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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Kolonialherrschaft,'

politische Mittel. Doch inzwischen hat sich dieser positiv gewordenen Monroe-
Doktrin in Südamerika bereits die Drogo-Doktrin (Südamerika den Süd¬
amerikanern) entgegengestellt.*) Dieser Widerstand drückt sie nach Norden zurück
und in sich selber hinein, so daß sich ihr angelsächsisches Wesen verdichten und
seitwärts Luft schaffen muß. Damit würde der nordamerikanische Kontinent
mehr und mehr die gesamte angelsächsische Lebenserscheinung ansaugen, die sich
dort zentralisiert. Und indem sie das tut, löst sie ihre Ursprungsbeziehungen
zum Europäertum endgültig ab und rückt gleichzeitig, durch das Schwergewicht
ihrer eigenen Lebensinteressen, die Hauptfront des amerikanischen Erdteils nach
Westen. Immerhin können wir uns ein künftiges angelsächsisches Gesamtreich
vorstellen, dessen Zentrum einst weder in London, noch in Washington oder
New Uork, sondern in Vancouver oder Se. Franzisko sein wird.

Folgendermaßen ist bereits augenblicklich die geschichtsgeographische Situation.
Nicht von den Engländern, sondern von Australiern und Japanern wurden die
deutschen Kolonien am Becken des Stillen Ozeans erobert. Selbst die britischen
Besitzungen in diesem Gebiet werden schon heute nicht mehr von England aus
gehalten, sondern von Australien, Neuseeland und Kanada aus, und die Zeit
ist nicht fern, wo sie nur durch Kanada und Australien oder überhaupt nicht
mehr zu halten sein werden. Jedenfalls nicht mehr für den eigentlich eng¬
lischen Zweck. Statt bloß mit den allernächsten Jahrzehnten der Geschichts¬
entwicklung zu rechnen, braucht man nur in größeren Maßstäben die kommende
Zeit zu übersehen, um begreifen zu können, daß es mit der Dauer von Eng¬
lands kolonialpolitischer Stellung am Stillen Ozean und in Ostasien bald ebenso
vorbei sein wird, wie es dort mit der deutschen Kolonialpolitik vorbei ist.

Man redet noch gern von der "Aufgabe" europäischer Mächte, China eine
Wiedergeburt zu verschaffen oder es zu "kapitalisieren", damit es sich nach dem
Muster der PünÄration Pacifique kolonialpolitisch bewältigen ließe. Solche
Versuche würden aussichtslos sein. Denn die "Wiedergeburt" dieser uralten,
reif ausgewachsenen und in ihrer Reife unverständlichen Kultur einer Völker¬
einheit von dreihundertdreißig Millionen Menschen ist für Fremdkulturelle ein
lächerliches Programm. Allen kolonialwirtschaftlichen Entwürfen träte aber erst
einmal die nähere und mächtigere Geldkraft der Nordamerikaner entgegen. Und
sodann stünde gegen beides die unleugbare geschichtliche Tatsache auf, daß sich
mit dieser Millioneneinhcit und mit dieser Kultur das moderne Japan (dessen
Imperium zurzeit über zweiundsiebzig Millionen Menschen verfügt) in jedem
Sinne enge berührt und daß die japanische Wirtschafts- und Militärenergie in
diese tausendjährige Masse planmäßig eindringt, um aus dem ganzen gelben
Ostasien einen Weltmachtfaktor ersten Ranges zu machen. Deshalb könnte die



*) Die Haltung Brasiliens, die nur zum geringeren Teile auf nordamerikanische Ein¬
flüsse zurückzuführen ist, beweist noch nichts dagegen. Denn die südamerikanische Führung
liegt längst in argentinischen Händen.
Kolonialherrschaft,'

politische Mittel. Doch inzwischen hat sich dieser positiv gewordenen Monroe-
Doktrin in Südamerika bereits die Drogo-Doktrin (Südamerika den Süd¬
amerikanern) entgegengestellt.*) Dieser Widerstand drückt sie nach Norden zurück
und in sich selber hinein, so daß sich ihr angelsächsisches Wesen verdichten und
seitwärts Luft schaffen muß. Damit würde der nordamerikanische Kontinent
mehr und mehr die gesamte angelsächsische Lebenserscheinung ansaugen, die sich
dort zentralisiert. Und indem sie das tut, löst sie ihre Ursprungsbeziehungen
zum Europäertum endgültig ab und rückt gleichzeitig, durch das Schwergewicht
ihrer eigenen Lebensinteressen, die Hauptfront des amerikanischen Erdteils nach
Westen. Immerhin können wir uns ein künftiges angelsächsisches Gesamtreich
vorstellen, dessen Zentrum einst weder in London, noch in Washington oder
New Uork, sondern in Vancouver oder Se. Franzisko sein wird.

Folgendermaßen ist bereits augenblicklich die geschichtsgeographische Situation.
Nicht von den Engländern, sondern von Australiern und Japanern wurden die
deutschen Kolonien am Becken des Stillen Ozeans erobert. Selbst die britischen
Besitzungen in diesem Gebiet werden schon heute nicht mehr von England aus
gehalten, sondern von Australien, Neuseeland und Kanada aus, und die Zeit
ist nicht fern, wo sie nur durch Kanada und Australien oder überhaupt nicht
mehr zu halten sein werden. Jedenfalls nicht mehr für den eigentlich eng¬
lischen Zweck. Statt bloß mit den allernächsten Jahrzehnten der Geschichts¬
entwicklung zu rechnen, braucht man nur in größeren Maßstäben die kommende
Zeit zu übersehen, um begreifen zu können, daß es mit der Dauer von Eng¬
lands kolonialpolitischer Stellung am Stillen Ozean und in Ostasien bald ebenso
vorbei sein wird, wie es dort mit der deutschen Kolonialpolitik vorbei ist.

