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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Das Finanzjahr 1902/03, das nicht einmal einen vollen Monat Krieg
sah, kostete also dem englischen Staatsschatz nur um 11 Millionen Pfund
Sterling weniger wie das "unter vollem Kriegsbetrieb" gestandene Jahr 1901/02;
sogar noch 1 Million Pfund Sterling mehr als das "unter vollem Kriegs-
betrieb" gestandene Jahr 1900/01, eine Tatsache, aus der wir selbst ebensoviel
zu lernen haben werden wie der englische Schatzkanzler.




Maßgebliches ur' Unmaßgebliches

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Vom Meraue der Wissenschaft. Jugend¬
lichen Sinne ist es eigen, im Hochgefühle der
Kraft seine Fähigkeiten zu überschätzen. Wie
jugendlich erscheint doch unsere moderne Wissen¬
schaft, wenn wir sie im Sinne Schellings als
ein Weltgeschehen, ein Moment in der Welt¬
entwicklung auffassen! Erst wenige Jahr¬
hunderte ist es her, daß sich langsam die
Grundlagen unserer wissenschaftlichen An¬
schauungen aus den Fesseln mittelalterlicher
Gebundenheit loslösten. Seit den Zeiten
Galileis steht unser ganzes Denken unter dem
Banne der mathemaüsch-naturwissenschaftlichen
Methode. Ja, auch die Philosophie der Neu¬
zeit verläuft zu einem wesentlichen Teile in¬
nerhalb der mathematisch - naturwissenschaft¬
lichen Forschung oder -- man denke um Kant
sucht sich mit ihr auseinanderzusetzen. Es
entwickelte sich eine allmächtige Methode, die
sogenannte mechanistische, von Kepler an den
Gestirnen des Himmels abgelesen, von Newton
übertragen auf das irdische Geschehen, auf
alle Bewegungserscheinungen, ja auf den
Wirkungszusammenhang der kleinsten mate¬
riellen Teile. Dasselbe Gesetz, nach dem sich
die ungeheueren Himmelskörper bewegen, ist
auch wirksam in dem zur Erde fallenden
Stein, ja es gilt auch für die kleinsten mole¬
kularen Veränderungen. Damit schien der
Zauberschlüssel für alles materielle Geschehen
gefunden zu sein. Man ging daran, alle phy¬
sischen Vorgänge in mechanische aufzulösen.
Dem Blicke des Naturwissenschaftlers tat sich
die berückende Aussicht auf eine "Wcltformel"
auf, die alles Sein und Werden umfaßte.
Daß man fortgesetzt mit einem metaphysischen
demi geheimnisvollen Begriffe der Kraft,
arbeitete, merkte man nicht oder wollte eS
nicht merken. Aber wenn hier wirklich eine
Weltformel gefunden sein sollte, so mußte ihr
doch auch das geistige Geschehen unterworfen
sein. Diese Forderung lag um so näher,

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als der Mensch seit Kopernikus aus seiner
anthropozentrischen Stellung, aus seinem
Sonderdasein der Natur gegenüber immer
mehr verdrängt zu werden schien. Als ein
Naturwesen unter anderen mußte er sich mit
seinem Geiste doch auch mechanisch erklären
lassen. So tauchte denn jenes auf den ersten
Blick so anschauliche und doch so oberfläch¬
liche, banale Hirngespinst wieder auf, das in
der Formel .,Denken ist Bewegung der Gehirn¬
teilchen" eine Lösung des schwierigsten aller
Welträtsel zu geben glaubte. Ein Frohlocken
ging durch die aufklärungsbedürftige Masse.
Durch ihre Anschaulichkeit besaß die "natur¬
wissenschaftliche Weltanschauung" eine Über¬
zeugungskraft, der sich nur tiefer denkende
Geister entziehen konnten, und wurde so bald
zum Schlagwort für Asterwissenschaft und
Halbbildung.

Selbstverständlich haben feinere Geister
diese rohe Anschauung zu vervollkommnen ge¬
sucht; stellt die mechanische Theorie doch tat¬
sächlich eine erste gewaltige Synthese alles
Geschehens auf Grundlage der Erfahrung dar.
Die Einheit der Welt, jene Sehnsucht Philo¬
sophischer Geister, schien gewährleistet. Die¬
selbe Kraft, die das Stäubchen Materie treibt,
ist auch wirksam in den kleinsten Teilchen
menschlicher Gehirnmassen, auch im Kopfe des
genialen Menschen: Goethes Faust, Beethovens
Symphonien entstanden sol

Die Ernüchterung mußte kommen. Denn
das Ergebnis der ganzen Entwicklung war
doch im höchsten Grade unbefriedigend: der
Mensch war längst von seinem erhabenen
Standpunkt als Herrn der Schöpfung Ver¬
trieben; nun aber wurde der Geist aus der
Welt herausgedrängt. Nur noch ein gleich¬
mäßig, gleichgültig ablaufendes Uhrwerk blieb.

