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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Kolonialherrschaft?

angelsächsische Autorität, über die es verfügt, sich dort gleichsam auf einheimische
Kräfte zu stützen vermag: auf die Dominions. Aber gerade diese Dominions
sind der Sitz für einen selbständigen Überseecharakter im Gedanken des All-
britentums. Sie führen ein eigenes Leben. Es wachsen in ihnen Schwer¬
punkte heran, die sich nach eigenem Gewichte bewegen, so daß ihr britischer
Charakter einmal einen kanadischen oder australischen Nationalismus über das
europäische Engländertum stellen könnte. Womit das allgemein-angelsächsische
Wesen vom Engländertum sich emanzipiert. Einer solchen Loslösung oder
Verschiebung stünde bei den Dominions nur der Respekt im Wege, den sie vor
der englischen Regierungsgewalt im Gesamtreiche haben, und dieser Respekt
wird ebenso von der Achtung vor Englands Seemacht und Kolonialherrschaft
aufrechterhalten, wie andererseits der Wert der Dominions als zuverlässiger
Basis eben diese Seemacht und Kolonialherrschaft aufrechterhält. (Weitaus
der größte Teil der Südseeinseln ist im Besitz Englands.) Das englische
Mutterland verfährt so geschickt und ist darauf angewiesen, so geschickt ver¬
fahren zu müssen, daß es seinen allbritisch-angelsächsischen und seinen kolonial¬
politischen Imperialismus in der pazifischen Welt gleichzeitig, abwechselnd und
gegeneinander, als Zweck und als Mittel verwendet. Aber in keinem Punkte
treffen Zweck und Mittel in eins. Sie kreuzen sich nur immer wieder. Diese
Kreuzung müßte zu einer akuten Konfliktsmöglichkeit werden, sobald die tat¬
sächliche Kraft des englischen Herrschaftswillens nicht mehr ausreichend ist, sie
zu einem Knoten zu knüpfen. Und vielleicht darf es zweifelhaft sein, ob
England noch die Kraft hätte, alle Verflechtungen ganz zu durchgreifen, falls
der Konflikt von außen her zur Entladung gebracht werden sollte. Bei der
nordamerikanischen Union würde beides, Mittel und Zweck, nationale Macht¬
entfaltung und Selbstbehauptung der angelsächsischen Welt, zusammenfallen in
eine und dieselbe politische Idee. Darum liegt in der Ostasienpolitik und am
Becken des pazifischen Ozeans die eigentliche Gefahrzone für Englands An¬
spruch auf seine Stellung als repräsentative angelsächsische Macht.

Unterrichtete Sachkenner sprachen mitunter davon, daß man jenseits des
Kanals vielleicht daran denke oder wenigstens daran gedacht habe, aus der
Chinapolitik einen Ausgangspunkt für eine "Umgruppierung" der Mächte nach
dem Kriege zu machen. Dieser Einfall soll dort in Zusammenhang gestanden
haben mit der Erwägung, ob es ratsam sei, die nordamerikanische Union (als
sie noch neutral war) zum sogenannten Friedenskongresse heranzuziehen oder
nicht. Wenn jene Vermutungen etwas Wahres treffen, so lägen die englischen
Absichten deutlich genug. Die Amerikafreunde setzten sich ohne Umschweife von
Anfang an dafür ein: Englands allgemein angelsächsische Geltung und Autorität,
an deren unverrückbare Stärke sie glauben, in die Zwecke des alten Kolonial¬
systems einzuspannen, um mit ihrer Hilfe die englische kolonialpolitische Stellung
in Ostasien und "in Stillen Ozean neu zu befestigen. Diese Neigung scheint
sich noch mehr gegen Japan zu richten als gegen uns. Und die anderen, die


Kolonialherrschaft?

angelsächsische Autorität, über die es verfügt, sich dort gleichsam auf einheimische
Kräfte zu stützen vermag: auf die Dominions. Aber gerade diese Dominions
sind der Sitz für einen selbständigen Überseecharakter im Gedanken des All-
britentums. Sie führen ein eigenes Leben. Es wachsen in ihnen Schwer¬
punkte heran, die sich nach eigenem Gewichte bewegen, so daß ihr britischer
Charakter einmal einen kanadischen oder australischen Nationalismus über das
europäische Engländertum stellen könnte. Womit das allgemein-angelsächsische
Wesen vom Engländertum sich emanzipiert. Einer solchen Loslösung oder
Verschiebung stünde bei den Dominions nur der Respekt im Wege, den sie vor
der englischen Regierungsgewalt im Gesamtreiche haben, und dieser Respekt
wird ebenso von der Achtung vor Englands Seemacht und Kolonialherrschaft
aufrechterhalten, wie andererseits der Wert der Dominions als zuverlässiger
Basis eben diese Seemacht und Kolonialherrschaft aufrechterhält. (Weitaus
der größte Teil der Südseeinseln ist im Besitz Englands.) Das englische
Mutterland verfährt so geschickt und ist darauf angewiesen, so geschickt ver¬
fahren zu müssen, daß es seinen allbritisch-angelsächsischen und seinen kolonial¬
politischen Imperialismus in der pazifischen Welt gleichzeitig, abwechselnd und
gegeneinander, als Zweck und als Mittel verwendet. Aber in keinem Punkte
treffen Zweck und Mittel in eins. Sie kreuzen sich nur immer wieder. Diese
Kreuzung müßte zu einer akuten Konfliktsmöglichkeit werden, sobald die tat¬
sächliche Kraft des englischen Herrschaftswillens nicht mehr ausreichend ist, sie
zu einem Knoten zu knüpfen. Und vielleicht darf es zweifelhaft sein, ob
England noch die Kraft hätte, alle Verflechtungen ganz zu durchgreifen, falls
der Konflikt von außen her zur Entladung gebracht werden sollte. Bei der
nordamerikanischen Union würde beides, Mittel und Zweck, nationale Macht¬
entfaltung und Selbstbehauptung der angelsächsischen Welt, zusammenfallen in
eine und dieselbe politische Idee. Darum liegt in der Ostasienpolitik und am
Becken des pazifischen Ozeans die eigentliche Gefahrzone für Englands An¬
spruch auf seine Stellung als repräsentative angelsächsische Macht.

