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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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wirklich seinen Augen nicht, wenn man bei Graef liest: um die sozmldemo-
kratische Arbeiterschaft in das nationale Lager hinüberzufuhren, hätte es nur
einer Auflösung des Reichstags im Jahre 1914. unmittelbar nach der ein¬
mütiger Bewilligung der Kriegskredite bedurft! Neuwahlen gleich nach Kriegs-
beginn. in Abwesenheit des Volkes in Waffen, vielleicht gar im Moment des
Nusseneinfalls in Ostpreußen dieser ingeniöse Gedanke verdiente wahrlich, der
Unsterblichkeit überliefert zu werden! Mir scheint es eher wahrscheinlich zu
sein, daß Neuwahlen im Herbst 1914 der sozialdemokratischen Partei von der
damals mit einem Schlage das Odium der antinationalen Gesinnung abgefallen
war. einen großen Zuwachs an Stimmen zugeführt hätten.

Wie dem nun auch sei. mit der "Kandare" des Herrn Graef. das wage
ich mit Bestimmtheit aus genauer Kenntnis der Stimmung der sozialdemo¬
kratischen Massen heraus zu behaupten, wäre die Staatstreue der Sozial-
demokratie keinenfalls zu erzwingen gewesen. Dies scheint no auch gerade
durch den Munitionsstreik im April d. I. schlüssig bewiesen worden zu sein.
Wenn der Abgeordnete Graef es dem Reichskanzler und den soMdemo-
kratischen Führern von neuem zum Vorwurf macht, nicht vor Ausbruch
des Streiks öffentlich gegen den landesverräterischen Unfug Stellung ge¬
nommen zu haben, so darf ich ihn - ich antworte damit zugleich aus den
offenen Brief des Bremer Arbeiters Wahl-auf die sehr triftigen Grunde hin¬
weisen, mit denen General Groener sein Verhalten am 26. April in Haupt¬
ausschuß des Reichstags gerechtfertigt hat: "Am 16. sollte gestreikt werden, ^es habe
meinesteils bei den leitenden Persönlichkeiten immer davor gewarnt, nun Mou
mit scharfen Maßregeln vorzugehen, weil ich der Auffassung war: man tut
ganz gut. das Ventil einmal etwas zu öffnen und die Stimmung abblasen zu
lassen." Nun. ganz ebenso dachten - ich bin über diesen Punkt vollkommen
unterrichtet - die Führer der Gewerkschaften. Hätten sie vor dem Streik
scharfe Erklärungen Ä la Graef losgelassen, so hätten sie die Gährung und Er¬
bitterung der Volksmassen, die nach Groeners eigener Aussage nicht ganz un¬
berechtigt war., nur verschärft und die Führung der Massen aus den Handen
verloren. Indem sie aber nach dem Groenerschen Vorbilde das Ventil sich
offnen ließen, um nachher um so nachdrücklicher aufzutreten, haben sie ge¬
meinsam mit den Behörden den Streik auf das rascheste gedampft.

Ich führe dies genauer an. um zu zeigen, daß man über solche Magen
der Taktik und Zweckmäßigkeit unbeschadet der Grundanschauungen sehr woh
verschiedener Auffassung sein kann. Falsch und unberechtigt ist in zedem Mit
der Vorwmf des Herrn Graef. daß ich die Stellung der konservativen Parte.-
führung zur Sozialdemokratie zum Ausgangspunkt meiner Angriffe auf Herrn
von Heydebrand gemacht hätte; umgekehrt lag die Sache so. daß Herr
von Heydebrand in seiner Herforder Rede das Verhältnis der Regierung zur
Sozialdemokratie zum Anlaß genommen hat. um die schärfsten Angr.sse gegen
die Neichsleitung zu richten. Meinerseits habe ich mich vielmehr von vorn-


wirklich seinen Augen nicht, wenn man bei Graef liest: um die sozmldemo-
kratische Arbeiterschaft in das nationale Lager hinüberzufuhren, hätte es nur
einer Auflösung des Reichstags im Jahre 1914. unmittelbar nach der ein¬
mütiger Bewilligung der Kriegskredite bedurft! Neuwahlen gleich nach Kriegs-
beginn. in Abwesenheit des Volkes in Waffen, vielleicht gar im Moment des
Nusseneinfalls in Ostpreußen dieser ingeniöse Gedanke verdiente wahrlich, der
Unsterblichkeit überliefert zu werden! Mir scheint es eher wahrscheinlich zu
sein, daß Neuwahlen im Herbst 1914 der sozialdemokratischen Partei von der
damals mit einem Schlage das Odium der antinationalen Gesinnung abgefallen
war. einen großen Zuwachs an Stimmen zugeführt hätten.

Wie dem nun auch sei. mit der „Kandare" des Herrn Graef. das wage
ich mit Bestimmtheit aus genauer Kenntnis der Stimmung der sozialdemo¬
kratischen Massen heraus zu behaupten, wäre die Staatstreue der Sozial-
demokratie keinenfalls zu erzwingen gewesen. Dies scheint no auch gerade
durch den Munitionsstreik im April d. I. schlüssig bewiesen worden zu sein.
Wenn der Abgeordnete Graef es dem Reichskanzler und den soMdemo-
kratischen Führern von neuem zum Vorwurf macht, nicht vor Ausbruch
des Streiks öffentlich gegen den landesverräterischen Unfug Stellung ge¬
nommen zu haben, so darf ich ihn - ich antworte damit zugleich aus den
offenen Brief des Bremer Arbeiters Wahl-auf die sehr triftigen Grunde hin¬
weisen, mit denen General Groener sein Verhalten am 26. April in Haupt¬
ausschuß des Reichstags gerechtfertigt hat: „Am 16. sollte gestreikt werden, ^es habe
meinesteils bei den leitenden Persönlichkeiten immer davor gewarnt, nun Mou
mit scharfen Maßregeln vorzugehen, weil ich der Auffassung war: man tut
ganz gut. das Ventil einmal etwas zu öffnen und die Stimmung abblasen zu
lassen." Nun. ganz ebenso dachten - ich bin über diesen Punkt vollkommen
unterrichtet - die Führer der Gewerkschaften. Hätten sie vor dem Streik
scharfe Erklärungen Ä la Graef losgelassen, so hätten sie die Gährung und Er¬
bitterung der Volksmassen, die nach Groeners eigener Aussage nicht ganz un¬
berechtigt war., nur verschärft und die Führung der Massen aus den Handen
verloren. Indem sie aber nach dem Groenerschen Vorbilde das Ventil sich
offnen ließen, um nachher um so nachdrücklicher aufzutreten, haben sie ge¬
meinsam mit den Behörden den Streik auf das rascheste gedampft.

Ich führe dies genauer an. um zu zeigen, daß man über solche Magen
der Taktik und Zweckmäßigkeit unbeschadet der Grundanschauungen sehr woh
verschiedener Auffassung sein kann. Falsch und unberechtigt ist in zedem Mit
der Vorwmf des Herrn Graef. daß ich die Stellung der konservativen Parte.-
führung zur Sozialdemokratie zum Ausgangspunkt meiner Angriffe auf Herrn
von Heydebrand gemacht hätte; umgekehrt lag die Sache so. daß Herr
von Heydebrand in seiner Herforder Rede das Verhältnis der Regierung zur
Sozialdemokratie zum Anlaß genommen hat. um die schärfsten Angr.sse gegen
die Neichsleitung zu richten. Meinerseits habe ich mich vielmehr von vorn-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/59>, abgerufen am 01.07.2024.