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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Kolonialherrschaft?

eine zum mindesten nebengeordnete und jedenfalls selbständige Menschheits¬
gattung erscheint. Die Solidarität des Angelsachsentums ist eine Gefühls¬
tatsache, die auch den Trieb zu einheitlichen Handlungen hat, wie der Krieg
es bewies. Dennoch bleibt sie in ihren Willensmomenten dualistisch gespalten.
Schon deswegen, weil sie von zwei staatsrechtlich getrennten Mächten vertreten
wird: vom britischen Reiche und von der Union.

Durch seine überlieferte Stellung als regierendes Ursprungsvolk "in
britischen Reiche hat das europäische England immer noch die Vormacht des
Gesamtangelsachsentums in der Hand. Auch die Union erkennt Englands
angelsächsische Autorität und führende Rolle der Sache nach an. Aber es ist
Gemeingut aller politischen Weisheit, daß am Stillen Ozean die unmittelbare
Nähe der Union und der Vorsprung ihrer unmittelbarsten Lebensinteressen,
daß überhaupt der Zwang ihrer in jeder Beziehung massigen Überlegenheit
gerade da ihr einmal eine Führung aufnötigen könnte. Durch die bloße Tat¬
sache ihres Daseins und der Beschaffenheit ihres Daseins ist sie dort exponiert.
Sie wird am ehesten getroffen von einer Gefahr, und je größer die Gefahr,
desto mehr muß ihre Verantwortung steigen. In gewissem Sinne hat Nord¬
amerika die Führung bereits übernommen, als es durch seine kapitalistischen
Kunststücke Chinas indirekte Beteiligung am Kriege bewirkte. Indem
es die Furcht des chinesischen Reiches vor Japan benutzte, sucht es dieses
Reich für das angelsächsische Gemeininteresse mit Beschlag zu belegen. Es
tat genau dasselbe, was England vor zwei Jahren mißlang. Doch inner¬
halb des angelsächsischen Gemeininteresses gibt es im Verhältnis zwischen Eng¬
land und der Union somit schon Ansätze zu einer Art von Rivalität. Diese
Rivalität wird nun erst dadurch richtig in die politischen Wirklichkeiten gebracht,
daß ebenfalls gerade in der pazifischen Welt das englische Interesse und das
angelsächsische Gesamtinteresse sich keinesfalls decken. Denn neben der Über¬
lieferung, die ihm dort die Aufgabe zuweist, für das Angelsachsentum das erste
Wort zu behalten, ist Englands Position am Becken der pazifischen See einfach
interozeanische Flotten- und Kolonialpolitik. Beide Interessenrichtungen sind
allerdings geschichtlich miteinander entstanden. Dennoch gehen sie jetzt aus¬
einander, da sie in der modernen Zeit auf einem Gegensatze in der Entwicklung
beruhen. Es ist der Gegensatz zwischen einem neuen altbritischen und dem
spezifisch englischen, rein kolonialpolitischen Imperialismus. Jeder weiß, wie
in der Japanfrage der angelsächsische Nationalgedanke Australiens und die eng¬
lische Ostasienpolitik sich schon heute nur schwer und kaum noch ineinander zu¬
rechtfinden können. Nichtsdestoweniger bleiben beide Interessenrichtungen, weil
sie zusammen entstanden sind, für England selber in einer gegenseitigen Wechsel¬
beziehung, die sich an seinem Herrschaftswillen orientiert.

Das Mutterland kann als europäischer Staat seinen kolonialpolitischen
Imperialismus in der pazifischen Sphäre gegenwärtig nur noch deshalb fort¬
führen, weil es durch seine "altbritische" Neichsmacht, d. h. zuletzt durch die


Kolonialherrschaft?

eine zum mindesten nebengeordnete und jedenfalls selbständige Menschheits¬
gattung erscheint. Die Solidarität des Angelsachsentums ist eine Gefühls¬
tatsache, die auch den Trieb zu einheitlichen Handlungen hat, wie der Krieg
es bewies. Dennoch bleibt sie in ihren Willensmomenten dualistisch gespalten.
Schon deswegen, weil sie von zwei staatsrechtlich getrennten Mächten vertreten
wird: vom britischen Reiche und von der Union.