Man redet noch gern von der „Aufgabe" europäischer Mächte, China eine
Wiedergeburt zu verschaffen oder es zu „kapitalisieren", damit es sich nach dem
Muster der PünÄration Pacifique kolonialpolitisch bewältigen ließe. Solche
Versuche würden aussichtslos sein. Denn die „Wiedergeburt" dieser uralten,
reif ausgewachsenen und in ihrer Reife unverständlichen Kultur einer Völker¬
einheit von dreihundertdreißig Millionen Menschen ist für Fremdkulturelle ein
lächerliches Programm. Allen kolonialwirtschaftlichen Entwürfen träte aber erst
einmal die nähere und mächtigere Geldkraft der Nordamerikaner entgegen. Und
sodann stünde gegen beides die unleugbare geschichtliche Tatsache auf, daß sich
mit dieser Millioneneinhcit und mit dieser Kultur das moderne Japan (dessen
Imperium zurzeit über zweiundsiebzig Millionen Menschen verfügt) in jedem
Sinne enge berührt und daß die japanische Wirtschafts- und Militärenergie in
diese tausendjährige Masse planmäßig eindringt, um aus dem ganzen gelben
Ostasien einen Weltmachtfaktor ersten Ranges zu machen. Deshalb könnte die



*) Die Haltung Brasiliens, die nur zum geringeren Teile auf nordamerikanische Ein¬
flüsse zurückzuführen ist, beweist noch nichts dagegen. Denn die südamerikanische Führung
liegt längst in argentinischen Händen.
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[0070] Kolonialherrschaft,' politische Mittel. Doch inzwischen hat sich dieser positiv gewordenen Monroe- Doktrin in Südamerika bereits die Drogo-Doktrin (Südamerika den Süd¬ amerikanern) entgegengestellt.*) Dieser Widerstand drückt sie nach Norden zurück und in sich selber hinein, so daß sich ihr angelsächsisches Wesen verdichten und seitwärts Luft schaffen muß. Damit würde der nordamerikanische Kontinent mehr und mehr die gesamte angelsächsische Lebenserscheinung ansaugen, die sich dort zentralisiert. Und indem sie das tut, löst sie ihre Ursprungsbeziehungen zum Europäertum endgültig ab und rückt gleichzeitig, durch das Schwergewicht ihrer eigenen Lebensinteressen, die Hauptfront des amerikanischen Erdteils nach Westen. Immerhin können wir uns ein künftiges angelsächsisches Gesamtreich vorstellen, dessen Zentrum einst weder in London, noch in Washington oder New Uork, sondern in Vancouver oder Se. Franzisko sein wird. Folgendermaßen ist bereits augenblicklich die geschichtsgeographische Situation. Nicht von den Engländern, sondern von Australiern und Japanern wurden die deutschen Kolonien am Becken des Stillen Ozeans erobert. Selbst die britischen Besitzungen in diesem Gebiet werden schon heute nicht mehr von England aus gehalten, sondern von Australien, Neuseeland und Kanada aus, und die Zeit ist nicht fern, wo sie nur durch Kanada und Australien oder überhaupt nicht mehr zu halten sein werden. Jedenfalls nicht mehr für den eigentlich eng¬ lischen Zweck. Statt bloß mit den allernächsten Jahrzehnten der Geschichts¬ entwicklung zu rechnen, braucht man nur in größeren Maßstäben die kommende Zeit zu übersehen, um begreifen zu können, daß es mit der Dauer von Eng¬ lands kolonialpolitischer Stellung am Stillen Ozean und in Ostasien bald ebenso vorbei sein wird, wie es dort mit der deutschen Kolonialpolitik vorbei ist. Man redet noch gern von der „Aufgabe" europäischer Mächte, China eine Wiedergeburt zu verschaffen oder es zu „kapitalisieren", damit es sich nach dem Muster der PünÄration Pacifique kolonialpolitisch bewältigen ließe. Solche Versuche würden aussichtslos sein. Denn die „Wiedergeburt" dieser uralten, reif ausgewachsenen und in ihrer Reife unverständlichen Kultur einer Völker¬ einheit von dreihundertdreißig Millionen Menschen ist für Fremdkulturelle ein lächerliches Programm. Allen kolonialwirtschaftlichen Entwürfen träte aber erst einmal die nähere und mächtigere Geldkraft der Nordamerikaner entgegen. Und sodann stünde gegen beides die unleugbare geschichtliche Tatsache auf, daß sich mit dieser Millioneneinhcit und mit dieser Kultur das moderne Japan (dessen Imperium zurzeit über zweiundsiebzig Millionen Menschen verfügt) in jedem Sinne enge berührt und daß die japanische Wirtschafts- und Militärenergie in diese tausendjährige Masse planmäßig eindringt, um aus dem ganzen gelben Ostasien einen Weltmachtfaktor ersten Ranges zu machen. Deshalb könnte die *) Die Haltung Brasiliens, die nur zum geringeren Teile auf nordamerikanische Ein¬ flüsse zurückzuführen ist, beweist noch nichts dagegen. Denn die südamerikanische Führung liegt längst in argentinischen Händen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/70>, abgerufen am 01.07.2024.