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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Der mitteleuropäische Gedanke

ihr geistiges Rüstzeug der deutschen Reformation verdankt, dürfte, wenn sie
ihre Aufgaben richtig verstehen wollte, eben nicht da, wo sie deutschsprechende
Pfarrkinder hat, seelenruhig zuschauen, wie diese aus Bequemlichkeit ihre
deutschen Sprachkenntnisse verfallen lassen. Auch der deutsche Protestantismus
sollte sich rühren und Organisationen zwischen sich und den Glaubensgenossen
anderer Länder schaffen. Es könnte wohl an vielen Stellen in der Welt, nicht
bloß in Ungarn, nichts schaden, wenn unter denen, die Luthers Glauben be¬
kennen, auch für die entsprechende Schätzung von Luthers Sprache gesorgt
würde. Denkt der deutsche Protestantismus in diesem Lutherjahre wohl daran,
daß es nicht genug ist, mit Befriedigung festzustellen, daß die evangelische Kirche
nun glücklich vierhundert Jahre überdauert hat, sondern daß das fünfte Jahr¬
hundert ganz neue Aufgaben stellen wird? Die Kirchen sind Wächter all¬
gemeiner Kulturinteressen; sie sollen vor allem auch da noch organisieren und
vereinigen, wo der Staat nicht mehr vereinigen kann, weil er an der Macht¬
sphäre anderer Staaten seine Grenzen findet. Was der Gemeinschaft und dem
Frieden der Völker dient, das sollen die Kirchen erfassen. So einen Gedanken
z. B. wie den mitteleuropäischen, müßten die evangelischen Glaubensgenossen
aller beteiligten Länder für ihre Sache ganz besonders aufnehmen. Denn die
Befreundung der Völker wird ihre wesentlichen Fortschritte nicht durch Pazifismus
und Völkerrecht machen -- das find Kulissen! --, sondern neben der welt¬
politischen und weltwirtschaftlichen Entwicklung zur Gruppenbildung, die wir
sich vollziehen sehen, und die die großen Rahmen schafft, durch langsame innere
Fortbildung der nationalen Ideale zu noch umfassenderen Gemeinschaftsvor¬
stellungen in den Seelen der Menschen. In solchem Sinne wird die evan¬
gelische Kirche Deutschlands bald eine mitteleuropäische Aufgabe erhalten, so
wie sie früher eine deutschnationale gehabt hat. Möchte sie recht bald Mittel
finden, an dieser Aufgabe mit ungarischen Glaubensgenossen zusammenzuarbeiten!
Das mitteleuropäische Interesse der katholischen Kirche ist fast noch größer.
Der mitteleuropäische und der katholische Gedanke sind zwar Kinder ganz ver¬
schiedener historischer Zeitalter, sie zeigen aber gewisse gemeinsame Tendenzen
in dem Bestreben, Nationen zu einer Gruppe zu vereinigen und in der Ab¬
grenzung des geographischen Hauptwirkungsbereichs*). Die katholische Kirche,
die schon öfters für die Erhaltung bloßer Nationalsprachen energisch eingetreten
ist, dürfte für die Fortschritte der deutschen Sprache in Ungarn als allgemeiner
mitteleuropäischer Kulturhilfssprache leicht zu interessieren sein.

Es ist aber keineswegs nur die ungarische Unterrichtsverwaltung, die der
deutschen Sprache im mitteleuropäischen Interesse mehr Liebe entgegenbringen
müßte. Dasselbe gilt auch von anderen Zweigen, z. B. der Verkehrsverwal¬
tung. Auf großen Bahnhöfen wie etwa in Preßburg, das noch dazu eine im
wesentlichen deutsche Stadt ist. dürsten keine Beamten angestellt sein, die nicht



Vgl. meinen Aufsatz "Der internationale Gedanke", "Grenzboten", 1916, Ur. 10.
Der mitteleuropäische Gedanke

ihr geistiges Rüstzeug der deutschen Reformation verdankt, dürfte, wenn sie
ihre Aufgaben richtig verstehen wollte, eben nicht da, wo sie deutschsprechende
Pfarrkinder hat, seelenruhig zuschauen, wie diese aus Bequemlichkeit ihre
deutschen Sprachkenntnisse verfallen lassen. Auch der deutsche Protestantismus
sollte sich rühren und Organisationen zwischen sich und den Glaubensgenossen
anderer Länder schaffen. Es könnte wohl an vielen Stellen in der Welt, nicht
bloß in Ungarn, nichts schaden, wenn unter denen, die Luthers Glauben be¬
kennen, auch für die entsprechende Schätzung von Luthers Sprache gesorgt
würde. Denkt der deutsche Protestantismus in diesem Lutherjahre wohl daran,
daß es nicht genug ist, mit Befriedigung festzustellen, daß die evangelische Kirche
nun glücklich vierhundert Jahre überdauert hat, sondern daß das fünfte Jahr¬
hundert ganz neue Aufgaben stellen wird? Die Kirchen sind Wächter all¬
gemeiner Kulturinteressen; sie sollen vor allem auch da noch organisieren und
vereinigen, wo der Staat nicht mehr vereinigen kann, weil er an der Macht¬
sphäre anderer Staaten seine Grenzen findet. Was der Gemeinschaft und dem
Frieden der Völker dient, das sollen die Kirchen erfassen. So einen Gedanken
z. B. wie den mitteleuropäischen, müßten die evangelischen Glaubensgenossen
aller beteiligten Länder für ihre Sache ganz besonders aufnehmen. Denn die
Befreundung der Völker wird ihre wesentlichen Fortschritte nicht durch Pazifismus
und Völkerrecht machen — das find Kulissen! —, sondern neben der welt¬
politischen und weltwirtschaftlichen Entwicklung zur Gruppenbildung, die wir
sich vollziehen sehen, und die die großen Rahmen schafft, durch langsame innere
Fortbildung der nationalen Ideale zu noch umfassenderen Gemeinschaftsvor¬
stellungen in den Seelen der Menschen. In solchem Sinne wird die evan¬
gelische Kirche Deutschlands bald eine mitteleuropäische Aufgabe erhalten, so
wie sie früher eine deutschnationale gehabt hat. Möchte sie recht bald Mittel
finden, an dieser Aufgabe mit ungarischen Glaubensgenossen zusammenzuarbeiten!
Das mitteleuropäische Interesse der katholischen Kirche ist fast noch größer.
Der mitteleuropäische und der katholische Gedanke sind zwar Kinder ganz ver¬
schiedener historischer Zeitalter, sie zeigen aber gewisse gemeinsame Tendenzen
in dem Bestreben, Nationen zu einer Gruppe zu vereinigen und in der Ab¬
grenzung des geographischen Hauptwirkungsbereichs*). Die katholische Kirche,
die schon öfters für die Erhaltung bloßer Nationalsprachen energisch eingetreten
ist, dürfte für die Fortschritte der deutschen Sprache in Ungarn als allgemeiner
mitteleuropäischer Kulturhilfssprache leicht zu interessieren sein.

