war seit Jahrzehnten
der Nordsee und dem Atlantischen Ozean zugekehrt. Und für die allgemeine
Stimmung unserer Gebildeten ist es bedeutungsvoll, daß die politische Romantik
unserer Zeit ebenfalls nach Norden wies. Jede Zeit hat ihre politische Ro¬
mantik, auch wenn sie grundsätzlich „realpolitisch" sein will. Früher war diese
Romantik unseres Volkes nach Süden gerichtet, hohenstaufisch und voll von den
Traditionen des Heiligen Römischen Reiches. Darnach aber kam die nordische
Rassenromantik; wir fühlten uns als Germanen und suchten die Heimat
deutschen Wesens im Norden. Das hat unsere historische Bildung tief be¬
einflußt und mit der historischen auch die politische. Manchen Historikern schien
Heinrich der Löwe ein größerer Nationalheld zu sein als Barbarossa, die nord¬
ostdeutsche Kolonisation wichtiger als die Römerzuge, die Hanseatengeschichte
bedeutender als die der Augsburger und Nürnberger Welschlandfahrer. So
folgte das historische Interesse dem Aufstieg der politischen Macht Norddeutsch¬
lands. Osterreichische Geschichte wurde auf unseren Schulen nur im Rahmen
'der preußischen berücksichtigt. Was man so wenig kennt, dessen historischen und
politischen Wert kann man nicht wahrhaft ermessen. Es fehlt in unserem Ver¬
hältnis zu Osterreich noch zu sehr an der Liebe. Sind wir doch ernstlich im¬
stande, uns unter den Volksgenossen von Tirol und Böhmen im „Ausland"
zu fühlen. Auch der Krieg hat die Verständnislosigkeit in weiten reichsdeutschen
Kreisen noch nicht überwunden, man würde sich sonst etwas mehr Mühe geben,
die wahren Gründe des Versagens mancher österreichisch-ungarischer Truppen¬
teile in dem bösen Willen vieler Slawen und den unendlichen Schwierigkeiten
der Vorbereitung der Mobilmachung wegen der kurzsichtigen Nationalitätenpolitik
in den Parlamenten zu erkennen. Fast ein Jahrzehnt hat z. B. die Hart¬
näckigkeit der Magyaren seinerzeit notwendige Armeereformen verzögert.

AIs Haupthemmungen des mitteleuropäischen Gedankens in Reichsdeutsch¬
land bezeichne ich also den Materialismus unseres politischen Denkens und den
Mangel an verständnisvoller Liebe für die österreichischen Volksgenossen. An
der Überwindung dieser Hemmungen müssen wir arbeiten. Die Schöpfung
Mitteleuropas müßte von unserer populären Kriegszielagitation als wichtigster


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/121>, abgerufen am 01.09.2024.