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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Freimaurer-Jubiläum

Am Johannistage von 1717 machte man aus den vier Logen der Brüderschaft
eine neue Werkstätte, wo in Zukunft gleichgesinnte und gleichgestimmte Männer
zu sittlichen Persönlichkeiten erzogen werden sollten durch symbolische Schulung.
Den alten Symbolen und Ritualen der Werkmaurer legte man zum neuen
Zwecke neue Bedeutung und neue Werte unter. Dieses Vorgehen erklärt sich
ans den Zeitverhältnissen von selbst.

England ist im beginnenden achtzehnten Jahrhundert der führende Kultur¬
staat Europas. Die geistigen Kämpfe, welche seit dem fünfzehnten Jahrhundert
Europa in Unruhe gehalten hatten, kamen hier zuerst zu einem gewissen Still¬
stand. Dazu ist die Geistesart des Engländers unbedenklich schnell zugreifend;
er wird deshalb mit den praktischen Dingen leichter fertig, als andere. Diesen
Charakter trägt auch die englische Freimauerei. Mit praktischem Blick hatten
ihre Gründer erkannt, daß es darauf ankam, ein Werkzeug zu schaffen, dazu
geeignet, die Idee einer interkonfessionellen Einigung der Parteien zu verwirk¬
lichen. Kurz entschlossen schritt man zur Tat, gründete unter dem Schutze der
alten Bauhütten einen Bund und gab ihm Gesetz und Form, die seine Dauer
verbürgten.

Wir stehen am Ende der furchtbaren Bürgerkriege, die mehrere Jahr¬
hunderte Großbritannien durchtobt hatten. Nach Cromwells Tode sehnte sich
jedermann danach, daß die erbitterten Kämpfe um die politische Macht und die
unerquicklichen Zänkereien um den Kirchenglauben endlich aufhörten. Karl der
Zweite bestieg den englischen Thron. Damit begann aber in allen Gesellschafts¬
kreisen ein schamlos unsittliches Leben. Vor allem die Vornehmen überließen
sich einer ungezügelten Sinnenlust; das Tier im Menschen regte sich und die
Politur der Kultur verschwand. Schamlosigkeiten der ungeheuerlichsten Art
waren an der Tagesordnung und was früher für heilig galt, wurde verhöhnt.
Wie einst die Puritaner nie den Mund aufladen, ohne ihre Rede mit Bibelsprüchen
zu verzieren, so gefiel man sich jetzt in den rohesten mit Flüchen gewürzten
Ausdrücken. Der unsaubere Ton griff auch in die Literatur über. Das
Theater war die Pflanzstätte der Unsittlichkeit, und in Schauspielen wie Romanen
gab es keinen Fürsten, der nicht jeder Scham bar, leine Lady, die nicht eine
Dirne war, und keinen Kaufmann, der nicht log und betrog. Von den Kirchen
war Abhilfe nicht zu erwarten; denn ihre Geistlichen waren selbst verkommene
Streber. Die Wissenschaft sollte helfen; vielleicht gelang es, so hoffte man,
der Alchimie. Ganz England glich damals einem ungeheuren chemischen Labo¬
ratorium, in dem Männer und Frauen um die Wette experimentierten. Man
glaubte durch Physik und Chemie aus mystischen Formeln auch die Tugend
herausdestilliereu zu können. Mehr noch erhoffte man aber die sittliche Rettung der
Gesellschaft von den Modephilosophen des siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hunderts, von den Deisten.

Der englische Deismus ist eine Art Religionsphilosophie. Er predigte das
Evangeüium von einer ursprünglich schuldlosen und reinen Menschheit. Seine Ethik


Freimaurer-Jubiläum

Am Johannistage von 1717 machte man aus den vier Logen der Brüderschaft
eine neue Werkstätte, wo in Zukunft gleichgesinnte und gleichgestimmte Männer
zu sittlichen Persönlichkeiten erzogen werden sollten durch symbolische Schulung.
Den alten Symbolen und Ritualen der Werkmaurer legte man zum neuen
Zwecke neue Bedeutung und neue Werte unter. Dieses Vorgehen erklärt sich
ans den Zeitverhältnissen von selbst.

England ist im beginnenden achtzehnten Jahrhundert der führende Kultur¬
staat Europas. Die geistigen Kämpfe, welche seit dem fünfzehnten Jahrhundert
Europa in Unruhe gehalten hatten, kamen hier zuerst zu einem gewissen Still¬
stand. Dazu ist die Geistesart des Engländers unbedenklich schnell zugreifend;
er wird deshalb mit den praktischen Dingen leichter fertig, als andere. Diesen
Charakter trägt auch die englische Freimauerei. Mit praktischem Blick hatten
ihre Gründer erkannt, daß es darauf ankam, ein Werkzeug zu schaffen, dazu
geeignet, die Idee einer interkonfessionellen Einigung der Parteien zu verwirk¬
lichen. Kurz entschlossen schritt man zur Tat, gründete unter dem Schutze der
alten Bauhütten einen Bund und gab ihm Gesetz und Form, die seine Dauer
verbürgten.