Es ist aber keineswegs nur die ungarische Unterrichtsverwaltung, die der
deutschen Sprache im mitteleuropäischen Interesse mehr Liebe entgegenbringen
müßte. Dasselbe gilt auch von anderen Zweigen, z. B. der Verkehrsverwal¬
tung. Auf großen Bahnhöfen wie etwa in Preßburg, das noch dazu eine im
wesentlichen deutsche Stadt ist. dürsten keine Beamten angestellt sein, die nicht



Vgl. meinen Aufsatz „Der internationale Gedanke", „Grenzboten", 1916, Ur. 10.
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[0389] Der mitteleuropäische Gedanke ihr geistiges Rüstzeug der deutschen Reformation verdankt, dürfte, wenn sie ihre Aufgaben richtig verstehen wollte, eben nicht da, wo sie deutschsprechende Pfarrkinder hat, seelenruhig zuschauen, wie diese aus Bequemlichkeit ihre deutschen Sprachkenntnisse verfallen lassen. Auch der deutsche Protestantismus sollte sich rühren und Organisationen zwischen sich und den Glaubensgenossen anderer Länder schaffen. Es könnte wohl an vielen Stellen in der Welt, nicht bloß in Ungarn, nichts schaden, wenn unter denen, die Luthers Glauben be¬ kennen, auch für die entsprechende Schätzung von Luthers Sprache gesorgt würde. Denkt der deutsche Protestantismus in diesem Lutherjahre wohl daran, daß es nicht genug ist, mit Befriedigung festzustellen, daß die evangelische Kirche nun glücklich vierhundert Jahre überdauert hat, sondern daß das fünfte Jahr¬ hundert ganz neue Aufgaben stellen wird? Die Kirchen sind Wächter all¬ gemeiner Kulturinteressen; sie sollen vor allem auch da noch organisieren und vereinigen, wo der Staat nicht mehr vereinigen kann, weil er an der Macht¬ sphäre anderer Staaten seine Grenzen findet. Was der Gemeinschaft und dem Frieden der Völker dient, das sollen die Kirchen erfassen. So einen Gedanken z. B. wie den mitteleuropäischen, müßten die evangelischen Glaubensgenossen aller beteiligten Länder für ihre Sache ganz besonders aufnehmen. Denn die Befreundung der Völker wird ihre wesentlichen Fortschritte nicht durch Pazifismus und Völkerrecht machen — das find Kulissen! —, sondern neben der welt¬ politischen und weltwirtschaftlichen Entwicklung zur Gruppenbildung, die wir sich vollziehen sehen, und die die großen Rahmen schafft, durch langsame innere Fortbildung der nationalen Ideale zu noch umfassenderen Gemeinschaftsvor¬ stellungen in den Seelen der Menschen. In solchem Sinne wird die evan¬ gelische Kirche Deutschlands bald eine mitteleuropäische Aufgabe erhalten, so wie sie früher eine deutschnationale gehabt hat. Möchte sie recht bald Mittel finden, an dieser Aufgabe mit ungarischen Glaubensgenossen zusammenzuarbeiten! Das mitteleuropäische Interesse der katholischen Kirche ist fast noch größer. Der mitteleuropäische und der katholische Gedanke sind zwar Kinder ganz ver¬ schiedener historischer Zeitalter, sie zeigen aber gewisse gemeinsame Tendenzen in dem Bestreben, Nationen zu einer Gruppe zu vereinigen und in der Ab¬ grenzung des geographischen Hauptwirkungsbereichs*). Die katholische Kirche, die schon öfters für die Erhaltung bloßer Nationalsprachen energisch eingetreten ist, dürfte für die Fortschritte der deutschen Sprache in Ungarn als allgemeiner mitteleuropäischer Kulturhilfssprache leicht zu interessieren sein. Es ist aber keineswegs nur die ungarische Unterrichtsverwaltung, die der deutschen Sprache im mitteleuropäischen Interesse mehr Liebe entgegenbringen müßte. Dasselbe gilt auch von anderen Zweigen, z. B. der Verkehrsverwal¬ tung. Auf großen Bahnhöfen wie etwa in Preßburg, das noch dazu eine im wesentlichen deutsche Stadt ist. dürsten keine Beamten angestellt sein, die nicht Vgl. meinen Aufsatz „Der internationale Gedanke", „Grenzboten", 1916, Ur. 10.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/389>, abgerufen am 04.07.2024.