Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.Die Geschichte der Universität Wittenberg Borrang vor dem Staate eingeräumt wissen wollte, und nicht minder das Wenn aber auch der Tod des Reformators im Jahre 1546 die Ent¬ Die Geschichte der Universität Wittenberg Borrang vor dem Staate eingeräumt wissen wollte, und nicht minder das Wenn aber auch der Tod des Reformators im Jahre 1546 die Ent¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0423" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/332702"/> <fw type="header" place="top"> Die Geschichte der Universität Wittenberg</fw><lb/> <p xml:id="ID_1347" prev="#ID_1346"> Borrang vor dem Staate eingeräumt wissen wollte, und nicht minder das<lb/> Wehen einer neuen Zeit, die der Welt, dem Gemeinwohl, das heißt aber dem<lb/> Staate mit seinen irdischen Aufgaben und Zielen, den gebührenden Platz ein¬<lb/> zuweihen begann. Wittenberg hat zu seinem Teile an diesem Umbildungsprozeß<lb/> mitgearbeitet, und wieder war es Luther, der von Wittenberg aus die starke<lb/> Mauer der Romanisten, die Lehre, daß „geistliche Gewalt über der weltlichen<lb/> ist", zu Falle brachte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1348" next="#ID_1349"> Wenn aber auch der Tod des Reformators im Jahre 1546 die Ent¬<lb/> wicklung der Universität in der kleinen Elbstadt — Albiorena war ihr stolzer<lb/> Name in? Gelehrtenkauderwelsch des sechzehnten Jahrhunderts — nicht un¬<lb/> mittelbar lähmte, so waren doch die ihm folgenden politischen Umgestaltungen<lb/> und dogmatischen Streitigkeiten von einschneidender Wirkung. Dank dem sür<lb/> die Ernestiner verderblichen Ausgang des Schmalkaldischen Krieges wurden im<lb/> Jahre 1547 die Kurwürde und der Kurkreis samt Wittenberg Besitz der<lb/> Albertiner, deren wechselnde Parteinahme in den Auseinandersetzungen zwischen<lb/> dem starren Luthertum und dem milderen Melanchthonianismus vor den<lb/> härtesten Maßregeln gegen die Mitglieder des Lehrkörpers nicht zurückschreckte.<lb/> Mit Melanchthon (f 1560) verlor die Hochschule den praecepwr Oermaniae,<lb/> der ihr seit mehr als vierzig Jahren die Treue bewahrt hatte. Neue Statuten<lb/> für die einzelnen Fakultäten verrieten Unruhe und Unsicherheit unter dem so<lb/> ganz anders gearteten Fürstengeschlecht, bis erst die Satzungen Christians II<lb/> (1- 1611) vom Jahre 1605 die Gesamtorganisation der Hochschule einiger¬<lb/> maßen zum Abschluß brachten. Seit dem Ausgang des sechzehnten Jahr¬<lb/> hunderts Vertreterin des strengen Luthertums war sie nicht geneigt, abweichenden<lb/> Meinungen Gastfreundschaft zu gewähren oder gar sich ihnen anzupassen. Vor¬<lb/> läufig wenigstens vermochte sie die Zahl ihrer Besucher auf der alten Höhe zu<lb/> erhalten, bis auch für sie die Wirren der dreißigjährigen Kriegszeit erhebliche<lb/> Einbußen heraufführten; am Ende des Jahrhunderts wurde sie von dem eben¬<lb/> falls alberttnischen Leipzig überflügelt, während gleichzeitig in Halle eine neue<lb/> Nebenbuhlerin, später ihre Erbin erstand (1694). Als Lehranstalt behauptete<lb/> Wittenberg seinen durch die Überlieferung gesicherten Platz, erst im achtzehnten<lb/> Jahrhundert machten sich die Symptome des Siechtums und Niedergangs<lb/> bemerkbar, die nicht dadurch abgewehrt wurden, daß in seiner zweiten Hälfte<lb/> der harte, ausschließliche Orthodoxismus in der theologischen Fakultät seinen<lb/> Einfluß schwinden sah. Noch immer wußte die Leucorea bedeutende Gelehrte<lb/> an sich zu fesseln, so den Mediziner Konrad Viktor Schneider (f 1680). einen<lb/> Konrad Samuel Schurzfleisch (f 1708), den die Zeitgenossen eine lebende<lb/> Bibliothek und ein wandelndes Museum nannten, und einen Johann Mathias<lb/> Schröckh (f 1803), dessen vielbändige Kirchengeschichte bis heute benutzbar ist.<lb/> Noch war die Universität fähig, neue Unterrichtsgebiete in ihre Obhut zu<lb/> nehmen, so die Staatswissenschaft im Jahre 1785, die Botanik 1803 und die<lb/> historischen Hilfswissenschaften 1811. Noch wurde im Jahre 1802 das Ge-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0423]
Die Geschichte der Universität Wittenberg
Borrang vor dem Staate eingeräumt wissen wollte, und nicht minder das
Wehen einer neuen Zeit, die der Welt, dem Gemeinwohl, das heißt aber dem
Staate mit seinen irdischen Aufgaben und Zielen, den gebührenden Platz ein¬
zuweihen begann. Wittenberg hat zu seinem Teile an diesem Umbildungsprozeß
mitgearbeitet, und wieder war es Luther, der von Wittenberg aus die starke
Mauer der Romanisten, die Lehre, daß „geistliche Gewalt über der weltlichen
ist", zu Falle brachte.
