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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Freimaurer-Jubiläum

geht von der Stoa des Altertums aus. die damals zur Modephilosophie wieder
ausgelebt war. Der Hauptvertreter des Deismus war der Philosoph Locke, der im
siebzehnten und beginnenden achtzehnten Jahrhundert alle besseren Elemente zu
seinen Anhängern zählte. In zahlreichen moralischen Wochenschriften kritisierten die
Deisten ihre Zeit und suchten sie dadurch zu bessern. Der Sitte der Zeit ent¬
sprechend gründeten sie aber auch geheime Gesellschaften, welche sich dieser Aufgabe
mit anerkennenswerten Eifer und nicht ohne Erfolg widmeten. Zu diesen ge¬
hörte die symbolische Freimauerei, die nach Hettners Urteil das philosophische
System des Deismus ins praktische Leben eingeführt und in eine Liturgie
gefaßt hat. Die Toleranzbriefe Lockes werben für Duldung gegen jede religiöse
Ansicht und Gemeinschaft als Recht, Pflicht und Bedürfnis. Duldung ist auch
das Hauptunterscheidungszeichen der wahren Kirche; denn der Zweck der christ¬
lichen Religion besteht darin, das Leben der Menschen nach den Gesetzen der
Tugend und Frömmigkeit zu regeln. In der Sorge, durch Streitigkeiten über
politische oder religiöse Dinge die Schrecken -der Bürgerkriege wieder herauf¬
zubeschwören, vermieden es die Deisten, überhaupt darüber zu reden und erörterten
nur noch rein menschliche und ethische Fragen, die sie auf die reine Vernunft, auf
die lex naturae und das lumon naturale, zurückführten. Die Sittenlehre des
Deismus ist heute restlos in das Denken und Fühlen des Engländers über¬
gegangen. Dem englischen Aufklärungsmenschen paßte ja besonders der Ernst,
mit dem die Stoiker von Tugend und Sünde redeten, ohne sich von beiden
im praktischen Leben allzuviel behelligen zu lassen; denn die Kasuistik der Stoa
kam dem "Carl", diesem Nationallaster des Engländers, sehr willkommen.

Auch die Glücksseligkeitslehre der Stoa war dem Engländer sympathisch.
Ihr höchstes Lebensziel, eben diese Glücksseligkeit, deckt sich mit Tugend. Unter
beiden versteht sie das naturgemäße Leben, oder die Übereinstimmung des
menschlichen Verhaltens mit dem Naturgesetz, mit der Vernunft in der Welt.
Gerade das wollte ja das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert erreichen: die
rein intellektualistisch orientierte Vernunft, durch die der Mensch das Grund-
gesetz und die Ordnung des Weltalls erkennt, und die Tugend, d. h. die Über¬
einstimmung mit sich selbst, als wesentlich gleichbedeutend und sich deckend.
Überall im damaligen wie noch im jetzigen England sehen wir denn auch das
Behagen, die Verstandesmäßigkeit des stoischen Tugendbegriffes mit dem echt
stoischen philiströsen Tugendstolz sich breit machen, und noch heute trägt die
englische Freimauerei diese deistisch-stoische Herkunft als Muttermal an sich.

Endlich war der universalistische, rein menschliche Zug. den die stoisch-
deistische Ethik in ihrem Satz vom Weltbürgertum aller Menschen hat. dem
Engländer jener Tage, wie dem heutigen, hoch willkommen. Nach dieser Lehre
ist allen Menschen ein moralisches Fühlen angeboren, das nur durch die Schuld
herrschsüchtiger Priester nicht mehr überall rein und naturgemäß zum Ausdruck
kommt. Es bedarf erst einer vernunftgemäßen Erziehung, um wieder rein in die
Erscheinung zu treten. Diese Erziehung gilt aber nur den oberen Zehntausend,


Freimaurer-Jubiläum

geht von der Stoa des Altertums aus. die damals zur Modephilosophie wieder
ausgelebt war. Der Hauptvertreter des Deismus war der Philosoph Locke, der im
siebzehnten und beginnenden achtzehnten Jahrhundert alle besseren Elemente zu
seinen Anhängern zählte. In zahlreichen moralischen Wochenschriften kritisierten die
Deisten ihre Zeit und suchten sie dadurch zu bessern. Der Sitte der Zeit ent¬
sprechend gründeten sie aber auch geheime Gesellschaften, welche sich dieser Aufgabe
mit anerkennenswerten Eifer und nicht ohne Erfolg widmeten. Zu diesen ge¬
hörte die symbolische Freimauerei, die nach Hettners Urteil das philosophische
System des Deismus ins praktische Leben eingeführt und in eine Liturgie
gefaßt hat. Die Toleranzbriefe Lockes werben für Duldung gegen jede religiöse
Ansicht und Gemeinschaft als Recht, Pflicht und Bedürfnis. Duldung ist auch
das Hauptunterscheidungszeichen der wahren Kirche; denn der Zweck der christ¬
lichen Religion besteht darin, das Leben der Menschen nach den Gesetzen der
Tugend und Frömmigkeit zu regeln. In der Sorge, durch Streitigkeiten über
politische oder religiöse Dinge die Schrecken -der Bürgerkriege wieder herauf¬
zubeschwören, vermieden es die Deisten, überhaupt darüber zu reden und erörterten
nur noch rein menschliche und ethische Fragen, die sie auf die reine Vernunft, auf
die lex naturae und das lumon naturale, zurückführten. Die Sittenlehre des
Deismus ist heute restlos in das Denken und Fühlen des Engländers über¬
gegangen. Dem englischen Aufklärungsmenschen paßte ja besonders der Ernst,
mit dem die Stoiker von Tugend und Sünde redeten, ohne sich von beiden
im praktischen Leben allzuviel behelligen zu lassen; denn die Kasuistik der Stoa
kam dem „Carl", diesem Nationallaster des Engländers, sehr willkommen.

Auch die Glücksseligkeitslehre der Stoa war dem Engländer sympathisch.
Ihr höchstes Lebensziel, eben diese Glücksseligkeit, deckt sich mit Tugend. Unter
beiden versteht sie das naturgemäße Leben, oder die Übereinstimmung des
menschlichen Verhaltens mit dem Naturgesetz, mit der Vernunft in der Welt.
Gerade das wollte ja das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert erreichen: die
rein intellektualistisch orientierte Vernunft, durch die der Mensch das Grund-
gesetz und die Ordnung des Weltalls erkennt, und die Tugend, d. h. die Über¬
einstimmung mit sich selbst, als wesentlich gleichbedeutend und sich deckend.
Überall im damaligen wie noch im jetzigen England sehen wir denn auch das
Behagen, die Verstandesmäßigkeit des stoischen Tugendbegriffes mit dem echt
stoischen philiströsen Tugendstolz sich breit machen, und noch heute trägt die
englische Freimauerei diese deistisch-stoische Herkunft als Muttermal an sich.

Endlich war der universalistische, rein menschliche Zug. den die stoisch-
deistische Ethik in ihrem Satz vom Weltbürgertum aller Menschen hat. dem
Engländer jener Tage, wie dem heutigen, hoch willkommen. Nach dieser Lehre
ist allen Menschen ein moralisches Fühlen angeboren, das nur durch die Schuld
herrschsüchtiger Priester nicht mehr überall rein und naturgemäß zum Ausdruck
kommt. Es bedarf erst einer vernunftgemäßen Erziehung, um wieder rein in die
Erscheinung zu treten. Diese Erziehung gilt aber nur den oberen Zehntausend,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/85>, abgerufen am 01.07.2024.