Zwar hatte sich früh auch bei Männern
der Naturwissenschaft das Gefühl eingestellt,
daß die mechanistische Methode die "Welt",

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Das Finanzjahr 1902/03, das nicht einmal einen vollen Monat Krieg
sah, kostete also dem englischen Staatsschatz nur um 11 Millionen Pfund
Sterling weniger wie das „unter vollem Kriegsbetrieb" gestandene Jahr 1901/02;
sogar noch 1 Million Pfund Sterling mehr als das „unter vollem Kriegs-
betrieb" gestandene Jahr 1900/01, eine Tatsache, aus der wir selbst ebensoviel
zu lernen haben werden wie der englische Schatzkanzler.




Maßgebliches ur' Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Vom Meraue der Wissenschaft. Jugend¬
lichen Sinne ist es eigen, im Hochgefühle der
Kraft seine Fähigkeiten zu überschätzen. Wie
jugendlich erscheint doch unsere moderne Wissen¬
schaft, wenn wir sie im Sinne Schellings als
ein Weltgeschehen, ein Moment in der Welt¬
entwicklung auffassen! Erst wenige Jahr¬
hunderte ist es her, daß sich langsam die
Grundlagen unserer wissenschaftlichen An¬
schauungen aus den Fesseln mittelalterlicher
Gebundenheit loslösten. Seit den Zeiten
Galileis steht unser ganzes Denken unter dem
Banne der mathemaüsch-naturwissenschaftlichen
Methode. Ja, auch die Philosophie der Neu¬
zeit verläuft zu einem wesentlichen Teile in¬
nerhalb der mathematisch - naturwissenschaft¬
lichen Forschung oder — man denke um Kant
sucht sich mit ihr auseinanderzusetzen. Es
entwickelte sich eine allmächtige Methode, die
sogenannte mechanistische, von Kepler an den
Gestirnen des Himmels abgelesen, von Newton
übertragen auf das irdische Geschehen, auf
alle Bewegungserscheinungen, ja auf den
Wirkungszusammenhang der kleinsten mate¬
riellen Teile. Dasselbe Gesetz, nach dem sich
die ungeheueren Himmelskörper bewegen, ist
auch wirksam in dem zur Erde fallenden
Stein, ja es gilt auch für die kleinsten mole¬
kularen Veränderungen. Damit schien der
Zauberschlüssel für alles materielle Geschehen
gefunden zu sein. Man ging daran, alle phy¬
sischen Vorgänge in mechanische aufzulösen.
Dem Blicke des Naturwissenschaftlers tat sich
die berückende Aussicht auf eine „Wcltformel"
auf, die alles Sein und Werden umfaßte.
Daß man fortgesetzt mit einem metaphysischen
demi geheimnisvollen Begriffe der Kraft,
arbeitete, merkte man nicht oder wollte eS
nicht merken. Aber wenn hier wirklich eine
Weltformel gefunden sein sollte, so mußte ihr
doch auch das geistige Geschehen unterworfen
sein. Diese Forderung lag um so näher,

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als der Mensch seit Kopernikus aus seiner
anthropozentrischen Stellung, aus seinem
Sonderdasein der Natur gegenüber immer
mehr verdrängt zu werden schien. Als ein
Naturwesen unter anderen mußte er sich mit
seinem Geiste doch auch mechanisch erklären
lassen. So tauchte denn jenes auf den ersten
Blick so anschauliche und doch so oberfläch¬
liche, banale Hirngespinst wieder auf, das in
der Formel .,Denken ist Bewegung der Gehirn¬
teilchen" eine Lösung des schwierigsten aller
Welträtsel zu geben glaubte. Ein Frohlocken
ging durch die aufklärungsbedürftige Masse.
Durch ihre Anschaulichkeit besaß die „natur¬
wissenschaftliche Weltanschauung" eine Über¬
zeugungskraft, der sich nur tiefer denkende
Geister entziehen konnten, und wurde so bald
zum Schlagwort für Asterwissenschaft und
Halbbildung.

Selbstverständlich haben feinere Geister
diese rohe Anschauung zu vervollkommnen ge¬
sucht; stellt die mechanische Theorie doch tat¬
sächlich eine erste gewaltige Synthese alles
Geschehens auf Grundlage der Erfahrung dar.
Die Einheit der Welt, jene Sehnsucht Philo¬
sophischer Geister, schien gewährleistet. Die¬
selbe Kraft, die das Stäubchen Materie treibt,
ist auch wirksam in den kleinsten Teilchen
menschlicher Gehirnmassen, auch im Kopfe des
genialen Menschen: Goethes Faust, Beethovens
Symphonien entstanden sol

Die Ernüchterung mußte kommen. Denn
das Ergebnis der ganzen Entwicklung war
doch im höchsten Grade unbefriedigend: der
Mensch war längst von seinem erhabenen
Standpunkt als Herrn der Schöpfung Ver¬
trieben; nun aber wurde der Geist aus der
Welt herausgedrängt. Nur noch ein gleich¬
mäßig, gleichgültig ablaufendes Uhrwerk blieb.