Wir stehen am Ende der furchtbaren Bürgerkriege, die mehrere Jahr¬
hunderte Großbritannien durchtobt hatten. Nach Cromwells Tode sehnte sich
jedermann danach, daß die erbitterten Kämpfe um die politische Macht und die
unerquicklichen Zänkereien um den Kirchenglauben endlich aufhörten. Karl der
Zweite bestieg den englischen Thron. Damit begann aber in allen Gesellschafts¬
kreisen ein schamlos unsittliches Leben. Vor allem die Vornehmen überließen
sich einer ungezügelten Sinnenlust; das Tier im Menschen regte sich und die
Politur der Kultur verschwand. Schamlosigkeiten der ungeheuerlichsten Art
waren an der Tagesordnung und was früher für heilig galt, wurde verhöhnt.
Wie einst die Puritaner nie den Mund aufladen, ohne ihre Rede mit Bibelsprüchen
zu verzieren, so gefiel man sich jetzt in den rohesten mit Flüchen gewürzten
Ausdrücken. Der unsaubere Ton griff auch in die Literatur über. Das
Theater war die Pflanzstätte der Unsittlichkeit, und in Schauspielen wie Romanen
gab es keinen Fürsten, der nicht jeder Scham bar, leine Lady, die nicht eine
Dirne war, und keinen Kaufmann, der nicht log und betrog. Von den Kirchen
war Abhilfe nicht zu erwarten; denn ihre Geistlichen waren selbst verkommene
Streber. Die Wissenschaft sollte helfen; vielleicht gelang es, so hoffte man,
der Alchimie. Ganz England glich damals einem ungeheuren chemischen Labo¬
ratorium, in dem Männer und Frauen um die Wette experimentierten. Man
glaubte durch Physik und Chemie aus mystischen Formeln auch die Tugend
herausdestilliereu zu können. Mehr noch erhoffte man aber die sittliche Rettung der
Gesellschaft von den Modephilosophen des siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hunderts, von den Deisten.

Der englische Deismus ist eine Art Religionsphilosophie. Er predigte das
Evangeüium von einer ursprünglich schuldlosen und reinen Menschheit. Seine Ethik


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[0084] Freimaurer-Jubiläum Am Johannistage von 1717 machte man aus den vier Logen der Brüderschaft eine neue Werkstätte, wo in Zukunft gleichgesinnte und gleichgestimmte Männer zu sittlichen Persönlichkeiten erzogen werden sollten durch symbolische Schulung. Den alten Symbolen und Ritualen der Werkmaurer legte man zum neuen Zwecke neue Bedeutung und neue Werte unter. Dieses Vorgehen erklärt sich ans den Zeitverhältnissen von selbst. England ist im beginnenden achtzehnten Jahrhundert der führende Kultur¬ staat Europas. Die geistigen Kämpfe, welche seit dem fünfzehnten Jahrhundert Europa in Unruhe gehalten hatten, kamen hier zuerst zu einem gewissen Still¬ stand. Dazu ist die Geistesart des Engländers unbedenklich schnell zugreifend; er wird deshalb mit den praktischen Dingen leichter fertig, als andere. Diesen Charakter trägt auch die englische Freimauerei. Mit praktischem Blick hatten ihre Gründer erkannt, daß es darauf ankam, ein Werkzeug zu schaffen, dazu geeignet, die Idee einer interkonfessionellen Einigung der Parteien zu verwirk¬ lichen. Kurz entschlossen schritt man zur Tat, gründete unter dem Schutze der alten Bauhütten einen Bund und gab ihm Gesetz und Form, die seine Dauer verbürgten. Wir stehen am Ende der furchtbaren Bürgerkriege, die mehrere Jahr¬ hunderte Großbritannien durchtobt hatten. Nach Cromwells Tode sehnte sich jedermann danach, daß die erbitterten Kämpfe um die politische Macht und die unerquicklichen Zänkereien um den Kirchenglauben endlich aufhörten. Karl der Zweite bestieg den englischen Thron. Damit begann aber in allen Gesellschafts¬ kreisen ein schamlos unsittliches Leben. Vor allem die Vornehmen überließen sich einer ungezügelten Sinnenlust; das Tier im Menschen regte sich und die Politur der Kultur verschwand. Schamlosigkeiten der ungeheuerlichsten Art waren an der Tagesordnung und was früher für heilig galt, wurde verhöhnt. Wie einst die Puritaner nie den Mund aufladen, ohne ihre Rede mit Bibelsprüchen zu verzieren, so gefiel man sich jetzt in den rohesten mit Flüchen gewürzten Ausdrücken. Der unsaubere Ton griff auch in die Literatur über. Das Theater war die Pflanzstätte der Unsittlichkeit, und in Schauspielen wie Romanen gab es keinen Fürsten, der nicht jeder Scham bar, leine Lady, die nicht eine Dirne war, und keinen Kaufmann, der nicht log und betrog. Von den Kirchen war Abhilfe nicht zu erwarten; denn ihre Geistlichen waren selbst verkommene Streber. Die Wissenschaft sollte helfen; vielleicht gelang es, so hoffte man, der Alchimie. Ganz England glich damals einem ungeheuren chemischen Labo¬ ratorium, in dem Männer und Frauen um die Wette experimentierten. Man glaubte durch Physik und Chemie aus mystischen Formeln auch die Tugend herausdestilliereu zu können. Mehr noch erhoffte man aber die sittliche Rettung der Gesellschaft von den Modephilosophen des siebzehnten und achtzehnten Jahr¬ hunderts, von den Deisten. Der englische Deismus ist eine Art Religionsphilosophie. Er predigte das Evangeüium von einer ursprünglich schuldlosen und reinen Menschheit. Seine Ethik

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/84>, abgerufen am 01.07.2024.