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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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vom polnischen Bauplatz

Stellung eines Verständigungsfriedens nicht belastet worden wäre mit Zusiche-
rungen, die eine der Regierungen hätte machen können.

Wie bekannt, waren es die Polen, die, politisch weit besser für den Ein¬
kreisungskrieg gegen Deutschland vorbereitet, wie die deutsche Regierung, sofort
nach Kriegsausbruch Partei ergriffen. Sie traten auf die Seite der Entente
und begünstigten infolgedessen Rußland. (Vergl. Grenzboten 1914, Heft 41,
S. 33 sf.) Es waren nicht die Warschauer Polen allein, die diesen Weg
wählten: in Galizien, Posen und Westpreußen verhinderten lediglich das schnelle
Eingreifen der Behörden und später die Siege Hindenburgs, daß es nicht zu
einer Bewegung in den Städten dieser Provinzen kam, die den Gleichklang der
polnischen Stimmungen in allen Anteilen auch der weitesten Öffentlichkeit gegen¬
über bekundet hätte. Rußlands zarische Regierung ließ sich dadurch nicht be¬
irren: sie überließ es den Armeeführern, mit den Polen zu paktieren und schuf,
als sie selbst kaum sich halten konnte, eine Ausgleichskommission, in der die
ganze Angelegenheit in einem Meer von Tinte zwischen Aktengebirgen unter¬
gehen sollte. Deutschlands Siege auf allen Fronten brachten die Polen auf
den unbehaglichen Platz zwischen zwei Stühlen. Ihre Lage konnte verzweifelt
werden, wenn die verbündeten Regierungen, insbesondere aber die deutsche
Reichsregierung die Nerven behalten und die ablehnende Haltung der Polen
politisch ausgewertet hätte. Wie es im einzelnen dazu gekommen ist, daß der
andere Weg gewählt wurde, kann leider noch nicht Gegenstand der öffentlichen
Besprechung sein. Ich denke, der Abgeordnete Erzverger wird darüber später
manches erzählen können. An und für sich war, nachdem Deutschland seine
Grenzen fast bis an die Ostgrenze des polnischen Sprachgebiets vorgeschoben
hatte, der Augenblick gekommen gewesen, über eine Korrektur der bisher ver¬
folgten Polenpolitik nachzudenken. Die Polenfrage zeigte zweifellos nach der
Besetzung von Pinsk, Baranowitschi. Wilna und Mitau ein anderes Gesicht,
als nach dem Einmarsch des schlesischen Landwehrkorps in Südpolen und nach
der Schlacht bei Krasnik. Aber das Ergebnis dieses Nachdenkens durfte nicht
sein, daß man den hundertfünfzigjährigen deutsch-polnischen Streit mit seiner
vierhundert Jahre spielenden Vorgeschichte als ein Mißverständnis erklärte und
daraufhin auf moralische Eroberungen unter den Polen ausging, während die
Polen nicht einen Augenblick zögerten, kaltblütig ihren eigenen Interessen nach¬
zugehen und selbst davor nicht zurückschreckten, Zwietracht zwischen Wien und
Berlin zu säen.

Voraussetzung für jede Änderung der Polenpolitik war, so hätte man
glauben sollen, eine alle Möglichkeiten ins Auge fassende Verständigung zwischen
den verbündeten Regierungen Deutschlands und Österreich-Ungarns. Wie aus
dem Wortlaut des Patents vom 12. September d. I. hervorgeht, ist eine solche
allseitige Einigung noch bis zum heutigen Tage nicht erzielt, -- anderenfalls
müßte das Patent schon wenigstens ungefähre Angaben über die Grenzen des
neuen polnischen Staates und die Person des Königs enthalten. Außerdem


vom polnischen Bauplatz

Stellung eines Verständigungsfriedens nicht belastet worden wäre mit Zusiche-
rungen, die eine der Regierungen hätte machen können.

Wie bekannt, waren es die Polen, die, politisch weit besser für den Ein¬
kreisungskrieg gegen Deutschland vorbereitet, wie die deutsche Regierung, sofort
nach Kriegsausbruch Partei ergriffen. Sie traten auf die Seite der Entente
und begünstigten infolgedessen Rußland. (Vergl. Grenzboten 1914, Heft 41,
S. 33 sf.) Es waren nicht die Warschauer Polen allein, die diesen Weg
wählten: in Galizien, Posen und Westpreußen verhinderten lediglich das schnelle
Eingreifen der Behörden und später die Siege Hindenburgs, daß es nicht zu
einer Bewegung in den Städten dieser Provinzen kam, die den Gleichklang der
polnischen Stimmungen in allen Anteilen auch der weitesten Öffentlichkeit gegen¬
über bekundet hätte. Rußlands zarische Regierung ließ sich dadurch nicht be¬
irren: sie überließ es den Armeeführern, mit den Polen zu paktieren und schuf,
als sie selbst kaum sich halten konnte, eine Ausgleichskommission, in der die
ganze Angelegenheit in einem Meer von Tinte zwischen Aktengebirgen unter¬
gehen sollte. Deutschlands Siege auf allen Fronten brachten die Polen auf
den unbehaglichen Platz zwischen zwei Stühlen. Ihre Lage konnte verzweifelt
werden, wenn die verbündeten Regierungen, insbesondere aber die deutsche
Reichsregierung die Nerven behalten und die ablehnende Haltung der Polen
politisch ausgewertet hätte. Wie es im einzelnen dazu gekommen ist, daß der
andere Weg gewählt wurde, kann leider noch nicht Gegenstand der öffentlichen
Besprechung sein. Ich denke, der Abgeordnete Erzverger wird darüber später
manches erzählen können. An und für sich war, nachdem Deutschland seine
Grenzen fast bis an die Ostgrenze des polnischen Sprachgebiets vorgeschoben
hatte, der Augenblick gekommen gewesen, über eine Korrektur der bisher ver¬
folgten Polenpolitik nachzudenken. Die Polenfrage zeigte zweifellos nach der
Besetzung von Pinsk, Baranowitschi. Wilna und Mitau ein anderes Gesicht,
als nach dem Einmarsch des schlesischen Landwehrkorps in Südpolen und nach
der Schlacht bei Krasnik. Aber das Ergebnis dieses Nachdenkens durfte nicht
sein, daß man den hundertfünfzigjährigen deutsch-polnischen Streit mit seiner
vierhundert Jahre spielenden Vorgeschichte als ein Mißverständnis erklärte und
daraufhin auf moralische Eroberungen unter den Polen ausging, während die
Polen nicht einen Augenblick zögerten, kaltblütig ihren eigenen Interessen nach¬
zugehen und selbst davor nicht zurückschreckten, Zwietracht zwischen Wien und
Berlin zu säen.

Voraussetzung für jede Änderung der Polenpolitik war, so hätte man
glauben sollen, eine alle Möglichkeiten ins Auge fassende Verständigung zwischen
den verbündeten Regierungen Deutschlands und Österreich-Ungarns. Wie aus
dem Wortlaut des Patents vom 12. September d. I. hervorgeht, ist eine solche
allseitige Einigung noch bis zum heutigen Tage nicht erzielt, — anderenfalls
müßte das Patent schon wenigstens ungefähre Angaben über die Grenzen des
neuen polnischen Staates und die Person des Königs enthalten. Außerdem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/400>, abgerufen am 04.07.2024.