Unterrichtete Sachkenner sprachen mitunter davon, daß man jenseits des
Kanals vielleicht daran denke oder wenigstens daran gedacht habe, aus der
Chinapolitik einen Ausgangspunkt für eine „Umgruppierung" der Mächte nach
dem Kriege zu machen. Dieser Einfall soll dort in Zusammenhang gestanden
haben mit der Erwägung, ob es ratsam sei, die nordamerikanische Union (als
sie noch neutral war) zum sogenannten Friedenskongresse heranzuziehen oder
nicht. Wenn jene Vermutungen etwas Wahres treffen, so lägen die englischen
Absichten deutlich genug. Die Amerikafreunde setzten sich ohne Umschweife von
Anfang an dafür ein: Englands allgemein angelsächsische Geltung und Autorität,
an deren unverrückbare Stärke sie glauben, in die Zwecke des alten Kolonial¬
systems einzuspannen, um mit ihrer Hilfe die englische kolonialpolitische Stellung
in Ostasien und «in Stillen Ozean neu zu befestigen. Diese Neigung scheint
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[0068] Kolonialherrschaft? angelsächsische Autorität, über die es verfügt, sich dort gleichsam auf einheimische Kräfte zu stützen vermag: auf die Dominions. Aber gerade diese Dominions sind der Sitz für einen selbständigen Überseecharakter im Gedanken des All- britentums. Sie führen ein eigenes Leben. Es wachsen in ihnen Schwer¬ punkte heran, die sich nach eigenem Gewichte bewegen, so daß ihr britischer Charakter einmal einen kanadischen oder australischen Nationalismus über das europäische Engländertum stellen könnte. Womit das allgemein-angelsächsische Wesen vom Engländertum sich emanzipiert. Einer solchen Loslösung oder Verschiebung stünde bei den Dominions nur der Respekt im Wege, den sie vor der englischen Regierungsgewalt im Gesamtreiche haben, und dieser Respekt wird ebenso von der Achtung vor Englands Seemacht und Kolonialherrschaft aufrechterhalten, wie andererseits der Wert der Dominions als zuverlässiger Basis eben diese Seemacht und Kolonialherrschaft aufrechterhält. (Weitaus der größte Teil der Südseeinseln ist im Besitz Englands.) Das englische Mutterland verfährt so geschickt und ist darauf angewiesen, so geschickt ver¬ fahren zu müssen, daß es seinen allbritisch-angelsächsischen und seinen kolonial¬ politischen Imperialismus in der pazifischen Welt gleichzeitig, abwechselnd und gegeneinander, als Zweck und als Mittel verwendet. Aber in keinem Punkte treffen Zweck und Mittel in eins. Sie kreuzen sich nur immer wieder. Diese Kreuzung müßte zu einer akuten Konfliktsmöglichkeit werden, sobald die tat¬ sächliche Kraft des englischen Herrschaftswillens nicht mehr ausreichend ist, sie zu einem Knoten zu knüpfen. Und vielleicht darf es zweifelhaft sein, ob England noch die Kraft hätte, alle Verflechtungen ganz zu durchgreifen, falls der Konflikt von außen her zur Entladung gebracht werden sollte. Bei der nordamerikanischen Union würde beides, Mittel und Zweck, nationale Macht¬ entfaltung und Selbstbehauptung der angelsächsischen Welt, zusammenfallen in eine und dieselbe politische Idee. Darum liegt in der Ostasienpolitik und am Becken des pazifischen Ozeans die eigentliche Gefahrzone für Englands An¬ spruch auf seine Stellung als repräsentative angelsächsische Macht. Unterrichtete Sachkenner sprachen mitunter davon, daß man jenseits des Kanals vielleicht daran denke oder wenigstens daran gedacht habe, aus der Chinapolitik einen Ausgangspunkt für eine „Umgruppierung" der Mächte nach dem Kriege zu machen. Dieser Einfall soll dort in Zusammenhang gestanden haben mit der Erwägung, ob es ratsam sei, die nordamerikanische Union (als sie noch neutral war) zum sogenannten Friedenskongresse heranzuziehen oder nicht. Wenn jene Vermutungen etwas Wahres treffen, so lägen die englischen Absichten deutlich genug. Die Amerikafreunde setzten sich ohne Umschweife von Anfang an dafür ein: Englands allgemein angelsächsische Geltung und Autorität, an deren unverrückbare Stärke sie glauben, in die Zwecke des alten Kolonial¬ systems einzuspannen, um mit ihrer Hilfe die englische kolonialpolitische Stellung in Ostasien und «in Stillen Ozean neu zu befestigen. Diese Neigung scheint sich noch mehr gegen Japan zu richten als gegen uns. Und die anderen, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/68>, abgerufen am 01.07.2024.