Wenn aber auch der Tod des Reformators im Jahre 1546 die Ent¬
wicklung der Universität in der kleinen Elbstadt — Albiorena war ihr stolzer
Name in? Gelehrtenkauderwelsch des sechzehnten Jahrhunderts — nicht un¬
mittelbar lähmte, so waren doch die ihm folgenden politischen Umgestaltungen
und dogmatischen Streitigkeiten von einschneidender Wirkung. Dank dem sür
die Ernestiner verderblichen Ausgang des Schmalkaldischen Krieges wurden im
Jahre 1547 die Kurwürde und der Kurkreis samt Wittenberg Besitz der
Albertiner, deren wechselnde Parteinahme in den Auseinandersetzungen zwischen
dem starren Luthertum und dem milderen Melanchthonianismus vor den
härtesten Maßregeln gegen die Mitglieder des Lehrkörpers nicht zurückschreckte.
Mit Melanchthon (f 1560) verlor die Hochschule den praecepwr Oermaniae,
der ihr seit mehr als vierzig Jahren die Treue bewahrt hatte. Neue Statuten
für die einzelnen Fakultäten verrieten Unruhe und Unsicherheit unter dem so
ganz anders gearteten Fürstengeschlecht, bis erst die Satzungen Christians II
(1- 1611) vom Jahre 1605 die Gesamtorganisation der Hochschule einiger¬
maßen zum Abschluß brachten. Seit dem Ausgang des sechzehnten Jahr¬
hunderts Vertreterin des strengen Luthertums war sie nicht geneigt, abweichenden
Meinungen Gastfreundschaft zu gewähren oder gar sich ihnen anzupassen. Vor¬
läufig wenigstens vermochte sie die Zahl ihrer Besucher auf der alten Höhe zu
erhalten, bis auch für sie die Wirren der dreißigjährigen Kriegszeit erhebliche
Einbußen heraufführten; am Ende des Jahrhunderts wurde sie von dem eben¬
falls alberttnischen Leipzig überflügelt, während gleichzeitig in Halle eine neue
Nebenbuhlerin, später ihre Erbin erstand (1694). Als Lehranstalt behauptete
Wittenberg seinen durch die Überlieferung gesicherten Platz, erst im achtzehnten
Jahrhundert machten sich die Symptome des Siechtums und Niedergangs
bemerkbar, die nicht dadurch abgewehrt wurden, daß in seiner zweiten Hälfte
der harte, ausschließliche Orthodoxismus in der theologischen Fakultät seinen
Einfluß schwinden sah. Noch immer wußte die Leucorea bedeutende Gelehrte
an sich zu fesseln, so den Mediziner Konrad Viktor Schneider (f 1680). einen
Konrad Samuel Schurzfleisch (f 1708), den die Zeitgenossen eine lebende
Bibliothek und ein wandelndes Museum nannten, und einen Johann Mathias
Schröckh (f 1803), dessen vielbändige Kirchengeschichte bis heute benutzbar ist.
Noch war die Universität fähig, neue Unterrichtsgebiete in ihre Obhut zu
nehmen, so die Staatswissenschaft im Jahre 1785, die Botanik 1803 und die
historischen Hilfswissenschaften 1811. Noch wurde im Jahre 1802 das Ge-
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