Zwar hatte sich früh auch bei Männern
der Naturwissenschaft das Gefühl eingestellt,
daß die mechanistische Methode die „Welt",

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[0043] Maßgebliches und Unmaßgebliches Das Finanzjahr 1902/03, das nicht einmal einen vollen Monat Krieg sah, kostete also dem englischen Staatsschatz nur um 11 Millionen Pfund Sterling weniger wie das „unter vollem Kriegsbetrieb" gestandene Jahr 1901/02; sogar noch 1 Million Pfund Sterling mehr als das „unter vollem Kriegs- betrieb" gestandene Jahr 1900/01, eine Tatsache, aus der wir selbst ebensoviel zu lernen haben werden wie der englische Schatzkanzler. Maßgebliches ur' Unmaßgebliches Vom Meraue der Wissenschaft. Jugend¬ lichen Sinne ist es eigen, im Hochgefühle der Kraft seine Fähigkeiten zu überschätzen. Wie jugendlich erscheint doch unsere moderne Wissen¬ schaft, wenn wir sie im Sinne Schellings als ein Weltgeschehen, ein Moment in der Welt¬ entwicklung auffassen! Erst wenige Jahr¬ hunderte ist es her, daß sich langsam die Grundlagen unserer wissenschaftlichen An¬ schauungen aus den Fesseln mittelalterlicher Gebundenheit loslösten. Seit den Zeiten Galileis steht unser ganzes Denken unter dem Banne der mathemaüsch-naturwissenschaftlichen Methode. Ja, auch die Philosophie der Neu¬ zeit verläuft zu einem wesentlichen Teile in¬ nerhalb der mathematisch - naturwissenschaft¬ lichen Forschung oder — man denke um Kant sucht sich mit ihr auseinanderzusetzen. Es entwickelte sich eine allmächtige Methode, die sogenannte mechanistische, von Kepler an den Gestirnen des Himmels abgelesen, von Newton übertragen auf das irdische Geschehen, auf alle Bewegungserscheinungen, ja auf den Wirkungszusammenhang der kleinsten mate¬ riellen Teile. Dasselbe Gesetz, nach dem sich die ungeheueren Himmelskörper bewegen, ist auch wirksam in dem zur Erde fallenden Stein, ja es gilt auch für die kleinsten mole¬ kularen Veränderungen. Damit schien der Zauberschlüssel für alles materielle Geschehen gefunden zu sein. Man ging daran, alle phy¬ sischen Vorgänge in mechanische aufzulösen. Dem Blicke des Naturwissenschaftlers tat sich die berückende Aussicht auf eine „Wcltformel" auf, die alles Sein und Werden umfaßte. Daß man fortgesetzt mit einem metaphysischen demi geheimnisvollen Begriffe der Kraft, arbeitete, merkte man nicht oder wollte eS nicht merken. Aber wenn hier wirklich eine Weltformel gefunden sein sollte, so mußte ihr doch auch das geistige Geschehen unterworfen sein. Diese Forderung lag um so näher, als der Mensch seit Kopernikus aus seiner anthropozentrischen Stellung, aus seinem Sonderdasein der Natur gegenüber immer mehr verdrängt zu werden schien. Als ein Naturwesen unter anderen mußte er sich mit seinem Geiste doch auch mechanisch erklären lassen. So tauchte denn jenes auf den ersten Blick so anschauliche und doch so oberfläch¬ liche, banale Hirngespinst wieder auf, das in der Formel .,Denken ist Bewegung der Gehirn¬ teilchen" eine Lösung des schwierigsten aller Welträtsel zu geben glaubte. Ein Frohlocken ging durch die aufklärungsbedürftige Masse. Durch ihre Anschaulichkeit besaß die „natur¬ wissenschaftliche Weltanschauung" eine Über¬ zeugungskraft, der sich nur tiefer denkende Geister entziehen konnten, und wurde so bald zum Schlagwort für Asterwissenschaft und Halbbildung. Selbstverständlich haben feinere Geister diese rohe Anschauung zu vervollkommnen ge¬ sucht; stellt die mechanische Theorie doch tat¬ sächlich eine erste gewaltige Synthese alles Geschehens auf Grundlage der Erfahrung dar. Die Einheit der Welt, jene Sehnsucht Philo¬ sophischer Geister, schien gewährleistet. Die¬ selbe Kraft, die das Stäubchen Materie treibt, ist auch wirksam in den kleinsten Teilchen menschlicher Gehirnmassen, auch im Kopfe des genialen Menschen: Goethes Faust, Beethovens Symphonien entstanden sol Die Ernüchterung mußte kommen. Denn das Ergebnis der ganzen Entwicklung war doch im höchsten Grade unbefriedigend: der Mensch war längst von seinem erhabenen Standpunkt als Herrn der Schöpfung Ver¬ trieben; nun aber wurde der Geist aus der Welt herausgedrängt. Nur noch ein gleich¬ mäßig, gleichgültig ablaufendes Uhrwerk blieb. Zwar hatte sich früh auch bei Männern der Naturwissenschaft das Gefühl eingestellt, daß die mechanistische Methode die „Welt",

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/43>, abgerufen am 29.06.2024.