Durch seine überlieferte Stellung als regierendes Ursprungsvolk «in
britischen Reiche hat das europäische England immer noch die Vormacht des
Gesamtangelsachsentums in der Hand. Auch die Union erkennt Englands
angelsächsische Autorität und führende Rolle der Sache nach an. Aber es ist
Gemeingut aller politischen Weisheit, daß am Stillen Ozean die unmittelbare
Nähe der Union und der Vorsprung ihrer unmittelbarsten Lebensinteressen,
daß überhaupt der Zwang ihrer in jeder Beziehung massigen Überlegenheit
gerade da ihr einmal eine Führung aufnötigen könnte. Durch die bloße Tat¬
sache ihres Daseins und der Beschaffenheit ihres Daseins ist sie dort exponiert.
Sie wird am ehesten getroffen von einer Gefahr, und je größer die Gefahr,
desto mehr muß ihre Verantwortung steigen. In gewissem Sinne hat Nord¬
amerika die Führung bereits übernommen, als es durch seine kapitalistischen
Kunststücke Chinas indirekte Beteiligung am Kriege bewirkte. Indem
es die Furcht des chinesischen Reiches vor Japan benutzte, sucht es dieses
Reich für das angelsächsische Gemeininteresse mit Beschlag zu belegen. Es
tat genau dasselbe, was England vor zwei Jahren mißlang. Doch inner¬
halb des angelsächsischen Gemeininteresses gibt es im Verhältnis zwischen Eng¬
land und der Union somit schon Ansätze zu einer Art von Rivalität. Diese
Rivalität wird nun erst dadurch richtig in die politischen Wirklichkeiten gebracht,
daß ebenfalls gerade in der pazifischen Welt das englische Interesse und das
angelsächsische Gesamtinteresse sich keinesfalls decken. Denn neben der Über¬
lieferung, die ihm dort die Aufgabe zuweist, für das Angelsachsentum das erste
Wort zu behalten, ist Englands Position am Becken der pazifischen See einfach
interozeanische Flotten- und Kolonialpolitik. Beide Interessenrichtungen sind
allerdings geschichtlich miteinander entstanden. Dennoch gehen sie jetzt aus¬
einander, da sie in der modernen Zeit auf einem Gegensatze in der Entwicklung
beruhen. Es ist der Gegensatz zwischen einem neuen altbritischen und dem
spezifisch englischen, rein kolonialpolitischen Imperialismus. Jeder weiß, wie
in der Japanfrage der angelsächsische Nationalgedanke Australiens und die eng¬
lische Ostasienpolitik sich schon heute nur schwer und kaum noch ineinander zu¬
rechtfinden können. Nichtsdestoweniger bleiben beide Interessenrichtungen, weil
sie zusammen entstanden sind, für England selber in einer gegenseitigen Wechsel¬
beziehung, die sich an seinem Herrschaftswillen orientiert.

Das Mutterland kann als europäischer Staat seinen kolonialpolitischen
Imperialismus in der pazifischen Sphäre gegenwärtig nur noch deshalb fort¬
führen, weil es durch seine „altbritische" Neichsmacht, d. h. zuletzt durch die


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[0067] Kolonialherrschaft? eine zum mindesten nebengeordnete und jedenfalls selbständige Menschheits¬ gattung erscheint. Die Solidarität des Angelsachsentums ist eine Gefühls¬ tatsache, die auch den Trieb zu einheitlichen Handlungen hat, wie der Krieg es bewies. Dennoch bleibt sie in ihren Willensmomenten dualistisch gespalten. Schon deswegen, weil sie von zwei staatsrechtlich getrennten Mächten vertreten wird: vom britischen Reiche und von der Union. Durch seine überlieferte Stellung als regierendes Ursprungsvolk «in britischen Reiche hat das europäische England immer noch die Vormacht des Gesamtangelsachsentums in der Hand. Auch die Union erkennt Englands angelsächsische Autorität und führende Rolle der Sache nach an. Aber es ist Gemeingut aller politischen Weisheit, daß am Stillen Ozean die unmittelbare Nähe der Union und der Vorsprung ihrer unmittelbarsten Lebensinteressen, daß überhaupt der Zwang ihrer in jeder Beziehung massigen Überlegenheit gerade da ihr einmal eine Führung aufnötigen könnte. Durch die bloße Tat¬ sache ihres Daseins und der Beschaffenheit ihres Daseins ist sie dort exponiert. Sie wird am ehesten getroffen von einer Gefahr, und je größer die Gefahr, desto mehr muß ihre Verantwortung steigen. In gewissem Sinne hat Nord¬ amerika die Führung bereits übernommen, als es durch seine kapitalistischen Kunststücke Chinas indirekte Beteiligung am Kriege bewirkte. Indem es die Furcht des chinesischen Reiches vor Japan benutzte, sucht es dieses Reich für das angelsächsische Gemeininteresse mit Beschlag zu belegen. Es tat genau dasselbe, was England vor zwei Jahren mißlang. Doch inner¬ halb des angelsächsischen Gemeininteresses gibt es im Verhältnis zwischen Eng¬ land und der Union somit schon Ansätze zu einer Art von Rivalität. Diese Rivalität wird nun erst dadurch richtig in die politischen Wirklichkeiten gebracht, daß ebenfalls gerade in der pazifischen Welt das englische Interesse und das angelsächsische Gesamtinteresse sich keinesfalls decken. Denn neben der Über¬ lieferung, die ihm dort die Aufgabe zuweist, für das Angelsachsentum das erste Wort zu behalten, ist Englands Position am Becken der pazifischen See einfach interozeanische Flotten- und Kolonialpolitik. Beide Interessenrichtungen sind allerdings geschichtlich miteinander entstanden. Dennoch gehen sie jetzt aus¬ einander, da sie in der modernen Zeit auf einem Gegensatze in der Entwicklung beruhen. Es ist der Gegensatz zwischen einem neuen altbritischen und dem spezifisch englischen, rein kolonialpolitischen Imperialismus. Jeder weiß, wie in der Japanfrage der angelsächsische Nationalgedanke Australiens und die eng¬ lische Ostasienpolitik sich schon heute nur schwer und kaum noch ineinander zu¬ rechtfinden können. Nichtsdestoweniger bleiben beide Interessenrichtungen, weil sie zusammen entstanden sind, für England selber in einer gegenseitigen Wechsel¬ beziehung, die sich an seinem Herrschaftswillen orientiert. Das Mutterland kann als europäischer Staat seinen kolonialpolitischen Imperialismus in der pazifischen Sphäre gegenwärtig nur noch deshalb fort¬ führen, weil es durch seine „altbritische" Neichsmacht, d. h. zuletzt durch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/67>, abgerufen am 01.07.2024.